Читать книгу Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend - Rudolf Stratz - Страница 4
I
ОглавлениеSchlag’ ihm aani uff — dem Dreckschwob!“
„Als bei, du Wackes!“
Das Gebrüll der raufenden Bubenhorde übertoste den Platz vor dem Elsässer Dorfkirchlein. Die Sommersonne schien hell. Die Bauern in ihren blauen Blusen und die Marktweiber in ihren schwarzen Flügelhauben schauten lachend zu.
„Was isch diss für e Krambol!“
„Immer, wann der kleine Prüssien dabei isch . . .“
„Der Sohn von dem altdietsche Sommerfrischler — dem Professor aus Strassburg.“
„Au fond isch es e gueter Bue!“
„Na — das freut mich zu hören!“ sagte barsch ein schlicht gekleideter Herr, der mit einer kleinen dicklichen Dame vorbeiging. Er trug auf einer unscheinbaren, mittelgrossen Gestalt einen derb-durchgeistigten, bärtigen Gelehrtenkopf mit blinkenden Brillengläsern. Seine Gattin sagte nervös durch das Zetergeschrei des kämpfenden Jung-Elsass:
„Da hast du unsern Herrn Sohn!“
„Es ist sein letzter Feriennachmittag hier, Sofie! Morgen früh sitzt er wieder in Strassburg . . .“
„Ach Gott — da geht die Rotte Korah wieder auf den Ernst los!“
„Er ist der Räuberhauptmann, und die kleinen Wackes sind die Gendarmen!“
„Kommt doch, ihr Rotzlöffel beisammen, wenn ihr Kurasch’ habt!“ schrie der kleine Altdeutsche.
„Eweck, du Bobbedickel! . . Au!“ Der vorderste Häscher plumpste rücklings auf das Pflaster. „Nu — du drecketer Teifel!“
„Schau nur, wie der Ernst die Dorfbengel verdrischt!“ sprach die Mutter erschöpft.
„Geben ist seliger als nehmen, Sofie!“
„Man könnt’ sich bald vor ihm fürchten, wie er da oben von seinem Bretterhaufen herunterdroht . . .“
Dem vierzehnjährigen Bub auf seiner Burg von Bauholz neben der Mairie flackerten die dunklen Augen in dem erhitzten frischen Gesicht. Die Mütze war ihm von dem brünetten Krauskopf geflogen, Kragen und Krawatte nur noch lose Fetzen um den blossen Hals. Er stand atemlos ganz vorn vor seiner Schar. Er deckte die Elsässer Spielkameraden hinter sich mit dem kampflustig vorgebogenen, dünnen Knabenkörper. Er war heiser vom Schreien.
„Heran, wer noch keine Keile ’kriegt hat!“
Aber unten wischten sie sich blutige Nasen. „Numme langsam!“ . . . „Nit so vif!“ Es traute sich keiner von den barfüssigen halbwüchsigen Polizeiorganen mehr so recht heran. Die Eltern des jungen Schinderhannes gingen weiter. Die Mutter seufzte:
„Manchmal mach’ ich mir doch Sorgen! Der Ernst ist gar zu wild!“
„Dafür ist er ein Bub, Mama!“
„Und wo er hinkommt, sind die andern Buben so dumm und tun gleich, was er will . . .“
„Sei doch froh, dass unser Einziger kein Schürzenmichele ist!“
Die Eltern hatten jetzt das Dorf im Rücken. Vor ihnen blaute und grünte weithin im Sonnengold das Rundbild des Elsass — die zerstreuten weissen Landhäuser, die bergansteigenden Rebenhalden, die grauen Burgruinen auf vorspringendem Luginsland, die dunklen Fichtenwälder und lichten Buchendome steil an den Hängen der Vogesen aufwärts bis zu den baumlos kahlen violetten Kämmen — der düsteren Grenzscheide gegen Frankreich. Die kleine dicke Mama schaute erschrocken zurück.
„Wenn nur der Ernst nicht jetzt was ausgefressen hat! Da rennt ein Mann aus dem Dorf und winkt hinter uns her!“
„… dass dich die Krott’petz’!“ murmelte der Professor auf gut Pfälzisch und schaute, die hohe Stirne runzelnd, über die Brille weg die Strasse lang.
„. . . oder es ist dem Ernst selber was passiert . . .!“
„Ein ganzer Haufe Volk läuft mit dem Mann mit!“
„Horcht mal, ihr Männer: is es der do?“ schrie atemlos der hemdsärmlige Werkmann und wies nach dem Ehepaar.
„Oui! Der Monsieur mit der Brill’ und dem Vollbart — diss isch ’r!“
„Leopold — bleib um Gottes willen ruhig!“ bat die Dame bang. Aber der Mann aus dem Volk, in abgetragener Arbeitsweste und blauen Monteurhosen, trat höflich, die Schirmkappe in der braunen Faust, heran. Er lächelte verlegen und aufgeregt über das gutmütige, schweissbeperlte Gesicht.
„Nemme Sie’s norr net krumm, dass ich so gerad’ dahergeloffe kumm’! Aber es bressiert halt!“ sprach er. Der Gelehrte war stehen geblieben.
„Ei — Sie reden ja das schönste Pfälzisch!“ meinte er wohlwollend.
