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III

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Wieder glitten die Kufen des Schlittens pfeilschnell über den weissflimmernden Boden dahin, wieder knirschte und klagte unter ihnen der hartgefrorene Schnee und pfiff ein eisiger Wind um Marjas gesenktes Haupt. Sie sass, ohne sich zu rühren, den Blick geradeaus auf den Kutscher vor sich gerichtet, als habe sie noch nie die unförmlich in den Hüften ausgefütterte Rückwandung eines Moskauer Lichátsch mit der bunten schmalen Schärpe und den beiden schrägen Reihen weisser Glasknöpfchen gesehen und hörte die halblauten unaufhörlichen Rufe, mit denen er, je mehr sie sich wieder der Stadt näherten und in das Gewimmel der Twerskaja untertauchten, die Fussgänger warnte. „Aufgepasst, Invalide! ... aufgepasst, du Tatar da ... aufgepasst, junge Frau ...“ und hörte ebenso all die andern schneegedämpften, beinahe schattenhaften Geräusche der lichterfüllten Strasse und vernahm sie eigentlich doch nicht. Ihre Gedanken waren noch draussen, vor dem Tore — nicht so sehr bei dem einsamen Landsitz im Petrowskipark, sondern noch weiter hinaus, vor den letzten Bannlinien des Häusermeers, am Rand der unendlichen russischen Ebene. Dort stand ein ganz neuer, grüngedachter Rohziegelbau. Das war Iwans Fabrik und von diesem Haus war ihre Zukunft umschlossen.

Sie hatte schon früher, seit einem Jahre und länger, dann und wann, und in letzter Zeit immer häufiger, Befürchtungen wegen des neuen Unternehmens laut werden hören — namentlich von Onkel Petruscha. Der war ja freilich bekannt als ein alter Sorgenvater und Grillenfänger. Er klagte immer und ewig und brachte dabei in aller Stille, seufzend und stöhnend, einen Hunderttausender an Rubeln nach dem andern beiseite. Man nahm seine chronische Schwarzseherei nicht mehr ernst. Aber heute hatte er offenbar nur gesagt, was alle Welt schon längst sprach. Jetzt erst begriff sie, wie gross die Gefahr war und wie nahe. In wenigen Tagen war vielleicht schon alles zu spät. Sie sagte sich selbst: vielleicht! Denn sie verstand ja nichts davon — sie konnte nicht helfen und nicht raten in diesem Kampf der Männer, der jetzt von den Wüsten Turkmeniens bis zu den Ufern des Mississippi alles, was irgend mit Baumwolle zu tun hatte, in atemloser Aufregung erhielt — ihr blieb nichts übrig, als zu warten und mit ihrem Mann Leid und Freud zu teilen.

Das war so selbstverständlich, dass man schon solch eine zerfahrene, kindlich naive Egoistin wie die da draussen im Petrowskipark sein musste, um ein derartiges Versprechen überhaupt von ihr zu verlangen. Ihr bangte auch nicht vor der Zukunft. Sie konnte sich nichts Rechtes unter einer geschäftlichen Katastrophe und deren Folgen vorstellen. Ihr Dasein war immer einfach und ruhig verlaufen. Irgend eine Änderung in dem stillen Leben, in dem sie sich mit den Ihren hier in der fremden Stadt, dem fremden Lande, eingesponnen, war ihr bisher ganz undenkbar erschienen. Wie sie sich die Dinge dachte, da wuchsen die Kinder allmählich heran und verliessen das Vaterhaus, die Jahre vergingen, man wurde älter und älter, und merkte es kaum und hatte endlich genug verdient und zog sich — das war immer ihr letztes und heimliches Sehnen gewesen — auf seine alten Tage nach Deutschland zurück und verbrachte da noch ein, zwei friedliche Jahrzehnte und schliesslich war das Leben zu Ende und man wusste es kaum und war doch froh, dass es schmerzlos, schonend, scheinbar nur von weitem an einem vorbeigegangen war.

Ein schneidender, schmerzlich-eisiger Windstoss umfegte sie und drang ihr erkältend durch die dichten Hüllen. Der Schlitten fuhr über die offene Moskwabrücke und gleich darauf hielt der Fuhrmann vor ihrem Hause und begann mit lebhaftem Gebärden- und Händespiel seine Gründe für ein Trinkgeld zu entwickeln. Sie war froh, dass ihr Mann nicht dabei war. Der lebte, wie jeder echte Moskauer, mit dieser Gilde der Lichatschî auf ewigem Kriegsfuss und pflegte sie bei ihren nachträglichen Forderungen eines Teegelds abwechselnd nach Sibirien und an den Galgen zu verweisen. Sie aber zahlte ohne Widerrede und stieg die Treppen hinauf. Auch oben war Iwan Michels noch nicht — die Kinder ebenfalls mit dem Fräulein fort — die Vorderzimmer der Wohnung noch dunkel. Das war ihr lieb. Sie zündete das Gas nicht an, sondern stellte sich an das Fenster und schaute hinaus in die Finsternis.

Dort drüben lag der Kreml in schwarzer Nacht und weissem Schnee. Schwere Uhrschläge tönten von dem unsichtbaren Zifferblatt irgend eines Torturms und dann der melancholische Klingklang eines Spielwerks. Allmählich erhellten sich da oben geheimnisvoll die Fenster der Paläste in rotflimmernden Pünktchen, die traulich durch den Winterabend leuchteten. Die auch bei Tage brennenden ewigen Lampen unter den Heiligenbildern an den Eingangspforten spendeten ihren sanften tröstenden Schein und seltsame Farbenwirkungen entstanden da, ein Spiel von Licht und Schatten unter den finsteren, mittelalterlichen Torwölbungen, den verschwiegenen Höfen und wunderlichen Winkeln, den beschneiten Zinnen und Treppen der heiligen Stadt. Auch die zwei Ampeln am Denkmal des Zarbefreiers glänzten jetzt auf, in den Laternen auf den Strassen und Plätzen des Kreml blinkte das elektrische Licht und übergoss mit bläulichem Schein die weiten, weissen Schneeflächen, die undeutlich weiss und bunt ragenden Mauern. Und darüber schwammen in dunklen Höhen, zwischen dem Sterngeglitzer der Februarnacht am Himmel, scheinbar von der Erde losgelöst, matt schimmernde gelbe Massen — haufenweise und vereinzelt — gross und klein — da und dort — Massen lauteren Goldes — die goldenen Kuppeln und Turmdächer der Kirchen ...

Marja fühlte Reue, dass sie da draussen im Petrowskipark so viel über sich und ihr innerstes Leben, ihr Verhältnis zu Iwan, geredet. Freilich ... sie hatte es tun müssen. Die Mutter ihres Mannes frug danach. Der war sie Offenheit schuldig. Und doch — wozu das, das still in einem lebte, in einem wirkte als etwas Selbstverständliches, über das man sich keine Rechenschaft gab, ja, das gar nicht in einem zu klarem Bewusstsein kam, weil es eben ein Teil des Selbst war, — wozu das in Worte kleiden? Mit jedem solchen Wort, das man von sich sprach, schickte man ein Stück Leben aus sich in die Welt hinaus. Das hatte dann sein eigenes Leben. Es wurde einem fremd und blieb einem doch nahe. Man sah es von aussen an, diesen Teil von sich, und sah ihn ganz verändert. Und mehr noch als was sie geredet, fielen ihr wieder die Antworten der anderen ein — vor allem dies seltsame der alten, müden, vielerfahrenen Weltpilgerin: Du hast deinem Mann viel geopfert ... vielleicht zu viel. Mög’ es nicht eines Tages wiederkommen und bei dir anpochen ...

