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ОглавлениеWerner von Ostönne ging langsam von der Villa an der Lichtensteinbrücke nach dem Brandenburger Tor zu. Ein paarmal blieb er stehen, sah auf die Uhr, zauderte — dann schritt er wieder mit seiner gewohnten, gleichgültigen Entschlossenheit weiter. In der Königgrätzer Strasse angelangt, fing er an, die Hausnummern zu zählen. Er musste eine lange Strecke zurücklegen, bis über den Anhalter Bahnhof hinaus, ehe er fand, was er suchte: eine jener kleinen altmodischen Berliner Konditoreien aus Grossväterzeiten, wie sie sich da und dort in der Weltstadt bis in die Gegenwart erhielten. Er klinkte missmutig die schmale Glastür auf und blieb in dem niederen heissen Raum stehen.
Es waren ausser ihm nur Damen da, die ihn neugierig musterten. Natürlich! . . . Es war auch eine sonderbare Idee, ihn gerade hierher zu bestellen! Er überflog mit einem raschen Blick die Gruppen. Was er suchte, war noch nicht gekommen. So setzte er sich an einem Platz, wo man ihn von der Strasse aus nicht sah — es erschien ihm lächerlich — er in dieser Umgebung! — und liess sich einen Kognak geben. Er wollte sich auch eine Zigarre anzünden, um sich die Zeit zu vertreiben. Aber es fiel ihm ein, dass das Rauchen hier wohl verboten sei. Dabei war die Luft säuerlich vom Butterteig, von altbackenen Süssigkeiten — von Staub — von Menschen — ein grässliches Lokal . . . Er nahm gottergeben die „Fliegenden Blätter“ zur Hand und legte sie wieder hin. Dabei sah er von drüben aus der Ecke ein Paar Augen auf sich gerichtet — bang — unsicher . . . den Tränen nah — und zugleich fiel es von ihm wie ein Schleier vieler Jahre . . .
Das war sie ja . . . schon die ganze Zeit sass sie da . . . er hatte sie anders in der Erinnerung gehabt . . . Sein Bild von einst deckte sich so gar nicht mit der verblühten Wirklichkeit drüben an dem Tischchen . . . er war erschrocken . . . er sprang hastig auf und trat auf sie zu. Sie gaben sich stumm die Hände. „Darf ich?“ frug er dann kurz und nahm zugleich schon neben ihr Platz. Das Konditorfräulein brachte ihm sein Kognakgläschen hinüber. Eine Dame nebenan lächelte vor sich hin. Andere auch. Die haben ja ganz recht, wenn sie sich denken: ,Solch ein alter Esel und noch ein Rendezvous . . . mit einem späten Mädchen . . .ʻ Er räusperte sich. „Verzeih . . . bist du schon lange hier?“
„Ach . . . das macht ja nichts!“ Sie antwortete es mit einem schwachen Lächeln. Er sah sie an. Wie waren die Jahre dahingeflohen — die zehn langen Jahre . . . wo war das junge Mädchen von damals geblieben? Die schlanke Gestalt zu hager geworden — das Gesicht so schmal — müde Linien um den Mund — die Augen trübe . . . oder hatte er sie seinerzeit nur anders gesehen . . . in jenen verliebten Tagen? . . . vielleicht . . . vielleicht auch nicht . . . aber jetzt war sie verblüht, wie sie plötzlich aus dieser altjüngferlichen Konditorei herausgewachsen vor ihm sass.
„Ich danke dir, dass du gekommen bist . . .,“ sagte sie. „Das löscht doch nachträglich so vieles aus!“
Es klang wehmütig. Das ärgerte ihn. Er schlürfte seinen Kognak und stellte das Glas wieder hin.
„Bei mir ist nichts mehr auszulöschen!“ erwiderte er. „Ich hab’ keine Zeit gehabt, in Afrika noch lange Trübsal zu blasen!“
Nach kurzem Schweigen fügte er brüsk hinzu: „Jetzt hätten wir von dort zusammen herüberkommen können! . . . Du hättest dort dein Reich gehabt, grösser als zwanzig Rittergüter in Preussen! . . . Wir wären gemachte Leute . . . wenn du dich damals hättest entschliessen können, mich zu nehmen . . .“
Sie senkte den Kopf, dass er den schlichten Gouvernantenscheitel sah.