„Jo, Herr! Ich bin aus der Rheinpfalz drüwwe! Ich bin norr alleweil hier am Neubau von der Märih beschäftigt!“
„No — da sind wir ja Landsleute!“ sagte der bärtige Hochschullehrer. „Ich bin der Sohn vom Ochsewirt aus Nussdorf in der Pfalz! Also — wo fehlt’s denn, lieber Freund?“
„Die Leuť sage, Sie wäre e Doktor!“
„Ich bin wenigstens Professor der Medizin an der Universität in Strassburg.“
„Wie ich dees g’hört hab’, do hab’ ich die Bein’ unner die Ärm’ genumme und bin gesprunge, dass ich Sie noch einhol’.“
„Ich bin aber in den Ferien hier, mein Bester! In meiner Villa da drüben! Ich praktizier’ hier nicht! Ihr habt ja einen Arzt hier im Dorf!“
„Der is doch üwwer Land!“ schrie der Pfälzer. „Der kummt erscht in e paar Schtunde wieder retour! Und unterdes verblutet sich die Krott’ ja. Do gucke Sie norr! Zeig’ mal her, Mamme!“
Auf dem Arm einer einfachen Frau sass erschöpft ein halbwüchsiges, hellblondes Mädel. Es sah für sein Alter noch sehr kindlich aus, aber seine dreizehn Jahre lasteten doch schon schwer und bogen der Mutter die linke Tragschulter schief. Dabei mahnte die kräftige Person noch die Kleine:
„Halt’ dein Beinche besser nach links in die Luft, mei’ Herzgebobbeltes, dass du mir’s Kleid net verdreckst“
Das Kind lächelte schwach und streckte das magere, strumpflos in einem staubigen kleinen Schnürschuh steckende Bein zur Seite. Es war schlicht, aber sehr sauber gekleidet und hatte ein reines, klares Gesicht mit einem feinen Näschen und blassen, schmalgerundeten Wangen. Das blosse, dunkelblonde Köpfchen war nett mit Wasser in der Mitte glatt gescheitelt und hinten, wo das dürftige Zöpflein baumelte, mit einer blauen Schleife herausgeputzt. Die Kleine schien weniger erschrocken als die andern, sondern eher verdutzt. Sie schaute aus den blanken, blauen Augen interessiert auf ihre mager unter dem kurzen Röckchen vorlugende, mit einem Leinwandfetzen umwickelte Wade. Es liess sich nicht erkennen, ob dies alte Taschentuch ursprünglich rotkariert oder nur vom Blut so gefärbt war. Immer noch tröpfelten dicke Purpurperlen langsam, in regelmässigen Abständen, unter dem Verband hervor zu Boden, und über die schnurgerade, in der Hundstagsglut des Jahres 1882 flimmernde Chaussee zog sich nach rückwärts im grellweissen Staub weithin die rote Spur. Der Professor legte der Kleinen beruhigend die Hand auf den blonden Scheitel.
„Nun erzähľ mal, mein Töchterle: was ist dir denn passiert?“
Das Kind sah ihm zutraulich in das bärtige Gesicht und nickte eifrig.
„Ich hab’ dem Babbe’s Esse nach der Mairie bringe wolle,“ berichtete es mit feiner Stimme, „. . . und wie ich da obe an der Protzeburg vorbeigeloffe bin . . .“
„Die Protzeburg nenne wir als das Schlössche da owwe!“ Ihr Vater zeigte hinüber nach dem höchsten der Rebenhügel am Fuss der Vogesen, wo zwischen Teppichbeeten und Gewächshäusern, hinter einer altersgrauen Steinbalustrade, ein langgestreckter altfranzösischer Edelsitz aus der Zopfzeit seine beiden dicken runden Ecktürme zum tiefblauen Himmel hob.
„Des isch das Château Geissau“, erläuterten Elsässer Stimmen aus der Menge. „Der Propriétaire isch e richer Fabrikherr aus Mülhuse.“
„Der Monsieur de Dietsch!“
„Der isch nur itzt im Sommer e kurzi Zit hier!“
„Na — Maidele — wer hat dir denn nun in der Protzeburg ’was getan?“ forschte der Professor.
„Da is uff einmol der Güstave rausgesprunge gekumme!“
,,Sell is nämlich der chrischtliche Name for e Köter vun dem Dietsch!“ schrie der Vater. „E Köter so gross wie e Kalb!“
„Babbel Kreisch net so!“ mahnte die Mutter.
„. . . den hawwe die Buwwe geneckt gehabt! Jetzt geht dees Schinnoos her und beisst der Walburg ins Bein!“
,,Na — davon stirbt man nicht, Walburgche!“ tröstete der Strassburger Gelehrte. „Jetzt bringen wir dich gleich mal da hinüber zu mir ins Haus! Sie, Pappa, springen unterdes in die Apotheke nach Verbandzeug! Und Sie, Frau,“ er wandte sich zur Mutter, „Sie kann das schwere Kind nicht länger tragen! Geb’ Sie es doch weiter! Es stehen doch Männer genug rum! . . . Herrgott, Ernst: Benimm dich nicht wie ein Neckarfleetz! Was ist denn das für eine Art, die Leute zur Seite zu puffen!“
„Weil ich das schaff’!“ schrie der Bub. Er hatte das Schlachtfeld der Räuber und Gendarmen im Stich gelassen. Er war noch atemlos vom Laufen. „Her mit dem Kind! Was — das Gewicht wär’ für mich zu viel? So ein Püppchen schlepp’ ich noch lang! . . . Jetzt legst mir deine Händ’ hinten um den Hals . . . dass ich ’s Gleichgewicht krieg’! . . . So . . . da schaut her!“
Den Oberkörper weit zurückgelegt, mit hochrotem, kampfzerzaustem Kopf, keuchend, zuweilen stehenbleibend und verschnaufend, trug der Gymnasiast seine Last die hundert Schritte durch den Garten bis zu der Villa. Hinter ihm nickte der Professor still vergnügt seiner Frau zu.
