Читать книгу Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend - Rudolf Stratz - Страница 5

II

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„Heil Kommilitonen!“ Die helle Jünglingsstimme gellte durch die dicke heisse Rauchluft, in dem die Deckenlampen nur noch undeutlich wie trübe, gelbe, mitternächtige Monde schwammen. „Gestern hat man uns zum letztenmal Primaner geschimpft! Gestern haben wir uns zum letztenmal die Stiebel auf der Südanlage schief gelaufen! Das Zwing-Uri, das dort ragt, das Gymnasium, liegt hinter uns! Das Leben ruft! Gewaltig rauscht der Flügelschlag der neuen Zeit um unsere Ohren! Prost den Ganzen, ihr jungen Männer und Muli!“

Ernst Wachsmuth schwenkte, hoch in schlanker Jünglingsgestalt vom Präsidentenstuhl aufgereckt, das schäumende Seidel gegen die Abschiedskommers-Tafel der Abiturienten. Er hatte den erhitzten dunklen Krauskopf zurückgeworfen. Ein stolzes Lächeln spielte ihm um die trotzig geschnittenen vom ersten Flaum seiner neunzehn Jahre beschatteten Lippen. Seine braunen Augen flatterten hitzig den Tisch entlang und fegten in verächtlichem Mitleid über die leeren Stühle.

„Ich sehe viele hier, die nicht mehr da sind! Unsere Herren Professoren haben sich sachte verkrümelt! Die Schlappiers unter uns Freigelassenen, die Spiesser, die Nachtwächter, die Schürzenkinder haben sich gedrückt! Aber du, du heiliges Dutzend, du Leuchte dieser langstieligen Schuljahre — du Klassenbund: die Räuberhöhle — ihr seid mir treu geblieben! Prost! Euer Hauptmann grüsst euch!“

„Hippt in die Heh’! wir lebe hoch!“ rief in gutem Frankfurterisch das hagere, dürftige Stutzerchen neben dem Redner und feixte ironisch über das pfiffige, junge Gesicht.

„Silentium, Philippche!“

„Ei — man wird doch noch redde därfe!“

„Aber würdige Dinge . . .“

„Gott — ich bin halt ’n blasierter Mensch . . .“

„Kommilitonen!“ Der Sprecher wandte sich feurig an das Rund der Räuberhöhle. „Wir wollen dem Leben in das Medusenantlitz schauen!“

„Hört! Hört!“

„Es war nicht jeder so schlau, Philippche, wie du und hat ’nen Frankfurter Bankier zum Vater! Wir andern müssen aus eigener Kraft das Leben zwingen! Hoch das Leben!“

„Hoch die Weiwer!“

Halt’s Maul, du gottloser Frankfurter! Es lebe die Jugend! Es lebe die Zukunft! Es lebe das Glück! Jungens: Das hat schon der alte Napoleon gesagt: Glück ist. ’ne Eigenschaft! Die wollen wir gründlich besitzen!“

„Feierabend, ihr Herren!“ mahnte zum drittenmal von der Tür her der Wirt. Der Ernst strich sich mit der Hand über die Augen. Er kam aus seinem Höhenrausch zu sich. Sein frisches, erhitztes Antlitz wurde sehr feierlich.

„So gehen wir denn ins Leben hinaus!“ sprach er laut durch das Rücken der Stühle, das Zahlen und Mäntelanziehen. „Wir treten hinaus in die Nacht. Sie steht da draussen dunkel vor uns wie die Zukunft. Aber am Himmel oben funkeln alle Sterne und weisen uns den Weg! Hände her, Jungens! Bisher haben wir geochst! Jetzt wollen wir die zwei grossen Dinge im Leben üben: Wir wollen kämpfen und küssen! Lebt wohl! Lebt wohl!“

„Und du, Philippche!“ Er schob seinen Arm unter den des Frankfurters. „Trott’ jetzt nicht so geschäftig nach deiner Bude, als gingst du schon auf die Börs’! Ich kann noch nicht heim! Ich bin zu erregt. Wir wollen noch einen Mondscheinbummel durch das Städtchen machen!“

Das Philippche warf einen geringschätzigen Blick auf die grauen Rathausbogen und das mittelalterliche Holzwerk der Hirschapotheke, an denen in nächtlicher Stille ihre Schritte widerhallten.