„Ich wusste, dass du damit anfangen würdest, mir das zu sagen . . .“
„Ja . . . sollen wir vom Wetter reden?“
„. . . Und ich hab’s ja auch verdient! . . . Ich war feige. Ich allein hab’ unser beider Glück verscherzt. Das kommt davon, wenn man auf andere Menschen hört . . .“
„Ja . . . dein guter Papa . . .“ Er lächelte spöttisch. Er schaute den Oberlandesgerichtsrat wieder vor sich, den würdigen Philister. Er hörte die Warnung einer ganzen Familie: ,Kind . . . geh nicht nach Afrika . . . mit diesem abenteuerlichen Menschen . . . diesem Habenichts . . . diesem Schlagetot . . . du wirst das Fieber kriegen . . . die Heuschrecken werden eure Pflanzungen fressen . . . die Wilden euch selber . . . bleib im Lande und nähre dich redlich . . .ʻ Nun ja . . . sie war ja auch geblieben . . . Sie hatte ihn allein hinüberziehen lassen . . .
„Dein Vater ist nun auch tot . . .,“ sagte er endlich.
„Schon seit sechs Jahren!“
Sie wurde plötzlich gesprächig.
„Und hinterher ergab sich’s: Es war rein gar nichts vorhanden . . . Wir standen einfach da. Es reichte eben, dass Paul durch die Assessorzeit bis zum Amtsrichter kam . . . und Else hat ja noch geheiratet . . . einen Rechtsanwalt in Breslau, mit ganz netter Praxis . . . Und Mama hat ja schliesslich für sich und Martha ihre Pension . . .“
Ihn interessierten diese Familiengeschichten blutwenig. „Und du selber?“ frug er unvermittelt
Sie seufzte leicht.
„Gott . . . In meiner jetzigen Stellung bin ich schon drei Jahre!“
„Immer als Gesellschafterin?“
„Wenn man sonst nichts gelernt hat . . .“
Sie rührte mechanisch mit dem Löffel in ihrem leeren Schokoladetässchen. Er schüttelte den Kopf.
„Was machst du bei solch einer alten Schraube den ganzen Tag?“
„Man lebt eben so!“
„Und wie wird das mit deiner Zukunft?“
„An die denk’ ich nicht erst!“
Er schwieg. Draussen fielen langsam grosse gelbe Herbstblätter von den kahlen Ästen der Platanen im Vorgarten. Ihn durchfröstelte ein Erstaunen: haben wir uns wirklich einmal geliebt?
„Und wie ist es dir gegangen, in der Zeit?“ frug sie schüchtern.
„Ich hab’ eben geschuftet, auf Mord und kaput! Kein Vergnügen, sich so allein abzurackern . . .“
„Dein Freund war doch bei dir!“
„Du hast mich nicht geheiratet, weil du nicht nach Afrika wolltest! Er wollte nicht nach Afrika, weil er geheiratet hat! . . . Es hängt alles in der Welt an den Schürzenbändern! Das hab’ ich nun allmählich auch schon bemerkt . . . Na . . . Gott besser’s!“
Er war gereizt. Er fügte, als sie die Lippen öffnete, hinzu: „Willst du mich auch wie alle Leute hier fragen, wann ich nach Afrika zurückgeh’? Ich hoffe — bald — sowie ich hier meine Hanfgeschichten gemanaget, und ein Hühnchen mit ein paar Kolonialstänkern gepflückt hab’! Dann komme ich lange nicht wieder!“
Es erfolgte keine Antwort. Sie schaute leer vor sich hin. In diesem Augenblick wusste er genau: ,Nun würde sie mit beiden Händen zugreifen, wenn ich sie jetzt noch zur Frau haben wollte! Sie hofft heimlich darauf! Aber es ist zu spät! Da draussen herbstelt es. Hier drinnen auch . . .‘
Sie schwieg noch immer. Er hatte auch nichts mehr zu sagen. Er wollte nicht hart gegen sie sein. Sie tat ihm leid. Und er fürchtete doch, sie würde jede Freundlichkeit von ihm unrichtig auffassen. Es war eine unbehagliche Pause. Dann stand sie auf und langte sich, ehe er ihr helfen konnte, ihr schottisches Mäntelchen vom Gestell. „Ich muss jetzt heim!“ sagte sie gepresst.
Die Haltestelle der Strassenbahn, die sie benutzen wollte, lag gerade vor der Konditorei. Sie standen da in dem feinen, kalten Sprühregen und warteten. Von ferne näherte sich die farbige Laterne durch die Nacht. Ostönne zündete sich eine Zigarre an, froh, aus diesem Konditoreistilleben für Primaner und Backfische herausgekommen zu sein. Seine Begleiterin rasste ihr Kleid. Ihre Augen waren feucht.
„Versichere mir nur eines . . .,“ murmelte sie.