Sie hob abwehrend den Kopf und schaute hinaus in die Nacht. Freilich ... sie hatte ihm mehr gegeben, als er wusste und je begreifen würde. Aber es war gern geschehen, bei klarem Sinn, aus vollem Willen. Es tat ihr nicht leid.

Und wenn ihre Gedanken wie jetzt hinausschweiften in einem brustweitenden Sehnen, in das Land Nirgendwo, in das Reich der Regenbogenträume, als dessen Gleichnis ihr immer der Kreml erschien, wenn er mit seinen phantastischen Türmen und Zacken und Zinnen und Kuppeln, zu welcher Stunde sie auch an das Fenster trat, im Mondscheinweben und Sonnenglanz, im Morgengrauen und dem feinen Silber des Abends als ein buntes Wunder vor ihr stand — wenn ihre Seele auch einmal die Flügel spannte und aus dem Nest der Heimat wegflog — was lag daran? Sie hatte ja selbst der Greisin da draussen gesagt: wenn sie wollte, rief sie ihre spielenden Wünsche zurück und sah den weiten, Unermessliches ahnen lassenden Horizont nicht mehr und war wieder daheim in ihren vier Pfählen und im Frieden, als ein Mensch, der bewusst einen Teil seines „Ich“ dem Schicksal geopfert hatte, damit der Rest glücklich sei.

Vielleicht den besten Teil. Sie sagte sich das mit einem leisen Trotz, der ihr sonst fremd war. Es war ein Stachel in ihr zurückgeblieben von jenem Gespräch. Sie fühlte ihn und konnte ihn doch nicht entfernen. Sie sah immer wieder zwischen bläulichen Zigarettenwolken Mascha Westrups Gesicht vor sich, dies müde, welterfahrene Lächeln um die schmal und farblos gewordenen, einst so viel geküssten Lippen, den eigentümlichen Blick, den sie halb forschend, halb ungläubig auf sie gerichtet, während Marja von sich berichtet ... und von ihrem Mann ... und wie sie sich ihm ganz angepasst und was nicht seines Wesens war von sich getan habe, zum Lohn für seine Liebe, und so ärmer und reicher zugleich geworden sei ... Und dann von drüben wieder das wunderlich Betonte, die Silben langsam fallen Lassende: Er liebt dich und du bist ihm dafür dankbar. Mögst du das andere nie kennen lernen ... das, was wie das Fegfeuer brennt ...

Mögst du nie aufwachen ... das war es, was sie mit unbestimmter innerlicher Abwehr aus diesen Worten herausgehört. Wenn je etwas in dieser langen friedlichen Zeit ihrer Ehe einmal ihre ruhige Heiterkeit getrübt hatte, dann war das in seltenen Dämmerstunden ein merkwürdiges, wie von aussen in ihre Seele hineingewehtes, nicht zu fassendes Ahnen gewesen, dass dies Ganze, was sie da lebe, nur ein Traum sei und dass dieser Traum einmal enden müsse, und plötzlich die wirkliche Welt ganz anders, ganz nahe, ganz drohend vor einem stände.

Vielleicht kam dieser Augenblick jetzt wirklich und kam so prosaisch wie möglich, in Gestalt geschäftlicher Not und Sorgen, des Verlustes an Geld und Gut durch die Fabrik da draussen. Aber eben in der Nüchternheit, in der Alltäglichkeit eines solchen Unglücks lag ja auch sein Trost. Marja Michels atmete plötzlich befreit und tief auf. Es war ihr wieder ganz leicht um das Herz geworden. Ein solcher Schlag kam doch nur von aussen und traf einen, wenn man ihn recht trug, nur von aussen. Selbst wurde man davon nicht berührt. Man blieb, was man eigentlich war, und blieb den anderen dasselbe oder noch mehr als bisher und blieb mit sich einig und klar und das war die Hauptsache. Alles andere im Leben liess sich verlieren und verschmerzen und auch einmal wiedergewinnen.

Sie hörte die Flurtüre gehen und erkannte den schweren Schritt ihres Mannes. Und zugleich fiel ihr erst ein, dass ja noch alles dunkel war, und sie eilte ihm entgegen. Aber da war er schon auf der Schwelle und frug ungläubig, halb enttäuscht: „Ach ... ist noch niemand hier ...?“

„Doch — da bin ich ja, Mischa!“

„Mitten in der Finsternis?“

„Ja — verzeih ... ich hab’ ein bisschen Schummerstunde gehalten ...“

Iwan Michels lachte und zugleich war ihr, als träte behutsam, langsam wie ein Fremder, noch jemand in das Zimmer. Und dann vernahm sie, wie ihr Mann, gegen den Eingang gewendet und in der Tasche mit den Streichhölzern rappelnd, sagte: „Wot! ... lieber Wieprecht, das haben Sie nun davon! So sieht das bei mir aus.“ Und darauf antwortete eine ihr ganz unbekannte Männerstimme in unbefangen heiterem Tone: „Guten Abend, gnädige Frau! Verzeihen Sie, dass ich Ihnen noch nicht die Hand küsse ... aber ich sehe Sie noch nicht ...“

Und da sie nicht sofort etwas erwiderte, setzte die gleiche Stimme hinzu: „Ich bin nämlich Alexander Alexandrowitsch Wieprecht und habe Ihren Mann, nachdem er endlich das Kriegsbeil begraben hat und zu mir gekommen ist, zum Danke gebeten, meinen heutigen einsamen Junggesellenabend statt irgendwo im Klub und bei den Karten bei ihm verbringen und mich Ihnen vorstellen zu dürfen — wenn ich nicht zu ungelegen komme. Sonst, bitte, weisen Sie mich meiner Wege ...“

Marja war zu sehr an die Leichtigkeit des russischen Verkehrstons gewöhnt, um in dieser Selbsteinladung eines Geschäftsfreundes ihres Gatten etwas Auffallendes zu finden. Deutsche Förmlichkeit kannte man hier nicht. Und doch hätte sie alles andere eher erwartet, als dass gerade Alexander Wieprecht, der Vielberufene, den sie nicht kannte und von dem sie schon so viel gehört, da plötzlich vor ihr stehen würde — und eigentlich doch auf ihre eigene Veranlassung. Denn sie hatte doch ihren Mann zu ihm geschickt. Aber sie bezwang ihre Unruhe und antwortete halblachend wie er: „Seien Sie herzlich willkommen, Herr Wieprecht ... und entschuldigen Sie die eigentümliche Beleuchtung bei Ihrem Empfang.“

Dabei streckte sie unwillkürlich die Hand aus, obwohl sie von dem Besucher nur einen unbestimmten Schatten in dem dunklen Zimmer sah, der ihr langsam wachsend und deutlicher werdend näher kam. Aber durch Zufall berührte sie doch seine Rechte, die auch er suchend vor sich hingehalten, und verspürte ihren kräftigen, beinahe freundschaftlichen Druck im Dunkel, und beide standen sich dicht gegenüber und er sagte lachend: „Das passiert nicht jedem Einbrecher, dass man ihn so freundlich empfängt — was, Michels?“

„Wot!“ rief der nur befriedigt. Er hatte endlich sein Streichholz angezündet. Das Gas flammte auf und erhellte das Zimmer. Und Marja sah nun ihren Gast leibhaftig vor sich.