„Adje, Giessen! Mir ist mies vor dir!“ sprach er. „Das war schon ’ne Fastnachtsidee von meinem Baba, dass er mich für das letzte Jahr hierher aufs Gymnasium getan hat, damit ich nicht zu frühzeitig in Frankfurt auf der Zeil verdorbe werd’! Etsch! Ich bin grad verdorbe!“

„Ach, Philippche! Du tust ja nur so!“

„Aber vielleicht hat der Baba in seiner Ei’falt recht gehabt, und es wär’ mit mir in Frankfurt noch ärger geworde! Ich bin doch so e junger Lebemann . . .!“

„Ein junger Mann fürs Leben soll man sein!“

Ernst Wachsmuth bog im Sturmschritt mit dem Freund um die Ecke nach dem Neustädter Tor zu. Er hatte sich die Mütze von dem dunkeln Wirrkopf gerissen und liess sich die erhitzte Stirne vom Nachtwind kühlen.

„Ach, Philippche! Das Leben! Das Leben! Jetzt liegt’s vor einem! Man möcht’ es mit den Armen fassen! Man möcht’s an sich reissen! Endlich ist man frei.“

Ernst Wachsmuth stand, draussen vor der Stadt, mit dem Philippche auf der Brücke. Unten glitzerte im Mondschein das spärliche Wasser der Lahn. Er schaute tiefsinnig hinab.

„Ich will viel vom Leben!“ sprach er. „Sieh . . . hier sind wir fast auf freiem Feld — unter Gottes reinem Himmel . . .“

„Ich will jetzt heim! Mich schläfert’s!“

„Philister! . . und um uns die dunkle kühle Nacht — und in einem ein Gefühl . . . ein Vorgefühl . . . weisst du, Philippche . . . Wir haben ja alle noch nichts mit den Frauen erlebt — du auch nicht, wenn du dich auch als einen ruchlosen kleinen Frankfurter Weltstädter drapierst . . . Aber jetzt, wo wir erwachsen sind — jetzt entschleiert sich uns das Bild von Saïs — vielleicht bald! Da, sieh mal, da — da . . .!“

Aus dem weisslichen Geflimmer der Milchstrasse hoch oben schoss eine Sternschnuppe märchenhaft, in leuchtendem Bogen, blitzschnell über den ganzen Himmel und fuhr irgendwo, fern, ein Gast aus anderen Welten, auf die dunkle Erde nieder. Der Ernst folgte mit verzückten Augen dem Meteor.

„Das ist ein Zeichen von oben!“ sprach er andächtig. „Philippche — ich glaub’, ich werd’ bald etwas Grosses erleben! Ich ahne, wie die Frau gewaltig, sieghaft in mein Leben tritt! Schau’: da oben steht, heller als alles umher, die Venus . . .“

„. . . . und dort drüwe steht e Latern’ und weist mir den Weg in meine Wohnung! . . Ich fahr’ morge früh nach Frankfurt heim! Am Nachmittag ist Rennen in Niederrad! Da könnt’st du mich in meinem ganzen Glanz bewundere! Ich glaub’, ich werd’ ’n argen Sükzess haben! Die ganze Haute-Volée ist da! Alle meine Frankfurter Verwandten! Mei’ Schwester, das Dorettche, kommt naus! Und Bäsche, die Schweremeng’! E ganzer Geflügelhof!“

„Und ich darf daheim Familie simpeln!“ sprach der andere erbittert.

,,Stuss!“ Das Philippche lächelte nachlässig und überlegen. „Komm doch ei’fach mit mir n’über nach Frankfurt! Ob ich dich wirklich mitnehm’? Was e dumm’ Frag’! Du bist doch mein Freund! Lass du dich ruhig morgen nachmittag von denne Frankfurter Mäderche begucke! Du schaust gar nicht so üwel aus! Ich wollt’, ich täť so e Figur mache wie du!