„Da guck den Lausbub an, Sofie! Der spuckt sich gleich in die Händ’!“
„Und die andern, die nicht so flink sind, dürfen zuschauen und ihn bewundern! Dann ist er schon zufrieden! Es ist ja bei ihm nur der Ehrgeiz! Ach, Leopold: Ich kenn’ doch unsern Sohn!“
Der Ernst hörte die Worte der Mutter nicht. Sein Herz hämmerte. Sein Atem flog. Er trug auf seinen Armen das Kind des Volkes in sein Elternhaus. Dort setzte er es vorsichtig in einen Sessel und trocknete sich mit einem fragwürdigen. Sacktuch die Stirne und hörte neben sich die Stimme des Vaters:
„So! Nun mach’ dich weiter nützlich und geh’ mir beim Verbinden zur Hand! Das ist eine gute Vorübung. Du wirst ja doch einmal Arzt . . . und wenn du noch so grossartig das Gesicht verziehst! Die Fisematenten kenn’ ich! Das imponiert mir gar nicht! Nun wasch’ dir gefälligst erst die Hände gründlichst mit Nagelbürste und Karbolseife! Und dann hol’ einen Eimer Wasser und wirf die Sublimatpastillen da hinein!“
Das Wasser färbte sich schön rosenrot. Der Ernst hob den Krauskopf von der Schüssel und beobachtete, wenn er auch nicht Doktor werden wollte, doch voll unwillkürlicher Neugier, wie der Vater mit merkwürdig leichten, schnellen Fingern die Lappen von der dünnen Kinderwade löfte. Da war der Hundebiss. Man sah deutlich die bläuliche Kerbe der Schneidezähne und die beiden tieferen Löcher der Eckzähne in der dunkelrot geschwollenen Haut. Der Professor wusch, desinfizierte, verband. Gab der Kleinen einen freundschaftlichen Klaps und sagte:
„In vierzehn Tagen kannst du wieder tanzen gehen, Mamsellche! Ihr dürft ganz ruhig sein — die Eltern! Tragt das Kind jetzt nur heim! Die weitere Behandlung übernimmt dann der Kollege aus dem Dorf!“
„Und wieviel koschť das jetzt, Herr Doktor?“ frug der Pfälzer und kramte wirklich schon in der Tasche seiner blauen Monteurhose. „Nix? No sag’ ich aber schönstens Merci!“
„Bedank’ dich, Walburgche!“ mahnte die Mutter. „Das Kind kann sonst so liebe Knickse mache! Awwer jetzt geht’s net! Gib wenigstens schön die Hand!“
„Vergelt’s Gott viel tausend Mal“, sagte die Kleine herzlich mit ihrer feinen Stimme und reichte vom Arm des Vaters herunter dem Professor und dann dem Ernst das magere Pfötchen. Dann wanderte die Pfälzer Familie davon in die Sonnenglut des Elsass hinaus. Auch der Gelehrte langte sich im Flur den Strohhut vom Haken.
„Wohin denn noch vor Tisch bei der Hitze, Leopold?“ rief seine Frau aus dem Wohnzimmer.
„Ich muss doch auf alle Fälle hinüber nach dem Château Geissau und mir das Mistvieh von Hund anschauen, ob es nicht einen verdächtigen Eindruck macht . . . gerade jetzt in den Hundstagen . . .“
„Überlass das doch der Polizei . . .“
„. . . bis die kommt, kann der Köter noch zehn Menschen gebissen haben . . . Es wäre doch die Möglichkeit von Tollwut-Symptomen . . . Ja . . . Sofie . . . dafür ist man nun in Herrgottsnamen mal Arzt! . . . Komm mit, Ernst!“
Backofenglut zitterte über dem schattenlosen Weg. Breitblättrig buschten sich zu beiden Seiten die Tabakstauden und mit dottergelben Körnertrauben die Maiswedel. Hopfengerank wand sich um hohes Drahtgespinst. Die Rebstöcke standen, mit noch fast unsichtbaren hellgrünen Beeren, tausendfach in Reih und Glied. Schwer schwankte das erntereife Gold der Ähren. Vater und Sohn gingen schweigend durch die Fülle des scheidenden Sommers. Endlich sagte der Professor:
„Ernst — es wäre mir lieb, wenn du nicht fortwährend mit den Fussspitzen gegen den Boden stossen und unnütz Staub aufwirbeln möchtest! Warum schlurfst du denn hin mit ’m Gesicht wie zehn Tag’ Regenwetter?“
„Weil du vorhin wieder gesagt hast, ich sollte Arzt werden!“
„Na — und?“
„Du weisst ja, was ich werden will“
„Du malst mit Feuereifer, du zeichnest, du modellierst!“
„Ja — eben . . .!“
„. . . und hast ausserdem noch einen Haufen kleiner Gaben! Du fingst. Du verzapfst bei der Klassenaufführung die Klytämnestra. Du hältst Volksreden an deine Mitschüler . . .“
„Ich bin eben vielseitig . . .“
„Aber etwas leisten, heisst heutzutage einseitig sein — leider — Glaubst du, ich hätte das nicht auch empfunden, obwohl ich es doch ganz hübsch weit gebracht hab’ — für einen Bauernsohn aus der Pfalz! . . . Du tummelst dich in allen möglichen Künsten!“
„Das ist doch schon eine ganze Menge . . .“
„Aber nicht eine Menge Ganzes, sondern eine Menge Halbes. Und alles Halbe im Leben ist Ballast und muss über Bord!“
Der Knabe lächelte nachrichtig zu der Weisheit des Alters und schwieg. Der Vater scheuchte mit der Hand eine summende Hornisse. Nach einer Weile begann er:
„Das Gefährliche, Ernst, das ist der Beifall, den so ein Tausendfassa wie du mühelos überall einsackt. Deine Mama macht Augen wie die Kugeln, wenn sie dich sieht. Deine Kameraden staunen dich an, wie die Kuh das neue Tor. Sogar die Lehrer sind nicht gescheiter. Der alte Keiler ist ganz vernarrt in dich . . .“
„Die wissen eben besser, was in mir steckt!“
Der Professor lachte und legte kameradschaftlich den Arm um die Hüfte des neben ihm schreitenden Knaben.