Sie hatte ihn sich ganz anders vorgestellt — wie, das wusste sie selbst nicht recht. Aber sie dachte, er müsse doch etwas Besonderes sein nach all den Gerüchten, die über ihn und seinen Lebenswandel gingen, und anderseits wieder nach der halb widerwilligen, scheuen Achtung, fast Bewunderung, mit der ihr Gatte und alle Geschäftsleute von ihm als Kaufmann sprachen. Aber was sie da sah, war ein Mann wie andere — gegen vierzig, über mittelgross, gut angezogen, mit braunem Haar und braunem Schnurrbart. Nichts Ausserordentliches war an ihm zu bemerken. Auch die Art, wie er sich noch einmal halb lächelnd vor ihr verbeugte und ihre Hand oder eigentlich nur ihre Fingerspitzen langsam an die Lippen zog, entsprach ganz der nachlässig leichten Salonart Moskaus, in dem er ja ebenso wie Iwan Michels als Deutschrusse geboren und aufgewachsen war.

Er benahm sich ganz ungezwungen, als sei er schon ein alter Freund des Hauses, setzte sich und nahm die Papyros, die Michels ihm bot. „Iwan Antonowitsch kam schon vor mehreren Stunden zu mir,“ sagte er dabei mit einem Blick auf den Hausherrn zu Marja. „Ich war gerade bei einer dringenden Unterredung — Sie wissen vielleicht, dass einige Menschenfreunde in Zentralasien auf die ingeniöse Idee gekommen sind, aus Baumwollrückständen Speisefett für die Europäer zu machen — so sagte man ihm aus Versehen, ich sei weggefahren. Wie ich das hörte, fuhr ich gleich nach Schluss der Bureaustunden in sein Kontor — ich dachte, es handelte sich um ein Geschäft — und traf ihn auch dort und vernahm zu meiner Freude, dass der Besuch rein à I’amiable gemeint war ...“

„Nun ... schön ... da haben wir ihn hier bei uns!“ Der andere klopfte ihm auf die Schulter. „Aber wir reden auch noch von Geschäften miteinander ...“

Wieprecht zuckte die Achseln und antwortete, wieder mehr zu Marja hin: „Wer tut das jetzt nicht? Alle vier Weltteile sind ja jetzt verrückt und durcheinander. Nur in Australien ist noch Ruhe. Vorhin erzählte man mir wieder was von neuen Fallissements unter den polnischen Spinnern. Und in Triest soll sich ein eben aus Alexandrien angekommener griechischer Grosshändler ohne weiteres im Hotel am Türpfosten aufgehängt haben ...“

Marja wurde wieder bang ums Herz. Sie sagte gepresst: „Es ist doch schrecklich, dass so etwas erlaubt ist ... dies Spekulieren an der Börse ... auf Kosten von andern Leuten ...“

Aber ihr Gegenüber lächelte nur. „Ja ... jetzt geht alles drunter und drüber. Wer jetzt nicht aufpasst, der liegt am Boden, ehe er sich’s versieht. Ein ordentliches Gewitter ... rechts und links schlägt’s ein — drüben in Amerika ... in Ägypten ... in Indien ... jetzt sogar bei uns in Russland und überm Kaspischen Meer. Es ist eine stolze Zeit!“

Eine stolze Zeit! ... Marja sass ganz starr da, während ihr Mann ins Nebenzimmer gegangen war, um eine Flasche aufzukorken. Der klagte seit Wochen über die gefährliche Unsicherheit des Baumwollgeschäftes, Onkel Petruscha und wen sie sonst sprach — sie alle hatten nur Worte der Verwünschung für die Neuyorker Preistreibereien und hier — sie traute ihren Ohren nicht — hier sass jemand und fand das alles wunderschön. Vielleicht war das nur ein Scherz. Aber Wieprecht sah sie kaltblütig aus seinen grauen, auffallend grossen Augen an und wiederholte: „Da wird einem wohl ... man kriegt doch mal ein bisschen Lebensluft in diesem faulen Moskauer Frieden hier ... endlich einmal ein frischer, fröhlicher Krieg, der einem die Konkurrenz ein wenig vom Hals schafft ... nun ja, gnädige Frau — was machen Sie denn für ein Gesicht? Sehen Sie — das ist doch die alte Eigentümlichkeit — ich möcht’ beinahe sagen das Unglück des Moskauer Platzes, dass er viel zu schwer ist ... dass er viel zu viel Geld hat. Darum geht alles seinen alten Trott weiter ... aber jetzt ist der Markt endlich einmal wachgerüttelt ... Gott sei Dank ... man kann an ein paar Vorderleuten vorbei ...“

„Sehr schön!“ schrie Iwan Michels aus dem Nebenzimmer. „Aber was dabei zu Grunde geht ...“

„... das bleibt liegen!“ sagte der andere philosophisch und rauchte.

Der Hausherr kam wieder über die Schwelle, etwas erhitzt vom Hantieren mit Korkzieher und Konservenbrecher. „Und Sie spielen inzwischen den Hecht im Karpfenteich ... siehst du, Marja ... so ist er ...“ Und dabei warf er ihr einen verstohlenen ernsteren Blick zu, der ungefähr hiess: Ein Mensch, der als Kaufmann Rücksicht oder Mitleid weder kennt noch beansprucht. Und dem soll ich mich anvertrauen? — Alexander Wieprecht aber erwiderte nur: „Ich rede jetzt nicht mehr mit Ihnen über Geschäfte, Michels! Ich hab’ Ihnen ja gesagt: Machen Sie mir morgen Vormittag die Freude Ihres Besuches auf dem Kontor. Dann steh’ ich mit meinem Rat zu Diensten. Aber jetzt ist es sieben Uhr Abends. Da weiss ich nichts mehr von Baumwolldingen. Da will ich Mensch sein. Das ist nun einmal mein Grundsatz — vielleicht der einzige, den ich habe, gnädige Frau ...“

Der Ton seiner letzten Worte war ein wenig leichtfertig geworden. Es schien, als wollte er versuchen, wie weit er bei Marja gehen könne. Sie erwiderte ihm nichts und er sagte, wieder geschäftsmässig und trocken, zu ihrem Mann: „Nur vor einem warne ich Sie heute schon ... das ist unser ehrenwerter Charles T. Etzel — der Garnmakler. Ich sah Sie dieser Tage mit dem Gentleman aus Neuyork in einem Schlitten fahren ... tun Sie das lieber nicht wieder ...“