Also morge sind wir Kavaliere!“ Das Philippche langte vor seiner Wohnung an der Johanniskirche den Hausschlüssel aus dem Hosensack. „Zieh dich nor nobel an! Wir müsse als junge Swells auftrete! Gib dir was recht Blasiertes — Verstehst? . . . Die Frankfurter sind abgebrühte Leuť . . . So was nachlässig Ungeniertes! So e kleiner Klubmann! . . . Mach’ mir’s nach . . .“

„Ich dank’ dir, Philippche!“

„Kei’ Ursach’! Sela! Streusand drauf! Das gibt e Hauptkiwick! Morgen früh um 10 komm’ ich an’s Selterstor und hoľ dich ab!“

Am andern Morgen um zehn Uhr lag Ernst Wachsmuth noch im tiefsten Schlaf, unbekümmert um das Wagengerassel der hessischen Marktbauern von der Seltersstrasse her durch das offene Fenster. Über das holperige Pflaster trollte sich eilig, in der vornübergebeugten Haltung des Sportsmanns, das Philippche heran, das flotte Hütchen im Genick, in ganz kurzem, hellem Turf-Paletötchen, mit umgehängtem Krimstecher, wie ein junger Stammgast von Epsom. Vor dem Haus des Professors Wachsmuth hielt ein Dorffuhrwerk, das ihn zu einem Patienten nach auswärts abholen sollte. Einen Augenblick sah das Philippche oben im Flur durch die halboffene Tür den grossen Kliniker selbst stehen, schon in Hut und Mantel, die Kaffeetasse noch in der einen Hand, in der andern einen Stoss Morgenpost, über die sein bärtiges, nervös durchgeistigtes Gesicht sich hastig und ungeduldig beugte. Der kleine Weltmann machte, dass er ungesehen auf dem Gang an dem Vater Wachsmuth vorbeiwitschte, und stiess die Tür zu der Primanerbude auf und beobachtete aus verkniffenem Auge den von Ernst Wachsmuth mit der Schere ausgeschnittenen schwarzen Silhouettenfries von olympischen Göttern und Tieren längs der Deckenkante, die auf die Blümchentapete gehefteten Ölstudien, den tongekneteten kleinen Löwen auf dem Nudelbrett, die mit Kohle und Kreide schraffierten Skizzenblätter, in genialer Unordnung zwischen Hemd und Hosen und Stiefeln. Dann klatschte der kleine Frankfurter ungeduldig in die Hände:

„Do leiht das Laster und schläft! Uff, du Schinnoos! Guck: Da steigt dein Vater eben unten in die Chaise und fährt davon! Jetzt kannst eschappiere, mei’ Sohn! Los! Die Eisebahn wartet nicht! Und die Peerd’ im Wäldche noch weniger!“

Auf dem Rennplatz im Frankfurter Stadtwäldchen draussen am linken Mainufer stand die Dorett’, die Schwester des Philippche, inmitten des buntscheckigen, musiküberschmetterten Ameisengewimmels, im Kreise ihres Clans, des Patriziats aus den Taunusanlagen und der Bockenheimer Landstrasse, und ihrer vielen Dutzend Basen und Freundinnen, kleinen Goldfischchen aus dem Main mit schwerer Mitgift wie sie, und ihrer noch zahlreicheren Verehrer in der Neuen Börse drüben und den grossen Handelskontoren an der Zeil und aus den Millionärs-Villen in Wiesbaden und den Kavalleriekasinos ringsum am Main und Neckar und Rhein.

Ein breitkrempig aufgeschlagener, mit bunten Kunstblumen ausgeputzter Strohhut umrahmte über seidendunklem Löckchengeringel das schwarzäugige hübsche Puppengesichtchen der Dorett’ mit dem kirschroten Kindermund und der kleinen neugierigen Stupsnase. Die Taille presste eng und lang, vorn spitz zulaufend, ihr zartes Persönchen in der Mitte wespengleich zusammen. Weitfaltig bauschte sich darunter in Bändergeflatter und Rüschengeraschel, mit dem Saum gerade den Boden streifend und die kleinen Schuhe halb verdeckend, der Glockenrock aus schleierdünnem, teurem Seidenmusselin. Unter ihrem weissen Spitzenschirm, in weissem Kleidchen auf grünem Rasen sah das Dorettche aus wie ein grosses Stück Zucker, um das massenhaft die bunten . . . und grauen Fliegen der Herrenwelt summten. Sie guckte ihnen allen seelenruhig, mit der Sicherheit der verwöhnten Erbin, ins Gesicht und schwatzte auf gut frankfurtisch, wie ihr der Schnabel gewachsen war, mit zweierlei Tuch und goldener Jugend und hob sich auf den Füsschen und winkte aufgeregt mit der kleinen Hand, als sie ihren Bruder, blasiert, mit den Hängeschultern eines britischen Pferdekenners, die Tribüne entlangtrotten sah.