„Mein lieber Junge: in dir steckt vor allem ein mordsmässiges Selbstgefühl! Das ist dir angeboren, und deine Umgebung und du selber tun alles, damit das Pflänzchen recht ins Kraut schiesst. Überall musst du das grosse Wort führen! Überall musst du der Erste sein!“
„Einer muss es doch sein!“ rief der Ernst hitzig.
„Du bist sehr für die Heldenbewunderung. Aber der Held, den du bewunderst — den siehst du, wenn du vor dem Spiegel stehst!“
„Pah . . .“
„Das ist bei dir so die richtige Antwort! Ich halte sie den beginnenden Flegeljahren zugute.“
„Danke, Papa!“
„Aber mach’ auch nicht so ein unglückliches Gesicht, dass du an solch einen alten Esel von Vater geraten bist, Ernst: ich mein’ es gut mit dir! Lauf du meinetwegen in deiner freien Zeit mit dem Keiler und pinsel’ die Vogesen. Die Vogesen haben schon viel durchgemacht. Die können sich nicht wehren! Aber wenn es mal an die Berufswahl geht, dann rede ich auch ein Wort mit, mein Sohn, und zwar gründlich! So . . . uff — da sind wir endlich an der Protzenburg! Na — dem Monsieur aus Mülhausen scheint es wirklich an Kleingeld nicht zu fehlen. Schau’ nur die Teppichbeete!“
Die Blumenschnörkel zu beiden Seiten des Gartenwegs leuchteten buntscheckig wie eine Malerpalette in der Sonne. Aber wenn man näher hinsah, waren es nur die drei Farben blau — weiss — rot, die in verschiedenen Schattierungen immer wiederkehrten: Die Trikolore der französischen Republik jenseits des hinter dem welfchen Schlösschen aufsteigenden Wasgenwalds. Im Dämmern der Türwölbung schimmerte das weisse Häubchen einer öffnenden Jungfer. Der Gelehrte gab ihr seine Karte.
„Bitte fragen Sie Herrn de Dietsch, ob Universitäts- professor Leopold Wachsmuth aus Strassburg ihn einen Augenblick sprechen kann!“
„A votre service, Monsieur le Professeur!“ Der grosse Mülhauser Spinner kam selbst aus dem offenen Gartensaal dem Besucher entgegen. Er war ein grosser, magerer und knochiger Mann mit viereckigen Schultern und langen Beinen. Rötlicher Haarbusch über der starken Stirne. Rötlicher Vollbart. Die an sich barsche und befehlsgewohnte Stimme jetzt geschmeidig höflich, während er den Gast in die kühle Halle geleitete. „Permettez que je vous présente à Madame de Dietsch!“ Er machte eine Handbewegung gegen eine wohlbeleibte Dame in mittleren Jahren, die gezwungen über das ganz weiss gepuderte Gesicht lächelte, und ging in recht gutes Hochdeutsch über. „Meine Frau stammt aus Nancy. Sie spricht leider nur Französisch! Hier — Monsieur Davignon aus Mülhausen — Monsieur Werlé — meine Geschäftsfreunde — nun — man kennt ja im Elsass diese Namen — Madame Werlé — mein Jagdgast: Colonel Le Blond aus Paris — bitte nehmen Sie Plagtz! Ihr berühmter Name ist mir nicht fremd, Herr Professor! Übrigens auch nicht der Ihres Herrn Schwiegervaters — des Ministers! . . . Er entstammte doch einer der ersten bayerischen Familien . . .oh — helfen Sie meinem Gedächtnis nicht — ein Baron Paur — nicht wahr? . . . Paur zu Rain! Nun — sehen Sie! Ich habe auch einige Interessen drüben in der Rheinpfalz! Ich hatte daher während der Amtszeit Seiner Exzellenz öfters mit ihm geschäftlich zu tun . . .“
„Mein Schwiegervater hat längst den Kram hingeschmissen! Der baut jetzt in Ruh’ seinen Kohl auf seinem Gut in Niederbayern!“
„O ja . . . leider . . . und da ist Ihr Sohn . . . Gymnasiast in Strassburg . . . vortrefflich! Und womit kann ich Ihnen dienen, Herr Professor?“
Der Ernst sass stumm da, während sein Vater mit dem Grossindustriellen aus dem Mülhauser Wetterwinkel im letzten Süden des Elsass sprach, und beobachtete, was eben Buben beobachten: — was der Herr de Dietsch für grosse Füsse hatte, in langen, vorn ganz viereckigen Stiefeln, und das weisse Reismehl auf dem Gesicht der Madame de Dietsch, als hätte sie sich mit einer Handvoll Staub von der Chaussee draussen eingerieben, und den martialischen schwarzen Schnurrbart des Pariser Obersten. Es war der erste französische Offizier, den der Gymnasiast sah. Schliesslich schaute er, mit seinem tiefbraunen Gesicht, auch nicht anders aus als andere Leute. Der Colonel redete in schnellem Französisch mit der Dame des Hauses und dem Fabrikanten. Man war mit einem Schlag, hier im Château Geissau, mitten im Elsass, in ein Stück Frankreich versetzt. Nur Monsieur de Dietsch unterhielt sich mit seinem Gast auf deutsch und stand auf.