Marja entsann sich des glattrasierten, mit Schmissen bedeckten Mephistogesichts, das, von einem kostbaren Biberkragen umhüllt, diesen Nachmittag einen Augenblick an der Triumphpforte vor ihr aufgetaucht war, und sie versetzte schnell: „Nicht wahr ... den Eindruck hatt’ ich auch ... das ist eine unheimliche Persönlichkeit?“

„Wenn er bloss das wäre, gnädige Frau!“ Ihr Gast nahm sich gleichmütig eine neue Zigarette. „Das würde mich keine Sekunde hindern, mit ihm Geschäfte zu machen. Aber er ist ein dummer Kerl und das ist mir weit unheimlicher. Vor solchen Leuten hab’ ich eine kindische Angst. Wie der Kunde das erste Mal zu mir kam, da versuchte er, mir zu imponieren — mit seinem frischgeölten Mundwerk. Denn anderes Betriebskapital besitzt er nicht. Anfangs amüsierte mich diese Unschuld vom Lande mit Monokel und Lackstiefeln. Aber dann wurde er mir zu naiv und ich warf ihn hinaus. Seitdem ist er gar nicht gut auf mich zu sprechen ...“

Er stand auf und bot Marja den Arm, um sie zu Tisch in das Speisezimmer zu führen, dessen Türe das Mädchen geöffnet hatte. Dabei sagte sie, wider Willen erkältet durch seine Art, sich zu geben und zu sprechen — eine Art, die ihr doch immer wieder wie etwas Gemachtes, rein Äusserliches erschien: „Aber Sie sind à la fortune du pot gekommen, Herr Wieprecht. Sie müssen vorlieb nehmen.“

Wieprecht lächelte nur zur Antwort. Es war etwas eigentümlich Vertrauliches darin — etwas verstohlen Werbendes — auch in seinen Augen — etwas, was seinen allgemein verbreiteten Ruf bestätigte. In ihr regte sich ein Widerstand dagegen — ein Unwille. Sie dachte sich: Mit was für Frauen mag der wohl verkehren! — und dachte dann weiter: Gottlob — ich brauch’ ihn ja nur diesen Abend neben mir zu haben. Dann ist’s überstanden ...

„Und wo sind denn Ihre Kinder, Marja Genrichowna?“ frug er mit einem suchenden Blick über die Tafel, während sie sich setzten.

„Die schlafen schon,“ versetzte sie kurz, obwohl das nicht wahr war. Sie spielten noch im Hinterzimmer. Aber sie wollte sie ihm nicht zeigen.

Und nach kurzem Kampf fügte sie hinzu: „Und bitte ... nehmen Sie es nicht übel ... aber nennen Sie mich nicht Marja Genrichowna ...“

„Aber Ihr Mann sagte mir doch, dass Sie eigentlich Margot hiessen und er und alle hier Sie Marja nennen ...“

„Ja — und dass mein Vater Heinrich hiess ... gewiss ... — Aber ich liebe nun einmal die russische Art der Anrede nicht. Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Es klingt mir zu vertraulich. Ich bin nun einmal eine Deutsche ...“

„Wie Sie befehlen, gnädige Frau!“ versetzte Alexander Wieprecht ernsthaft. Er war nicht im Geringsten beleidigt. Iwan Michels aber ergänzte mit vollen Backen und seinerseits jetzt sehr wohlgelaunt, wie immer vor Tisch, wenn sein Auge auf Schnäpschen, Kaviar und geräuchertem Fisch ruhte. „Eine Norddeutsche, Wieprecht! — Nehmen Sie noch ein Gläschen ... Gott liebt die Dreizahl ... wot ... da sehen Sie nun zu, wie Sie sich mit meiner Frau vertragen ... das sind andere Leute — die Reichsdeutschen ... da müssen wir russischen Bären uns zusammennehmen!“

Er lachte und schlürfte in behaglichster Feierabendstimmung die Suppe und biss in sein Pastetchen. „Das hätten Sie mal auf der Hochzeit sehen sollen — in Deutschland — da waren die Verwandten meiner Frau ... lauter Richter und Geistliche und Professoren mit ihren Frauen — auch ein paar Offizierchen und Studentchen und junges Volk — was die für Augen gegen die Marja hin machten, als ich ihnen präsentiert wurde und sie gleich nach unserem Brauch auf die Backen küssen wollte ... Da konnt’ man förmlich lesen: Also das ist dein künftiger Gatte — dieser wilde Mann aus Moskau — ein Kerl, der nichts gelernt hat als Garn zu spinnen ...? Aber erbarm dich, Seelchen: wie kann man nur? ...“

„Ach, Mischa ... das erzählst du immer und es ist doch gar nicht wahr ...“

„Es ist wahr!“ bekräftigte Iwan Michels. „Warum denn auch nicht? Sie waren ja alle sehr nett gegen mich ... sehr herablassend ... nun — und wenn sie von Musik oder Büchern oder derlei sprachen, dann hab’ ich eben hübsch stillgeschwiegen. Aber ein bisschen Angst hatten sie doch immer, ich könnt’ mich mal unversehens entpuppen und bei Tisch ein Talglicht herausziehen und daran knabbern oder eine Flasche Wodka hinterm Rockschoss vorholen. Schon wenn ich vor dem Essen mein Schnäpschen trank, erklärte deine Schwester immer halblaut, dass ich’s nicht hören sollte, den Umstehenden: ‚Mein künftiger Schwager ist nämlich Russe — oder so gut wie Russe ...‘ da hab’ ich innerlich darüber lachen müssen, wenn es mich auch ein klein wenig verschnupft hat ...“

„Ach ... du bist immer viel zu leicht gekränkt!“ sagte seine Frau. Es war ihr unbehaglich, dass er diese Geschichten vor dem Gast erzählte. Sie glaubte in Wieprechts Mienen einen ganz leichten Spott über ihren Gatten zu lesen, ohne dass es ihr klar wurde, woher dieser Eindruck kam. Denn eigentlich war sein Gesicht ganz unverändert, lässig höflich und ein wenig müde, auch ihr gegenüber, seit sie ihn vorhin so deutlich zurück- und zurechtgewiesen. Endlich entdeckte sie: es lag an seiner Stimme. Die hatte, wenn er zu Iwan sprach, einen leise ironischen, gutmütig beschützenden Klang — die Tonfärbung eines, der den andern in aller Freundschaft und Vertraulichkeit doch weit unter sich sieht. Und was noch schlimmer war: Ihr Mann nahm dies Verhältnis selbst auch als gegeben an — wahrscheinlich ohne es zu wissen und zu wollen. In der Art, wie er auf Alexander Wieprechts Worte hörte und ihm erwiderte, lag nicht nur die Freude über die endlich glücklich vollzogene Versöhnung — obwohl ihm mit der offenbar eine wahre Zentnerlast vom Herzen gefallen war — sondern auch ein unbändiger, kaum ein wenig durch seine breite Gemütlichkeit gemilderter Respekt. Wozu nur? Er war doch Jenem, unter dessen Leitung er einst gearbeitet, gleichalterig — ein selbständiger Fabrikant, wenn seine neue Spinnerei auch nicht so riesig war wie die Aktiengesellschaft, an deren Spitze Wieprecht stand — er hatte es jetzt doch nicht mehr nötig, zu dem aufzuschauen, wie der Schüler zum Meister, und zu tun, als sei es eine Gnade, dass ein solcher Mann ihm für morgen seinen Rat in Aussicht gestellt.