Philippche! Komm e mal her! Sie zog den übernächtigen jungen Turfmann beiseite. „Jesses — wie schaust denn du aus, du zahmer Engländer! Ganz geel um die Nas’! Ihr mögt’s schön getriebe habe — heute nacht auf dem Kommers!“

„Das sind Männersache! Das ist nix für euch Kinner!“

„Geh da ehinner!“ Die Dorett führte den Bruder hastig bis an die Schranke der Rennbahn und wandte das schwarze Köpfchen, um sicher zu sein, dass niemand zuhörte, und sprach erhitzt auf das Philippche ein: „Also horch mal: Wenn du mein Bruder sein willst, dann darfst heut mit dem Charley kein Wörtche rede! Ich bin seit gestern bös’ mit’em!“

„Ach geh!“

„Aber arg! Gestern, beim Spazierereite im Wäldche, haben wir uns so wüst verzankt! Dem will ich’s zeige, dem Schlüffel!“ Das Frankfurter Patrizierkind schaute feindselig nach dem Sattelplatz hinüber. Dort stand, zwischen bunten Jockeijacken und farbigen Kavallerieuniformen gähnend ein glattrasierter schmächtiger junger Herr mit grossen Ohren und einer grossen Nase in dem sorgenvollen ältlichen Gesicht, eine Reihe von Klubwappen am Riemen des über die Schulter gehängten Opernglases, und drehte, die Hände in den Taschen des kurzen Sportpaletots, der Dorett’ herausfordernd den Rücken zu. Deren Augen funkelten.

„Jetzt tut er, als wär’ ich für ihn Luft! Aber wart’ nur, Alterle!“

„Loss ihn!“ sagte das Philippche nachlässig zur Schwester. „Ich hab’ e Nouveauté für dich auf Lager! Guck’ dir emol da drüben meinen Freund an!“

„Den Grossen, mit den dunkeln Augen und dem Krauskopf? — Du — das is mal e hübscher Mensch!“

„Gelt? E junger Maler aus München! Ich sag’dir: ’n Talent! Der hat ’ne grosse Zukunft!“

„Ach!“ Das Dorettche schaute gespannt hinüber. Sie schien etwas zu überlegen.

„Dabei aus stinkfeiner Familie! Der Vater ist Minister in München. Ein Baron Paur zu Rain! Kreuzzugsnoblesse!“

„Warum net gar!“

„Ich stell’ ihn dir vor! Ernst — geh bei! Das ist mei Schwester! Entschuldig’ mich! Ich seh’ da g’rad meinen Freund, den Grafen Rott!“

Das Philippche stürzte sich auf einen blutjungen, rotbäckigen Husaren, noch ein halbes Kind in Uniform. Er schlenderte lässig, warm ums Herz in Nachbarschaft eines blauen Attila und einer Grafenkrone, dem Sattelplatz zu. Ernst Wachsmuth stand vor dem schönen fremden Mädchen. Er schaute ihr verwirrt und aufgeregt in das Kindergesicht. Sie erwiderte unschuldig lächelnd den Blick. Ihre Augen glänzten. Sie frug:

„Das Philippche sagt, Sie täte male! Ist das wahr, oder redd’ er nur wieder so?“

„Doch! Doch, gnädiges Fräulein!“ Das frische Gesicht des Jungmanns rötete sich in fröhlichem Eifer. „Ich führe schon tüchtig den Pinsel!“

„Und er sagt, Sie hätten so arg viel Talent!“

„Ich hoffe es wenigstens einmal zu ’was zu bringen, gnädiges Fräulein!“

Ernst Wachsmuth sprach es mit klopfendem Herzen und holte beklommen Atem. Er hatte das Gefühl, dass er zum erstenmal in seinem Leben Eindruck auf eine Dame der Gesellschaft machte. Die Kleine sah ihn seelenvoll an.