„Also beglückwünschen wir uns, dass diese Tochter nur leicht blessiert ist! Ah bah — bah — bah — ordnen wir doch diese Bagatelle auf der Stellel Gestatten Sie, dass ich mein Scheckbuch hole!“
„Deswegen bin ich nicht in der Mordshitze herübergelaufen, Herr de Dietsch! Der Vater wird sich schon melden! Ich bin Mann der Wissenschaft! Mich interessiert es, den Hund zu sehen!“
„Den Güstave! Mein Gott — was weiss ich denn von ihm? . . . Er gehört meiner Tochter! . . . Maman: Wo ist Laurienne? Nebenan? Venez, ma petite! Duzwitt! Il y a du monde!“
Eine dreizehnjährige kleine Dame trat herein. Sehr hübsch das rosige altkluge Gesicht, die Gestalt klein und zierlich, mit winzigen, niedlichen Händen und Füssen. Sie hatte das rötlich blonde, gelockte Haar des Vaters und die dunkeln französischen Augen der Mutter. Sie war in ausgezeichnetem Pariser Geschmack, aber noch ganz als Bébé gekleidet, in kurzem, blauem Röckchen über den dünnen, wadenlosen Beinen und einer mächtigen rotweissen Schleife seitlings an der Taille. Sie war schon kokett. Sie spielte die Verwirrte, als sie von dem Unglück hörte. Sie markierte Angst um die kleine Walburg. Sie schlug dann, bei der Nachricht, dass es nichts Gefährliches sei, gefühlvoll die Augen auf: „Dieu merci!“
„Ich werde den Güstave holen!“ sagte sie dann. Ernst sprang auf und lief ihr in den Garten nach.
„Ich komm’ mit!“
„Pourquoi?“
„. . . damit er Ihnen nichts tut!“
„Güstave?“ Sie rundete seelenvoll das Mäulchen: „il est doux comme un mouton!“
„Ich versteh’ kein Französisch! Wir sind hier in Deutschland!“ sagte der Bub trotzig und ging neben ihr her. Nun konnte das kleine Fräulein de Dietsch auf einmal auch Deutsch.
„Diss ist mir tuttmemschos!“ sagte sie. „Sind Sie ein Prüssien?“
„Ein Bayer bin ich!“
„Oh — diss ist besser!“
„Das is auch tuttmemschos — Bayer oder Preuss! Wir sind hier alle Deutsche! Sie auch!“
„Une Alsacienne!“ sagte die Kleine diplomatisch. Alle ihre Worte klangen wie ein Echo aus dem Elternhaus. „Attention!“ sie klatschte in die Hände, „da kommt der Güstave quer über die Beete, wie er mich sieht! Venez — mon ami!“
Ein hochbeiniger Wolfshund sprang mit heraushängender Zunge, vor Freude winselnd, an Laurienne de Dietsch empor. Er legte ihr die Pfoten auf die schmächtigen Schultern. Sein Rachen überhöhte ihr rotblondes Haar. Sie stand unter seiner Last lachend und federnd aufrecht wie eine kleine Tierbändigerin. Ernst Wachsmuth betrachtete sie in stiller Andacht. Sie kraute dem Güstave hinter dem Ohr und gab ihm einen liebevollen Stoss.
„Die Gassebuwe haben ihn irritiert! Sonst ist er das beste Kamerädle von der Welt!“ sagte sie. „Allons! Gustave, mon petit! Präsentier’ dich à Monsieur le Professeur!“
Der Hund stand wedelnd in der Mitte des Saales und schaute aus klugen, glänzenden Augen zu den Menschen empor. Er liess sich mit der Seelenruhe des Familienlieblings durch die forschenden Brillengläser des fremden Herrn anfunkeln.
„In der Tat, Herr de Dietsch,“ sagte der dann, „das Tier macht gesundheitlich einen ganz stubenreinen Eindruck. Aber behalten Sie es jedenfalls der Sicherheit halber die nächsten Wochen hindurch gut im Auge!“
„Nun: um Sie ganz zu beruhigen, werde ich Ihnen seinerzeit noch mit zwei Zeilen ein Bulletin über Monsieur Güstave’s hohes Befinden erstatten! . . . Ha ha! . . . Keinen Dank . . . es war mir eine Ehre, Herr Professor!“
„Güstave — gib dem Herrle hübsch une petite main!“ mahnte das Kind Laurienne. Sie kniete neben dem Tier auf dem Parkett. Der Ernst stand davor und schaute, die erdfeuchte Hundepfote in der Hand, verträumt auf den rotblonden Wirrkopf hinunter und trollte sich dann hinter dem Vater über die Schwelle. Draussen, in freier Sommerhitze und Insektensummen, unter blauem Himmel, zwischen Rebengrün und Weizengold, sagte der Gelehrte, aus seinem aufgestauten Groll heraus, barsch wie im Selbstgespräch: „Und das nennen sie bei uns das Elsass regieren! Kriecherei vor den mit allen Pariser Wassern gewaschenen Notabeln, Hilflosigkeit gegenüber dem ersten besten Dorf-Curé, und gegen das Volk, das eine demokratische Verwaltung gewöhnt ist, den Unteroffizierston! Gott besser’s!“
Und weiter zu dem Sohn, als wäre das schon ein Erwachsener:
„Ein schöner Jagdgast, der Colonel! Diese französischen Gesellschaften haben überall die Jagden gepachtet und klettern das ganze Jahr in den Vogesen herum, damit sie für den Ernstfall alle Grenzpässe kennen! In Strassburg, rund um den Broglie, da schiessen sie auch Böcke — aber in ihren Amtsstuben — und merken vor lauter Verfügungen und Regiererei die nächsten Dinge vor ihrer Nase nicht! Manchmal möcht’ ich, ich wäre wieder über’m Rhein in Altdeutschland! Schau dir das Münster gut an, Ernst, vielleicht siehst du es nicht mehr lange! Deswegen reisen wir dieses Jahr schon vor Schluss der Ferien nach Strassburg heiml“