Dabei vergass sie ganz, dass sie selbst diese Begegnung eingefädelt hatte. Das kam von der Abneigung, die sie gegen ihren Gast empfand. Oder eigentlich eine Beklommenheit, wie sie sie sonst gar nicht an sich kannte. Die wuchs und wuchs und machte sie wortkarg. Sie sehnte das Ende des Mahls herbei, während Wieprecht, der gar nichts davon zu merken schien und sich überhaupt im Gespräch immer mehr an ihren Mann wandte, diesem eine lange und sonderbare Geschichte von der Entdeckung neuer mächtiger Erdölquellen im Innern von Sumatra erzählte, die den Petroleummarkt in Baku und auch hier in Moskau in grosse Heiterkeit versetzt habe. Der unterirdische Naphtasee sei so plötzlich erschlossen und angebohrt worden, dass der Springbrunnen sofort bis über die höchsten Palmbäume hinausspritzte. Nun könne man mitten in der Wildnis das Loch nicht mehr stopfen. Man habe schon alles hineingeworfen ... Erde ... Steine ... tote Büffel ... Baumstämme ... umsonst ... die Quelle arbeite weiter ... der Urwald stehe schon stundenweit unter Petroleum ... die Schimpansen flüchten ... die Eingeborenen reissen vor Entsetzen die Mäuler auf ... und die Mynheers stehen mit langem Gesicht daneben und beten: Herr, halt ein mit deinem Segen ...

Iwan Michels lachte schallend. So etwas amüsierte ihn. Und Marja lachte mit, obwohl sie gar nicht recht zugehört hatte. Mit einem leisen Gefühl der Befreiung liess sie im Salon, in den sie nach Tisch zurückkehrten, Wieprechts Arm los und frug ihren Mann hastig, als wollte sie ihn zurückhalten: „Wo gehst du denn hin?“

Er winkte mit der Hand. „Lass nur ... mach nur inzwischen für uns Kaffee. Ich will nur für die Kinder da nebenan in der Ecke etwas herrichten ... für morgen ... ich hab’ ihnen was mitgebracht ...“

Damit kauerte er sich im Nebenzimmer in einem Winkel hin und fing an, ein weisses hölzernes Spielzeug, eine aus zahlreichen geschnörkelten Türmchen, Häuschen und Festungszinnen geschnitzte Nachahmung des berühmten Jungfernklosters vor den Toren Moskaus auf einem vorgezeichneten Papierplan aufzubauen. Das sollten Grischa und Tanja morgen beim Frühstück fertig dastehend vorfinden. Er war ganz in seine Arbeit vertieft und sein ein wenig erhitztes, blondbärtiges Antlitz hatte dabei einen geheimnisvoll glücklichen Ausdruck. Es strahlte schon jetzt bei dem Gedanken an den Jubel der Kleinen.

Die beiden nebenan schauten ihm aus der Entfernung zu. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte die junge Frau — nur um irgend etwas zu sagen: „Er verwöhnt die Kinder viel zu sehr! Jeden Tag schleppt er ihnen etwas Neues ins Haus. Alle Schränke sind schon voll von kaputten Sachen. Sie wissen gar nicht mehr, wohin damit ...“

Das konnte den Gast natürlich nicht interessieren. Er hatte ja keine Kinder. Seine Junggesellenwohnung irgendwo da drüben über dem Fluss, von deren üppiger orientalischer Einrichtung sich die Damen untereinander zuweilen vom Hörensagen, nach den Berichten ihrer Brüder und Männer, sonderbare Dinge zuflüsterten — die lag jetzt tot und dunkel. Und er sass hier und langweilte sich wahrscheinlich — wenn der abgespannte Ausdruck seines Gesichts nicht auch von den vielen Sorgen einer Stellung wie der seinen kam, an der Spitze der mächtigen Aktienspinnerei und in dieser kritischen Zeit — und bereute es wahrscheinlich schon, dass er hierhergekommen und diese kleine, prüde Norddeutsche da gefunden, mit der nach seinen Begriffen nichts anzufangen war. Aber was hatte er sich denn eigentlich unter der Frau eines Mannes wie Iwan Michels gedacht? Sie frug sich das alles innerlich mit einer wachsenden scheuen Abneigung gegen ihren Nachbar und zwang sich doch, ihm eine freundliche Miene zu zeigen. Er war zu einflussreich, als dass man es jetzt noch einmal mit ihm hätte verderben dürfen.

„Wie lange sind Sie nun schon in Moskau, gnädige Frau?“ frug er, offenbar auch nur, um das Gespräch im Gang zu halten, und fuhr, als sie erwiderte: „Bald sieben Jahre!“ in seiner halblauten Sprache, die immer einen verschleierten Spott seiner Umgebung gegenüber mehr ahnen als fühlen liess, fort: „Und wie gefällt es Ihnen hier auf dem Dorf?“

„Auf dem Dorf?“

„Ja — für was halten Sie Moskau? Ich hab’ nie so viel hundert Kirchen in einem Dorf beisammen gesehen wie hier. Aber der Rest ... sehen Sie — alle meine Bekannten hier — so viel und so verschieden sie sind, leiden an derselben fixen Idee: sie bilden sich sämtlich ein, sich in Europa zu befinden! Ich hab’ sie schon tausendmal zur Wahrheit ermahnt. Wenn wir schon hier mitten in Asien leben, als Nachbarn der Mongolen und Chinesen, dann wollen wir uns doch dessen nicht schämen, sondern es offen eingestehen und gefasst als Philosophen und Baumwollmänner tragen ... aber sie glauben es nicht ...“

„Komisch, dass Sie das sagen. Sie sind doch gerade der rechte Moskauer durch und durch!“

„Ja. Ich bin ein Moskowiter!“ Alexander Wieprecht nickte ernst, als gestände er ein schweres Vergehen ein. „Hier geboren ... hier am Leben ... mal hier begraben — ich habe eigentlich kein Recht, über unser Dorf zu urteilen. Mir fehlt der Vergleich mit anderen Städten. Drei Jahre war ich als junger Mensch im Ausland. Dann nie wieder auf längere Zeit.“

„Und was haben Sie damals da draussen gemacht?“

„Ich hab’ in Deutschland studiert!“ sagte Wieprecht, wie erstaunt darüber, dass sie das nicht wusste.

Aber sie hatte es wirklich nicht gewusst. Sie war ganz betroffen darüber. Er erschien ihr nun in anderem Lichte — nähergerückt dadurch, dass er die deutsche Welt westlich der Weichsel und auch die geistige Kultur, aus der sie selbst kam, näher kennen musste als die anderen hier. „Was haben Sie denn studiert?“ forschte sie.