„Ja?“
„. . . Dass du mir nicht mehr bös bist!“ . . .
„Ich hab’ längst ein Kreuz über alles gemacht!“
Der Wagen hielt. Sie reichte ihm mit abgewandtem Gesicht die Hand. Sie hatten keine weitere Zusammenkunft verabredet . . . sie wartete darauf . . . sie stand oben auf der Plattform zwischen allerlei Volk . . . ihre Augen waren gross und dunkel unter dem Schleier . . . aber da setzte sich die Strassenbahn in Bewegung . . . er sagte nichts . . . er lüftete nur noch einmal den Hut . . . es war vorbei . . . der Wagen schon weit weg, in der Richtung nach dem Belle-Allianceplatz. Da fuhr wieder ein Stück seines Lebens in die Nacht hinein. Werner von Ostönne klappte den Kragen seines Überziehers hoch, drehte sich auf dem Absatz um und stieg finster in die nächste Droschke.
Er wohnte, solange er in Berlin war, bei seiner Mutter am Königsplatz. Die alte Frau von Ostönne war eine feine, kleine Dame, silberhaarig, mit einem klugen, rotwangigen Gesicht. Sie liess den Sohn, als der bei ihr eintrat, neben sich sitzen, strich ihm zärtlich über den Scheitel und frug: „Nun, Wernerchen . . . wo kommst du denn her . . .?“
„Ich hab’ ein Rendezvous gehabt, Mama!“
Sie lachte. Das sah ihm gerade ähnlich!
„Wer war denn die Glückliche, Kind . . .?“
„Fräulein von Wieser . . .“
Der scherzende Ausdruck verschwand von den Zügen seiner Mutter.
„Ach . . . lebt die noch?“
„Na . . . wenigstens so ungefähr . . .“
„Wie hast du sie denn aufgefunden?“
„Sie hat an mich geschrieben und mich gebeten, wir wollten uns noch einmal aussprechen!“
„Wie ist sie denn jetzt?“
„Alt geworden, Mama . . .“
„Ja . . . Ja . . .“
„Oder bin ich alt geworden? Ich weiss nicht — na, jedenfalls Schluss!“
„Wirklich?“
„Ich bin nun einmal unversöhnlich gegen Menschen, die mich verraten haben. Dagegen kann ich nichts machen. Ich bin zu hart darin!“
„Nein! Ein zu weiches Herz hast du, Wernerchen!“
Er musste lachen über die gute, alte Mama.
Sie beharrte: „Spotte nicht! Ich kenne dich besser als du selbst! . . . Weil du so weich bist, schliesst du dich so schwer an und bist so karg mit deinem Vertrauen und empfindest es zehnmal bitterer als andere, wenn es missbraucht wird . . .“
„Das ist es worden. Und gründlich. Und mehr als einmal!“
„Aber so sind die Menschen, Kind! Sie meinen es nicht so böse! Man muss sich nicht abschrecken lassen. Sonst ist man schliesslich ganz allein!“
„Das bin ich ja auch so ziemlich, Mama! . . .“ Er nahm liebevoll ihre welken Hände zwischen die seinen. „Wenn ich nicht gerade alle Jubeljahre mal bei Muttern sitze und mich ’rausfuttern lasse . . .“
Die Greisin sass still da. Nach einer Weile hub sie an: „Weisst du, Kind, wozu du geschaffen bist? . . . Erschrick nicht. Aber du bist der geborene Ehemann! . . . Vorausgesetzt, dass du an die Rechte kommst!“
„. . . die Rechte . . . das ist rasch gesagt . . .“
„Du bist eine Natur, die sich nicht zersplittern kann, sondern alles auf eine Karte setzt! Darin liegt unter Umständen die Gewähr für ein grosses, grosses Glück. . . . War’s nicht die Wieser — gut, dann eine andere . . . Du solltest nicht wieder nach Afrika ohne eine Frau!“
„Ja, wenn das so leicht ginge, Mama!“
„Jetzt, Kind . . . wo du schon halbwegs ein gemachter Mann bist . . .“
„Trotzdem! Ich hab’ gar keine Lust mehr!“
Sie wurden beide stumm. Der Teekessel summte sein altes Lied, wie einst, in fernen Kindertagen. Die altmodische Hängelampe warf ihren Schein über das schwere Familiensilber, das verschnörkelte Meissener Porzellan — das verwitterte, feine Gesicht der greisen Dame. Und ihrem Sohn war es, als sässen noch viel mehr Menschen still hier mit um den Tisch, der Vater. . . der Grossvater, der lange weisshaarige Mann mit der Hornbrille, dessen er sich nur noch dunkel entsann . . . Tante Minchen . . . der kleine Bruder Kurt, der so früh gestorben . . . es waren nur Schatten . . . Der Afrikaner stützte den Kopf auf die Hand.