Gewaltig ragten im letzten Zwielicht Plattform und Turm der Kathedrale schon weithin sichtbar vor dem verblassenden Violett der fernen Schwarzwaldhöhen über die dämmernde Rheinebene. Ernst guckte, vom offenen Eisenbahnfenster aus, mit gemischten Gefühlen auf das feierliche Bild. Denn gleich hinter dieser steinern zum Sternenhimmel aufstrebenden Herrlichkeit stand drüben das langweilige Lyzeum. Man konnte es erwarten, dass man da bald wieder auf der Schulbank hockte. Aber das Münster wuchs unerbittlich aus der Nacht und kam näher und näher und überschattete das winklige Giebelgewirr Alt-Strassburgs. Dessen viele, grellrot durch das Abenddunkel leuchtenden neuen Ziegeldächer gerade vor dem Dom — das waren die Spuren der Belagerung von 1870 — die Neubauten an Stelle der weiten Brandstätten am Steintor vor der dritten deutschen Parallele. Der Gymnasiast konnte sich noch an die langen, grauen Trümmerhaufen des zerschossenen Walls erinnern, die wie Kraut und Rüben dagelegen, als er vor sechs Jahren mit den Eltern in Strassburg einfuhr. Jetzt war der verkohlte Kriegsschutt längst weggeräumt, und innen, in der glühenden, stickigen Stadt, wirrte und lärmte der Alltag um den Fiaker, der vom alten Bahnhof über den Kleberstaden nach der Blauwolkengasse rumpelte. Dort, in der Wohnung im ersten Stock, lag schon eine Depesche für den Vater. Er las sie und brummte etwas in den Bart und schüttelte den Kopf. Er sprach lange im Nebenzimmer mit der Mutter und schnauzte beim Herauskommen auf gut Pfälzisch den Sprössling an, der erwartungsvoll dastand.
„Halte jetzt gefälligst nicht Maulaffen feil, mein Sohn, sondern setz’ dich nur ruhig auf deinen Hosenboden und mach’ endlich deine Ferienaufgabe für das Lyzeum! Du wirst noch früh genug zu horchen kriegen, ob wir in Strassburg bleiben oder nicht!“
Das Lyzeum duckte sich halb verkrochen als ein düsterer alter Jesuitenbau an die Masse des Münsters. Auf dem Schlossplatz davor standen ein paar Wochen später, morgens um acht, zu Haufen, die Buben. Stürmisches. Hallo begrüsste den Ernst, den ungekrönten König der neuen Untersekunda. Seine Anhänger umringten ihren Häuptling. Er besass in den beiden feindlichen Lagern der Klasse seine Gefolgschaft. Er verstand sich auf das Kunststück, das selbst dem Statthalter der Reichslande, dem Feldmarschall von Manteuffer, nicht gelang, und brachte die Elsässer und die Altdeutschen unter einen Hut — hier den Charele Vogelin, genannt le petit Parisien, den Sohn des grossen Strassburger Advokaten, und den Schang Werlé, den Erbprinzen der Kattunfabrik drüben in Schirmeck — und dort den Julius Lautensack, den Sohn des kaiserlichen Ministerialrats bei der Statthalterei, und den Alexander, den Ältesten des königlich-preussischen Generalmajors von Willitzkow, und den Franz Gimber und noch ein Dutzend Auserwählte, die Ernst Wachsmuth seiner Gönnerschaft würdigte.
Und auch der Klassen-Ordinarius, der Keiler, blinzelte ihn, als der Unterricht begann, wohlwollend vom Katheder an. Der alte Junggeselle sah aus, als hätte sich der Wanderer Wotan aus Versehen in das Zimmer der Untersekunda verirrt. Wehender Graubart. Wehende graue Mähne. Wehender grauer Mantel. Ein Bass wie Sturm im Wald. Sooft er konnte, bei Nebelgeriesel und Nebelbrauen, strich er im Schlapphut, mit Skizzenbuch und Staffelei durch die Berge und pinselte Luft und Laub, Wolkenzug und Wassersturz, Mittagslicht und Mondschein. Denn in ihm stak ein Maler — ein verkannter Maler — einer, der es nicht hatte werden sollen, weil der Vater eben ein Hufschmied drüben im Renchtal war. Aber andere — die durften es besser haben! Die konnten was aus sich machen.
„Du bisch nit e Buresuhn wie ich, Ernscht!“ sagte er in der Pause in seinem Schwarzwälder Deutsch, wenn er sich gehen liess. „’s ische Schand g’nue mit mir und bliebt e gottsträflig U’recht. Aber du wursch e Kuenschtler! Du häsch des Zeug dazu, Atterli! Aus dir wird was Grosses — was ganz Grosses!“ und plötzlich wieder in Hochdeutsch verfallend, mit einem grimmigen Blick der buschigen Augen durch die Kerkerscheiben der Schulstube nach den unsichtbaren Wasgenwaldhöhen: „Sowie ich ein bissel hier mit dem Dreck im Reinen bin, dann marschieren wir mitenanner in die Vogesen und malen nach Herzeluscht!“
Im tiefsten Forst, wo noch Wildschweine und Wölfe hausten, rauchte da im Wasgenwald ein Kohlenmeiler — ein richtiger Meiler wie aus dem Mittelalter — mit der wabernden Lohe seines Flämmchengezüngels durch die Luftlöcher der Erdpackung über der still schwelenden Glut. Auf den weiten, windumpfiffenen kahlen Hochkämmen strichen da im Regen ganze Heere gespenstiger grauer Nebelfrauen, die Sonne malte tausend Goldkringel in den Säulendom hoher herbstbunter Buchen. Oben aus dem efeuumsponnenen verwitterten Bergfried spreizte ein Eichbaum wie ein geisterhafter Turmwart seine hundert Arme über die Burgruine, in der einst Ritter und Edelfrauen sich geküsst. — Der Keiler und der Ernst pinselten bienenfleissig das Alles mit Wasser und Öl. Sie füllten ganze Skizzenbücher. Sie malten von Samstag mittag bis Sonntag abend grün bemooste Hexenplätze und graue Heidenwälle und braune Holzhauerhütten. Nur den Menschen und Tieren gingen sie vorsichtig aus dem Wege. Die konnten sie nicht. Sie tuschten sie höchstens ganz klein, wie die Liliputaner, als Staffage in ihre Landschaftsstudien hinein.