„Nationalökonomie — Geschichte — auch Philosophie — das klingt komisch für einen Menschen, der täglich Massen von Flanell produziert ... nicht? — Philosophie besonders! In Leipzig — da wollt’ ich mein Doktorexamen machen und dann ganz in dem gelehrten Kram darinbleiben ...“

„Aber Sie sind nicht Doktor?“

„Ich musste nach Moskau zurück!“ erwiderte er kurz.

Marja wollte fragen: Warum? Aber zur rechten Zeit fiel ihr noch ein, was ihr Mann ihr von Alexander Wieprechts Vergangenheit erzählt — von dem plötzlichen Zusammenbruch des väterlichen Hauses — noch jetzt lebten in der Moskauer deutschen Kolonie dunkle Gerüchte von dem seltsam jähen, über Nacht erfolgten Tod des alten Wieprecht — und wie der Sohn die so gut wie fallite Firma, zuerst mit Hilfe der Freunde der Familie, dann selbständig wieder in die Höhe gebracht und Mutter und Schwestern ein auskömmliches Dasein ermöglicht und sich schliesslich zu seiner jetzigen führenden Stellung aufgeschwungen hatte.

„Schade!“ meinte sie halblaut. Weiter nichts. Und er lachte: „Glauben Sie, dass mir die Philosophie hier beim Baumwollgeschäft auch nur eine Kopeke einbringen würde? Im Gegenteil — das wäre direkt schädlich. Das könnte unsere Gedanken von den Liverpooler Kursen ablenken, und was würde dann aus der Welt? Das vermag sich ein armer Spinner wie ich gar nicht vorzustellen, dass die Baumwolle ’mal eines schönen Tages nicht zehn Punkte niedriger und am nächsten Tage elf Punkte höher stehen könnte. Und etwas Wichtigeres gibt es doch nicht ...“

„Ja — Sie haben leicht über so etwas zu spotten!“ sagte Marja. Es fiel ihr wieder der himmelweite Unterschied in der Art auf, mit der ihr Gast hier, ihr Mann dort drüben die Krisis auf dem Weltmarkt betrachteten. „Ihnen kann eben nichts passieren. Sie sind der erfahrenste Geschäftsmann hier ...“

„Wer behauptet denn das?“

„Alle sagen’s!“ Sie dachte daran, wie vor wenigen Stunden noch draussen im Petrowskipark Mascha Westrup, die bei aller Zerfahrenheit ihres Lebens und Wesens doch eine so ungewöhnlich gescheite Frau war, erklärt hatte, Sascha Wieprecht sei der einzige Mensch, mit dem man ein vernünftiges Wort sprechen könne. Aber das wollte sie ihm nicht erzählen und so versetzte sie nur: „Gerade heute habe ich noch durch Zufall, ehe ich Sie kennen lernte, über Sie gesprochen ... mit meiner Schwiegermutter ...“

„Oh —.“ Er wurde ein wenig lebhafter. „Wie geht’s ihr? Grüssen Sie sie von mir, wenn Sie sie wiedersehen! Ich hab’ sie gern.“

„Sie Sie auch!“

Er lachte. „Wir sind ein wenig verwandte Naturen, in einem Punkt: wir haben so furchtbar wenig Respekt vor unseren Mitmenschen! Sehen Sie — das schätze ich an ihr!“ Er warf einen unwillkürlichen Blick in das Nebenzimmer, wo Iwan Michels immer noch mit gespanntem Gesichtsausdruck das hölzerne Kloster baute, um zu sehen, ob der nicht etwa zuhörte, und fuhr dann leiser fort: „Sie hat immer so gelebt wie sie war, ganz offenherzig und treuherzig. Sie war immer sie selbst — in jedem Augenblick ihres doch recht langen und bewegten Daseins — und hat sich nie um die anderen gekümmert und nie geduldet, dass die in ihr Leben hineingriffen und es ‚in Ordnung‘ brachten! Bei ihr steht alles windschief — kreuz und quer — aber das ist eben sie — ihr Charakter ...“

„Und seinen Charakter, meinen Sie, soll man von Anfang an so lassen wie er ist? Gar nicht versuchen, etwas an sich zu erziehen und zu bessern? Das sind schöne Grundsätze ...“

„Man kann seinen Charakter gar nicht ändern — man kann ihn höchstens verlieren. Jeden Tag kommt irgend ein Zeitgenosse und holt sich ein Stückchen ab. Jeder trägt sein Teil davon. Schliesslich bleibt gar nichts mehr übrig.“

„Und die, die einem nahe stehen ...“

„... die machen vielleicht manchmal, dass wir uns selbst am fernsten werden! Aber das sagt ein gottloser Junggeselle wie ich. Ich darf darüber nicht mitreden. Bleiben wir lieber bei Mascha Westrup. Sehen Sie, die hat ihre Eigenart verteidigt, zäh — gegen ihre drei Männer und gegen alle Welt. Die Welt hat sie vielfach dafür getadelt — aber ist sie dadurch nicht sich selbst erhalten geblieben — ein jetzt noch vollständiger, wenn auch kränklicher und ältlicher Mensch — wo die meisten nur noch Bruchstücke sind im Lauf der Zeit — vor lauter Opfer und Nachgeben ...?“

Es war Marja, als höre sie wieder die Einsiedlerin im Petrowskipark reden ... das eine Wort, das in ihr wach geworden und vorhin wieder, beim Blick in das Nachtdunkel auf den Kreml hinaus durch ihre träumende Seele nachgeklungen war: „Du hast deinem Glück viel geopfert — vielleicht zu viel ...“ Sie wusste nicht mehr, hatte Mascha gesagt „deinem Glück“ oder „deinem Mann“. Es war ja auch gleich. Es war ja dasselbe. Und es tönte wieder aus Alexander Wieprechts Worten. Wenn der Madame Westrup lobte, wie sie ihren Weg verächtlich durch die Philister hindurch gefunden, dann meinte er damit wohl auch sich selbst. Die beiden — ihre Schwiegermutter und er — waren sich darin gleich. Nur gab die alte Zigeunerin des Herzens da draussen sich unbekümmert, ja herausfordernd ganz wie sie war. Und er — er trug für gewöhnlich eine Maske vor seinem eigentlichen Wesen. Das merkte sie immer deutlicher. Vorhin, als er von seinen langverschollenen deutschen Studienjahren sprach, hatte sich die ein wenig gelockert. Ohne dass er es selbst merkte, war seine Stimme wärmer, sein sonst so kühler Blick weicher geworden. Man hatte wie in einen anderen Menschen hineingesehen. Aber jetzt, wo er sich wieder ganz auf den spöttischen Moskauer Weltmann hinausspielte, war das vorbei und ebenso die flüchtige Annäherung an sein Wesen, die sie dabei empfunden. Der kalte Egoismus seiner Weltauffassung stiess sie nun wieder ab und beunruhigte sie zugleich und reizte sie zum Widerspruch, als wollte sie etwas Unbestimmtes in sich übertäuben.