„Bei dir hier könnt’ man denken, man wäre wieder ein kleiner Junge, Mama!“ sagte er. „An dem Tisch da steht die Zeit still . . . komische Idee . . . nicht? . . . wenn man noch ein Bub’ wäre und erst anfinge zu leben . . . ich glaube, man würde dieselben Dummheiten wieder machen, höchstens in anderer Form. Meinst du nicht auch?“
„Was hast du denn je für Dummheiten gemacht, Wernerchen?“
„Gerade, was du sagst: ich habe mich zu sehr auf andere Menschen verlassen!“ Sein Gesicht war wieder hart und gleichgültig geworden. Er stand auf. „Und nun entschuldige mich! . . . Ich hab’ zu tun!“ sagte er, drückte die Lippen auf ihre Hand und beugte sich nieder, um sich von ihr auf die gebräunte Wange küssen zu lassen. Dann ging er in sein Zimmer hinüber. Auch da brannte schon hell die Lampe. Er setzte sich nieder, sperrte ein Schubfach auf und nahm einen Stoss Briefe heraus.
Das Papier war vergilbt. Das oberste der Schreiben trug das Datum von vor sieben Jahren. Er las es wieder, wie er schon oft getan:
„Mein lieber Werner!
„Seit ein paar Tagen habe ich mir überlegt, ob ich eigentlich je in meinem Leben wirklich, was man so sagt, Angst gehabt hab’! Ich habe gefunden: ohne Ruhm zu melden — nein! . . . Der liebe Gott hat mich offenbar, wenn’s schief ging, mit einem stumpfsinnigen Humor gesegnet, so dass die Geschichte dann gar nicht so gefährlich aussah. Aber jetzt hab’ ich Angst, wie ein Hungerkandidat vor der Prüfung vor dem, was ich Dir schreiben muss: Ich bin also doch seit gestern verlobt! . . . Sie hat ,ja‘ gesagt. Sie nimmt den wilden Mann aus Afrika, der von einem Klavier nicht mehr weiss, als dass es schwarze und weisse Zähne bleckt und quietscht, wenn man darauf haut. Sie hofft, er bessert sich und wird ein Kulturmensch.
„Und er, der alte Weiferling, und sie, die alte Weiferlingen, haben ihren Segen gegeben. Sie tun alles, was ihre Tochter will. Jeder tut, was sie will. Im Frühjahr heiraten Gabriele und ich. Und dann — ja — das weisst Du ja schon — sie will nicht mit hinüber! . . . Passte ja auch nicht dahin! Sie ist so schön . . . so wunderschön! . . . ein Schmelz . . . ein Zauber . . . man kann ihn nicht beschreiben . . . Sie ist wie ein kostbares Ding, das man im Treibhaus halten muss, damit es blühen kann!
„Ich bitte Dich, Werner . . . tobe nun nicht und schmeisse diesen Brief nicht von Dir, dass die Affen nachher mit den Fetzen Unfug treiben. Ich schwöre Dir: ich komme! Gib mir nur Zeit! Ein Jahr, wollen wir sagen! . . . Dann kann ich schon von ihr Urlaub nehmen! Dann bin ich Manns genug dazu! Aber vorläufig bin ich verliebt . . . Herrgott . . . Du warst’s ja auch mal vor ein paar Jährchen . . .
„Du wirst freilich sagen: ,Ganz egal! Ich bin trotzdem allein wieder hierher!‘ Ja, aber ich, Paul Lünhardt, ich bin eben kein Cato von Eisen, wie Du, sondern ein armer sterblicher Mensch! Wir wollen doch einander nichts vormachen, zwei alte Landsknechte und Zeltbrüder! Du warst immer der Stärkere! Ich war unter Deiner Fuchtel. Und nun bin ich statt dessen verliebt . . . ich bin wie im Rausch . . . wie wahnsinnig . . . ich bitte Dich: gönne mir eine Zeitlang mein Glück . . .