Einmal tupften sie ein paar bedeutsame, winzige, scharlachrote Flecken in den Hintergrund einer öden, einsamen Hochweidefläche, über die in regelmässigen Abständen eine Reihe weisser Steinmale auf dem herbstlich dampfenden Boden hinlief. Das war der Trennungsstrich zwischen Deutschland und Frankreich, und dort jenseits von ihm schlenderten schon sonntäglich, trällernd und pfeifend, die ersten Rothosen — so nahe, dass ihr Zigarettenrauch herüberwehte, kleine blau-schwalbenschwänzige Infanteristen aus Gérardmer oder einem der anderen Grenznester drüben auf der welschen Seite, die ebenso von schlafenden Heeren starrten wie die Bergschluchten auf dem deutschen Vogesenhang.
Diese Skizzen vom Erbfeind waren die letzte Ausbeute gewesen. Nun schnallten der Professor Keiler und der Ernst befriedigt ihre Mappen zu und wanderten das Tal der Thur hinab nach Thann. Dort qualmten schon die ersten Fabrikschlote um das Theobaldsmünster, und drunten in Mülhausen, wo die Beiden bis zur Weiterfahrt nach Strassburg vor dem Bahnhof herumbummelten, verfinsterte sich der schon abendgrauende Himmel vom Rauch von hunderten von Schornsteinen. Die breiten, nüchternen Strassen wimmelten und wogten. Man hörte kaum ein deutsches Wort. Der Ernst bekam keine Antwort auf eine deutsche Frage. Erst als er sie auf französisch wiederholte, wies der nächste Vorüberkommende auf die Waldhöhe jenseits der Bahn:
„Monsieur de Dietsch? Mais oui! — Suivez la passerelle au-delà de la gare!“
„Das ist zu weit! Da kommt man heut nicht mehr hin!“ sagte der Gymnasiast mit einem Blick über die Eisenbahnbrücke weg zu dem von prunkvollen Villen der Grossindustriellen übersäten Rebberg.
„Was wilt denn du bei den Kaibs da obe?“ grollte der graubärtige Wotan neben ihm. „Das isch e welsche Bagag’, der Reih’ nach, wie sie gewachse sind!“
„Ja — der Papa hat auch gestern beim Frühstück wieder feste auf die Notabeln geschimpft und gesagt: denen kommt kein wahres Wörtle aus’m Maul! Das sehe man wieder an so’ner Kleinigkeit mit dem Dietsch! Von dem ist doch keine Zeile gekommen, obwohl er dem Papa extra versprochen hat, er wollt’ ihm schreiben, wie das mit dem Hund . . . Ach . . . jetzt da guck’ her!“
Der Gymnasiast unterbrach sich erfreut. Er liess seinen Mentor stehen und lief nach dem Bahnhof zurück, auf einen Backfisch zu, der da dünnbeinig und leichtfüssig im Strom der Reisenden herausschlüpfte, und zog überglücklich die Mütze.
„Wie geht’s dem Güstave, Mademoiselle de Dietsch?“ frug er schnell und aufgeregt. Die Dreizehnjährige vor ihm war schon kleine Dame. Sie streifte den fremden Jungen kaum mit einem frostigen Seitenblick. Erkannte ihn dann. Blieb stehen und zeigte lachend die kleinen weissen Zähne in dem hübschen Gesichtchen.
„Oh — Salü!“ sagte sie. „Der Chien — der befindet sich nit üwel! Der ist saïn et sauf!“
„Mais, Laurienne.“ Die Gouvernante, die im Bahnhofgetümmel zurückgeblieben war, flatterte wie eine Glucke heran und sah voll Entsetzen ihre Schutzbefohlene im Gespräch mit einem angehenden jungen Mann. Sie fasste sie am Arm. Sie schleppte sie mit sich fort. Sie begann atemlos: „Was hat denn diss zu beditte?“ Ihre weiteren Worte verloren sich im Wind. Der Ernst schaute verklärt dem kleinen Rotkopf unter dem grünen Mützchen nach. Die schwere Tatze des Wotan legte sich ihm auf die Schulter.