„Wenn alle so dächten wie Sie, Herr Wieprecht!“ sagte sie weit heftiger, als es sonst ihre klare, heitere Art war. „Wenn jeder nur an sich dächte — dann würde es bald schön in der Welt ausschauen — kalt und leer ... wie in einem Grab. Da lob’ ich mir unsere alte einfältige Art, einander zu geben und zu nehmen. Und wenn man da zehnmal etwas von seinem armen bisschen Persönlichkeit verliert — man gewinnt dafür so vieles, was Sie gar nicht ahnen und wahrscheinlich auch gar nicht wissen wollen — weil Sie es verachten, ohne es zu kennen ...“

Sie brach ab. Sie wusste nicht, wie sie fortfahren sollte, und ihre Wangen röteten sich von Unmut, von einer ihr selbst unerklärlichen Bitterkeit. Wieprecht sass ganz ruhig da, rauchte und sagte nach einer Weile trocken, fast beiläufig: „Das hat doch gar keinen Zweck, sich zu ereifern und darüber zu streiten, gnädige Frau! Wir haben uns ja nichts getan! Unsere Wege kreuzen sich ja nicht. Seien Sie froh, dass Sie so glücklich und zufrieden sind — denn das ist doch der Fall — nicht wahr? Nun also, gottlob! — und lassen Sie mich auf meine Weise selig werden ...“

Das klang auch etwas schroffer als nötig war. Iwan Michels, der mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern über die Schwelle trat, hatte die letzten Worte gehört und lachte laut auf. „Sie und selig werden, Wieprecht!“ rief er vergnügt. „Na ... poloshim ... da hab’ ich meine Zweifel ... Sie seh’ ich schon mindestens im Fegfeuer! Sie haben schon zu viel Leute im Baumwollengeschäft hereingelegt — ohne mit der Wimper zu zucken, macht er das, Duschinka! Du solltest das nur einmal sehen — posluschaite, hören Sie ... versuchen Sie einmal diesen Kachetiner ...“

„Warum nicht?“ Der andere liess sich den schweren kaukasischen Rotwein einschenken. Die beiden Männer tranken und rauchten. Aber es wollte kein rechtes Gespräch mehr in Gang kommen. Der Hausherr wagte nicht, noch einmal von dem seinem Gaste von sieben Uhr Abends ab verhassten Geschäft anzufangen und über etwas anderes zu reden wurde ihm schwer. Er hatte dann in Marjas Gegenwart immer Angst, irgend eine Lücke in seiner Bildung zu zeigen und dadurch auch sie in eine peinliche Lage zu versetzen — und nun gar vor Wieprecht, der, wie man wusste, in allen Dingen zu Hause war. Aber auch der war nun wortkarg geworden und ebenso erwiderte ihm Marja nur das Nötigste, damit die Unterhaltung nicht ganz einschlief. Dabei war es noch früh am Abend. Der Gast konnte doch noch nicht wohl gehen. Es standen noch ein paar leere Stunden in Aussicht.

Eben wollte Iwan Michels, um die auszufüllen, eine Kartenpartie zu dritt vorschlagen, da sagte der andere mit einem Blick auf das in der Ecke stehende Klavier: „Sie sollten uns etwas vorspielen, gnädige Frau!“

Sie lachte. „Sehen Sie nicht den Staub am Schlüssel?“

„Den kann man doch wegblasen.“

„Nein — ich meine — das ist ein Zeichen, wie lange ich nicht mehr gespielt und gesungen hab’! Gewiss ein Vierteljahr. Bei Tag komm’ ich nicht dazu — und Mittags nach Tisch und des Abends will Mischa seine Ruhe haben. Er ist ganz unmusikalisch. Ihm ist das ein störendes Geräusch ...“

Aber ihr Mann widersprach eifrig, froh, auf einen Wunsch des anderen eingehen zu können. „Nein — nein — ich halt’ es schon aus ... Und Wieprecht ist Kenner! Ich hab’ ihn früher oft in die klassischen Konzerte fahren sehen und hab’ mir gedacht: Gott sei Dank, dass du da nicht mit musst! ... Wot ... so ...“ Er klappte energisch den verquollenen Deckel auf. „Neulich war erst der Klavierstimmer da. Fünf Rubel hat er für seine Katzenmusik genommen. Die kriegen wir heute gerade wieder heraus ... Nun — Gospoda ... fangt an, Herrschaften ...“

Marja fühlte sich freier, als ihre Finger die Tasten berührten. Das war wie eine Flucht aus diesem Zimmer heraus, aus dem gequälten Hin und Her der Worte, dem langsamen Verrinnen der Zeit in einer unausgesprochen zwischen ihr und Sascha Wieprecht herrschenden, sie berückenden, beinahe feindseligen Gespanntheit. Hier am Klavier war sie seiner Nähe entzogen. Mochte er auch da in dem grossen Schaukelstuhl mitten im Zimmer sitzen und gedankenvoll die Rauchringe seiner Zigarette von sich blasen — er konnte ihr nicht folgen, hinüber in das Reich der Töne, auf deren weichen, leise wogenden Wellen ihr so oft die Seele wie ein Schiff mit gespannten Segeln dahinzugleiten schien — hinaus in das Abendrot überm Meer und ferner Küste — in das Dämmern ... in das Niegeschaute — Unbegreifliche. Sie fürchtete sich selbst manchmal vor dieser Traumstimmung. Da war ihr oft zu Vieles wach, was sonst schlief — regte sich im Halbdunkel gedämpfter Klänge ein Ahnen und Sehnen, das sonst der Helle fremd blieb. Nicht umsonst war der Schlüssel an dem Instrument mit feinem Staub bedeckt. Aber heute war es ihr gerade recht, dass sie einmal spielen durfte — spielen sollte — mit halbgeschlossenen Augen — den Kopf leicht zurückgelegt, als zögen ihre Gedanken flüchtig vor dem, der sie fangen wollte, im Rausch der Tasten dahin, und voll eines leisen, inneren Lachens über Alexander Wieprecht da drüben und sein ernstes Gesicht. Nur singen wollte sie ihm nichts, als er darum bat, und gab als Grund den vielen Papyrosrauch im Zimmer an. Aber in Wirklichkeit hatte sie den Eindruck, als enthüllte sie durch das Leben und den Klang ihrer Stimme etwas von sich selbst, von ihrem Inneren vor ihm, und davor empfand sie Scheu. Er sollte nichts von ihr wissen, wenn er wieder wegging.

Dabei fühlte sie immer, während sie musizierte, deutlich seinen Blick auf ihr ruhen — unverwandt — und schaute ein paar Mal beim Umdrehen der Notenblätter flüchtig zu ihm hinüber und überzeugte sich jedesmal, dass es eine Täuschung war. Seine Augen suchten sie nicht. Sie waren zur Decke gerichtet. Er rührte sich nicht und hörte auf die Musik. Auch sein Gesicht war unbewegt. An was er dachte — was ihn beherrschte — ob die Baumwollpreise — die Börse morgen — oder einfach die Langeweile — oder dasselbe Träumen in Tönen, wie es leise betäubend um sie klang und schwang — sie wusste es nicht. Und doch glaubte sie zu fühlen, dass er jetzt auch ungefähr so fühlte wie sie — dass sie es jetzt in ihrer Macht hatte, durch die Weisen, die ihre Hände anschlugen, Gedanken, Stimmungen, Erinnerungen in ihm heraufzulocken, auf ihn einzuwirken, der sonst dem Einfluss anderer Menschen unzugänglich schien — und das gab ihr ein ganz übermütiges Bewusstsein von Stärke — von Sieg — aber seltsam — nicht eigentlich ihm gegenüber — sondern vor sich selbst ...