„Ich will gar nichts davon sagen, dass sie Geld wie Heu hat — dass sie so klug und gebildet ist, dass sie so schön ist — aber mir lieben uns so sehr! . . . Sie mich auch! . . . Wir sind im siebten Himmel . . . wir schwimmen im Glück . . . die Welt ist rosenrot und höchst lächerlich und nett — ein drolliger Einfall unseres Herrgotts . . . Und kurz und gut: ,ich muss!‘ . . . Und das ist meine Entschuldigung . . .“
Der Brief Paul Lünhardts ging noch lange weiter. Werner von Ostönne liess ihn sinken. Der nächste, den er herausnahm, war ein Jahr später geschrieben. Er las mitten daraus:
„. . . Unser Haus im Grünen, ganz am Ende des Tiergartens, wo sich Fuchs und Wolf adieu sagen, ist nun fertig. Ein Traum! Nächste Woche ziehen wir ein. Dass ich jetzt noch nicht von hier fort kann, das begreifst Du . . . Es ist so ein unmenschlicher Gedanke, dass man unter stinkenden Negern bei fünfzig Grad im Schatten am Kilimandscharo scharwerken soll, während hier die schönste Frau im trauten Heim mit Liebe auf einen wartet. Ich liebe sie so abgöttisch. Es ist nicht recht, dass Du auf alle meine Erklärungen schweigst und mir nur schreibst: ,Tu, was Du willst!‘ . . . Natürlich: der kategorische Imperativ heisst: Tu Deine Pflicht! . . . Weiss ich. Aber mein liebes Kerlchen . . . im Vertrauen gesagt: Der alte Kant, der den erfunden hat, war Junggeselle! Und ich will ja meine Pflicht tun . . . ich werde . . . ich will meinem Lebenswerk nicht untreu werden . . . ich komm’ schon hinüber . . . ich reisse mich hier los . . . auf Tod und Teufel . . . hab’ nur Geduld . . .“
Und wieder dreiviertel Jahre später war Paul Lünhardts nächster Brief datiert. Er war kürzer als die anderen.
„Mein lieber Werner!
„Wir haben uns in letzter Zeit viele dumme Dinge geschrieben! Du urteilst schroff und dabei wie der Blinde von der Farbe, weil Du Gabriele nicht kennst und nicht begreifst, wie ich sie liebe — in Deiner einsamen Bärenhäuterei im Urwald. Und von mir aus waren’s Halbheiten — ein Gedruckse — ein klägliches Hin und Her! Angst, alter Kerl . . . Angst . . . Angst vor Dir und vor mir selber! . . . Weiss der Kuckuck, wo meine Courage geblieben ist . . . sie ist weg . . . es ist vieles von mir weg . . . ich hab’s hergeborgt . . . an sie . . . ich bin verliebt . . . verliebter als am ersten Tag . . .
„Aber nun: Zähne zusammen. Es muss heraus: Ich kann nicht mehr zu Dir kommen! Ich mache keine Ausflüchte mehr . . . ich schiebe es nicht länger hins aus . . . ich muss hier bleiben . . . für immer . . . bei meiner Frau! . . . Ich kann keine Minute ohne sie sein, keine Stunde! . . . Wer liebt, wird mich verstehen! Wird begreifen, dass ich als Mensch gar keine Verzeihung brauche! . . .
„Und als Mann des Berufs . . . als einer, der sich etwas vorgesetzt hat in der Welt? Ach, Werner — mein alter guter sackgrober Werner . . . da hast Du freilich recht! Damit ist’s gefehlt! . . . Da könnte ich allerdings hinausgehen und bitterlich weinen, weil ich den Herrgott in mir verraten hab’! Das ist kein Zweifel: Von dem, was ich bin, was mich beschäftigt, will sie nichts wissen! Niemand hier im Haus! Und ich armer Narr: ich lieb’ sie . . . ich lieb’ sie . . . Liebe ist gar kein Wort dafür . . .
„Auf der Universität haben wir beim Komitat gesungen:
„ Zur alten Heimat muss ich heim,
Muss selber nun Philister sein . . .‘
jawohl . . . alter Blutsbruder . . . ich bin im Lande der Philister . . . auf Nimmerwiederkehr . . . aber dabei glücklich . . . glücklich bis über die Massen . . . und hoffe, ich bleib’s, trotzdem mein Leben seinen Knacks nun weg hat! . . . Drum verzeih mir, Werner, und mach’ es gnädig mit Deinem
Paul Lünhardt.“
Werner von Ostönne legte den Brief beiseite zu den vorhergegangenen. Nun war nur noch ein dünnes Päckchen übrig, aus dem letzten Lebensjahr seines Freundes. Das steckte er in einen Umschlag, schrieb die Adresse darauf:
„Ihrer Hochwohlgeboren
Frau Gabriele Lünhardt
geb. Weiferling“
und setzte Strasse und Hausnummer darunter. Dann nahm er sich im Flur Hut und Mantel, ging selbst hinab und warf das Schreiben in den nächsten Postkasten an der Ecke.