„Mir scheint, du hälscht es mehr mit dem Maidli da als mit dem Hund!“ sagte er strafend. „Schämsch di nit? Dafür bisch zu jung! Du brauchsch noch kein’ Schatz’! Los! ’s Zügli geht bald ab! Kumm mit nach Strassburg!“
Stockfinster stand die Nacht vor den Scheiben, als der Zug, sich der Festung näherte. Hoch über der unsichtbaren, wunderschönen Stadt glomm am schwarzen, sternenlosen Himmel ein einziger, rötlicher Punkt, und der Ernst dachte an den alten Strassburger Spass, dass da der höchstgestellte Beamte der Reichslande wohne: nämlich der Feuerwächter auf dem Münster. Den Dom selbst hatte die Herbstnacht verschluckt. Wie hatte der Vater vor ein paar Wochen gesagt? ,Guck dir das Strassburger Münster nur noch mal genau an! Vielleicht siehst du es bald gar nicht mehr!’ Der Papa war die ganze Zeit seitdem unruhig und erwartungsvoll, anders, als der Ernst ihn sonst in seinen verschiedenen Gestalten kannte: Gehetzt und zerstreut, die Uhr in der Hand, mit den Seinen am Frühstückstisch, gemütlich-grob mit den Patienten, kurz und barsch zu den Schwestern, in tiefem Ernst, nachdrücklich, langsam mit vielen lateinischen Worten sprechend, zu der Schar der ehrfurchtsvoll lauschenden Assistenten und Studiosen, und endlich, seiten einmal, fremdartig, fast unheimlich, in der Vermummung der Klinik, im langen, weissen, blutgesprenkelten Operationskittel, von einem durchdringenden Karbolgeruch und Ätherdunst umweht. Aber so ganz ohne Veranlassung nervös, wie am Nachmittag des nächsten Tages, gleich nach Tisch, hatte der Sekundaner seinen alten Herrn noch nicht gesehen. Es war noch lange nicht Zeit zur Sprechstunde. Trotzdem hob der Professor schnell den bebrillten Kopf, als es draussen klingelte, und brummte dann unwirsch: „Herrgott — Strohsack — ja!“, wie ’s Jülie, das Mädchen, den Kopf durch den Türspalt steckte und meldete:
„S’isch e Mann drausse mit’m kleinen Maidel! Das hat e Boukettche in’d Händ! Der Mann schwätzt so e Schwoweditsch üs d’r Pfalz! Er sait, er muess barduh zum Herr Professor!“
„Na herein mit der Landplag’!“ sagte der Gelehrte mit der Geduld des Arztes und seufzte gottergeben. Gleich darauf übersonnte ein väterliches Lächeln sein strenges, ironisches Gesicht. „Guck emal an: Das ist ja das Mamsellche, das neulich der böse Hund gebissen hat! . . . Und einen so schönen Strauss aus blauen und weissen Astern bringt’s mit — in den bayrischen Farben! Ha, Respekt: jetzt kannst du ja wieder ein Knickschen machen wie bei Hof! Setz’ dich, mein Töchterle!“
„Ich bin so frei!“ sprach die Walburg hübsch hochdeutsch mit ihrem feinen hellen Stimmchen und nahm Platz. Ihr Vater, der sonntäglich angezogene Werkmeister Lortz, blieb stehen. Der sonnengebräunte Pfälzer lachte dabei gutmütig.
„So unscheniert bin ich net, Herr Professor, dass ich Ihne Ihre koschtbare Zeit schtehl! Ich hab’ norr grad uff Strassburg gemusst, um e paar Armaturstücke zu hole! No hab’
ich mir gedenkt: Du nimmst die Walburg mit, damit die Krott sich noch emol schön bedankt!“
„Bist du denn wieder ganz beisammen, Kind?“ erkundigte sich der Ernst herablassend, mit der Würde des Gymnasiasten. Er hatte sich neben die Kleine gesetzt. Sie hob eifrig bejahend das zarte, blondbezopfte, mit einer blauen Schleife gezierte Köpfchen. Sie war für den Besuch in Strassburg niedlich von der Mutter herausgeputzt, blitzsauber abgeseift und glatt gestrählt, funkelnagelneu eingekleidet, mit roten Bäckchen und blanken blauen Augen wie eine eben frisch im Spielzeugladen gekaufte lebensgrosse Puppe.
„Mir fehlt nix mehr!“ sagte sie.
,,Aber eine Narbe hast du behalten?“
,,Sell schon!“ Sie klopfte mit der mageren Kinderhand auf die weisszwirnen bestrumpfte dünne Wade. „Aber das macht nix! Wir sind ja gehupft und gesprunge! So ein Pläsier haben wir g’habt!“
„Was hat euch denn so riesig gefreut?“
„Geld hawwe die in der Protzeburg zahle müsse!. . .ja . . . du liebi Zeit!“ Die kleine Pfälzerin vergass ihr mühsames Hochdeutsch. Sie schlug die Hände zusammen und hob mit offenem Mund andächtig die Augen zum Himmel. „Das Kleidche hier hab’ ich davon gemacht gekriegt mit Schuhche und e Hut — und Hemderche — e halbs Dutzend — und das Korallekettche um den Hals — is das net lieb? und ’s is noch arg viel Geld übrig gebliebe! Das liegt in der Sparkass’! Das g’hört mal für mei’ Hochzeit — sächt der Babbe!“
„Na — dann bist du ja jetzt eine gute Partie!“ Der Ernst lachte. „Vielleicht heiraten wir uns noch mal!“
„Ich lass’ mich alleweil wieder vom Hund vom Herrn Dietsch beisse, wann er mag! Der Babbe hat g’sächt: des hab’ ich gar net gewusst, dass so e Wädche so viel wert is!“
„Allons, Walburgche!“ Der Werkmeister nahm die Kleine bei der Hand. „Dem Herrn Professor is sei’ Zeit heilig! Do kummt ebe auch noch die Magd mit eme dicke Brief! . . . Also noch emol: Bleiwe Sie gesund und fröhlich! Sie auch — der junge Herr! Adje!“
Der Ernst geleitete Vater und Tochter auf den Vorplatz hinaus. Als er in das Zimmer zurückkam, stand da der Professor und schaute ihn, das geöffnete Amtsschreiben in der Hand, nach seiner Art über die Brille weg an.
„Jetzt ist es entschieden, Ernst!“ sagte er. „Meine Berufung auf den Lehrstuhl nach Giessen ist da!“
„Au! Fein!“ Der Bub machte einen Luftsprung. „Warum freut denn dich das so?“
„. . . weil’s was Neues ist!“
„. . . und hoffentlich was Gutes! Also: von jetzt ab gehst du in Giessen ins Gymnasium, und in vier Jahren machst du mir dort’s Abiturium und wirst ein Medizinmann wie dein Vater.“