Ihr Mann hielt sich im Hintergrund. Er hatte die Kachetinerflasche neben sich und füllte sich öfter sein Glas. Der Ärmste — der langweilte sich nun sterblich, aber voll Rücksicht und Höflichkeit gegen die anderen und mit guter Miene. Sein Gesicht trug einen andächtig gespannten, verständnislosen Ausdruck, ganz im Gegensatz zu Alexander Wieprechts undurchdringlichen Zügen. Und doch war das der, der ihr in diesem Augenblick näher war. Er begriff wohl eher ihr Spiel. In seinem geistigen Ohr fluteten und ebbten die Töne vielleicht jetzt ebenso wie in ihr — im Rauschen eines uferlosen, weiten, weiten Meeres und Windeswehen über den Wellen — einem fernen, langsam verhallenden, nachzitternden Klang ... In der Ecke aber, wo Iwan Michels sass, blieb alles, wie es war — freundlich und gut — aber ganz ohne jenes seltsame Feiertagsleuchten, dort drüben am Horizont — alles so wie gestern — so wie morgen — und das stimmte sie auf einmal traurig. Wenn er sie nicht verstand, wollte sie lieber gar nicht weiterspielen, am wenigsten vor dem Unbekannten da, von dem sie nichts wusste und nichts wollte — der heute zum ersten und hoffentlich auch schon zum letzten Male ihre Wohnung betreten. Sie brach, beinahe unvermittelt, die Musik ab und erhob sich. Und im selben Augenblick war auch schon das geistige Band, das sich während des Spiels um sie und Alexander Wieprecht geschlungen hatte, zerrissen. Er war ihr fremd wie zuvor, Scheu einflössend, fast unheimlich. Sie ging zu ihrem Mann. Der klatschte in die Hände, geräuschvoll und nicht ohne einige Verlegenheit. Denn er war in der letzten Viertelstunde ein klein wenig, kaum merklich eingenickt. Alexander Wieprecht aber begnügte sich damit, ruhig zu sagen: „Ich danke Ihnen, gnädige Frau!“ und sah dann auf die Uhr. Es war nahe an Mitternacht. Sie erschrak förmlich. So lange hatte sie gespielt — beinahe anderthalb Stunden, ohne es zu merken — ihr war es kaum wie die Hälfte der Zeit erschienen — und ohne dass er irgendwie ein Zeichen von Ungeduld gegeben hatte. Das schmeichelte ihr eigentlich. Aber zugleich war sie doch froh in der Erwartung, dass er sich nun wohl bald entfernen würde, und in der Tat bat er nach kurzem Höflichkeitsgespräch, als erriete er ihre Gedanken, den Hausherrn, ihm durch den Türschweizer einen Schlitten holen zu lassen und verabschiedete sich sofort, als der zur Stelle gemeldet war. Dabei küsste er ihr die Hand. Das war ja Brauch. Sie konnte es nicht hindern. Aber es war ihr unangenehm, dass er ihre Rechte hielt. Sie zog sie rasch wieder zurück und erwiderte nur ein paar knappe, halblaute Worte, als er ihr das übliche „Auf Wiedersehen“ sagte.

Iwan Michels hatte seinen Gast bis auf den Treppenflur begleitet. Nun kehrte er zurück, rieb sich wohlgelaunt nach seiner Art die Hände und zog dann an der Schnur, um durch die Ventilationsklappe hoch oben an der Wand, die einzige Luftöffnung einer sonst hermetisch verschlossenen, winterlichen Moskauer Wohnung, ein wenig von dem Nachtfroste draussen hereinzulassen. Denn der Wein hatte ihm warm gemacht. Er trocknete sich die Stirne. „Na — Karaschô!“ sagte er vergnügt. „Nun ist also mit dem Wieprecht alles glücklich wieder beim alten! Du bist doch immer die Klügste, Duschinka! Wie gefällt er dir denn?“

„Da fragst du sonderbar.“ Marja war selbst erstaunt, wie nervös und gereizt sie war. „Ein Mensch wie er ... du kennst ihn doch selbst genau genug ... er gehört doch eigentlich nicht hier herein ... zu uns ...“

„Ja — wie denn? Du hast mich doch gedrängt und getrieben, zu ihm zu gehen!“

„Ja — zu ihm, in Geschäften — oder er zu dir aufs Kontor. Aber hier ...“

„Ja, aber — Duscha maja — soll ich ihm denn antworten: Nein! — wenn er sich selbst für den Abend einladet — in bester Absicht — und ein Mann wie er ... der Direktor der Spiridionowschen Manufakturen ..? das wäre doch ein neuer Bruch gewesen — das gerade Gegenteil von dem, was du erreichen wolltest und auch erreicht hast ... beliebe das doch zu begreifen ...“

Sie begriff es sehr gut. Und doch sagte sie — ganz gegen ihren Willen — aber sie musste: „Es hätte sich schon ein Vorwand gefunden ... du hättest mich vorher fragen können ... ein bisschen Rücksicht solltest du doch auch auf mich nehmen ...“

„Winowát ... ich bin der Schuldige ...“ sprach Iwan Michels gottergeben. Aber der Kummer über die unverdiente Kränkung malte sich, zumal unter der Nachwirkung des feurigen Kachetiners, doch auf seinem bärtigen, geröteten Gesicht. „Nun soll ich’s wieder gewesen sein! Ich müh’ und sorg’ mich, wie ich kann — ich tu’, was du willst — und dann bekomme ich Vorwürfe ... das ist nicht recht, Marja — glaube mir ...“

Sie wusste, wie leicht verletzt er war, und dass er jetzt sogar Grund dazu hatte. Sie war ungerecht gegen ihn. Sie hätte ihm das so gerne gesagt und gelacht wie sonst und alles war gut. Aber sie brachte es nicht fertig — jetzt nicht. Ihre Lippen gehorchten ihr nicht. Sie blieben stumm. Und doch wartete er nur auf ein freundliches Wort von ihr, geduldig wie immer. Als das ausblieb, wandte er sich ab und seufzte und sie konnte ihm nicht helfen. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit — sie vermochten beide sich kaum mehr an so etwas zu erinnern — war ein leiser Misston in ihre Ehe gekommen. Das fühlten sie beide und waren traurig. Dann ging er endlich aus dem Zimmer, zu den Kindern hinüber. Nach denen sah er immer vor dem Schlafengehen. Heute blieb er wohl besonders lange vor den Bettchen sitzen und tröstete sich im Anblick der Kleinen — und sie stand da einsam am Fenster und schaute hinaus in die Nacht ...

Du bist die Ruh!

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