„Ein Maler — das ist doch etwas anderes! . . . Sonst reden die jungen Herren als nur von den Pferden oder von der Börs’ . . .“

„. . . oder sie sagen Ihnen Schmeicheleien, gnädiges Fräulein!“ Ernst Wachsmuth suchte das recht lachend-leichthin und weltläufig zu bringen. Er stolperte aber doch ein bisschen über den kühnen Satz.

„Ach — das mag ich schon gar nit hören! So bin ich nit! Ich bin ein ernsthaft Mädche!“ Die Dorett’ schaute zutraulich zu ihrem Gegenüber empor. „Was male Sie denn? Landschaften?“

„Bäume, Tiere, Menschen, wie’s kommt!“ Der junge Mann lachte. „Vor mir ist nichts sicher, gnädiges Fräulein!“

„Auch Porträts?“

„Das ist gerade meine Stärke.“ Der Abiturient holte Atem. Es kam über ihn: „Wenn ich Sie einmal skizzieren dürfte, gnädiges Fräulein . . .“ Gleich darauf stand ihm das Herz still. Er erschrak hinterher. Er wusste auf einmal: ,Jetzt bin ich zu weit gegangen! Jetzt hat’s geschnappt!’ Aber das Dorettche sagte ganz harmlos, mit einem sanften Augenaufschlag:

„Ja — warum denn nit?“

Sporen klirrten, Säbel rasselten. Ein ganzer Trupp Kavalleristen kam vom Sattelplatz — Rennreiter und ihre Regimentskameraden aus nahen und fernen Garnisonen, silberverschnürte blaue Bockenheimer Husaren und Bonner Königshusaren, dunkle Hanauer Ulanen, russisch grüne Darmstädter und himmelblaue Mannheimer Dragoner, sogar der grüngesäumte weisse Kragen eines Deutzer Kürassiers. Junge Frankfurter Geldaristokraten in englischem Zivil pilgerten mit ihnen. Darunter auch der Sportsmann mit den grossen Ohren, den die Dorett’ vorhin Charley genannt hatte. Sein trockenes, faltiges Gesicht lächelte verächtlich. Er warf im Vorbeigehen einen raschen, feindseligen Blick auf Ernst Wachsmuth, und neben dem sagte gleichzeitig das Dorettche schnell und so laut, dass der drüben es hören musste:

„Also abgemacht: Sie male mich! Wir rede nachher noch drüber! Ich sag’s gleich dem Baba!“

Ein sehr kleiner, graubärtiger Herr kam humpelnd, aber eilig über den Rennplatz. Er hatte nichts zu tun, als Grüsse zu erwidern, und rief jedesmal laut, wenn er den Hut lüftete, den Namen des Geschäftsfreundes: „Herr Doll!“ — „Herr Medenwald“ — „Herr Pilgram“ in einem leicht singenden Ton. Vor den Damen hob er mit altmodischer Höflichkeit den Zylinder. Er dankte verbindlich den Offizieren, die regimenterweise die Hand an den Mützenrand hoben. Er schüttelte dem jungen Mann, den er im Gespräch mit seiner Tochter fand, die Hand, ohne erst die Vorstellung abzuwarten. „So, so — Sie malen! . . . Schön! . . . Schön! Das hör’ ich alleweil gern!“ und hinkte weiter, und das Philippche, das ihm gefolgt war, sagte zu Ernst:

„Mein Baba versteht was von der Kunst! . . . Die Galerie Gallina, das is doch e Frankforter Sehenswürdigkeit! Vielleicht hängt der Baba sich auch emal was von dir an die Wand. Den Baba — den halt’ dir warm! Aber jetzt läutet’s! Des gibt e brilljant Renne!“

Ernst Wachsmuth stand allein. Er schaute dem Bankier Johann Gallina nach, der drüben, abseits von den anderen Sterblichen, mit ein paar Fürstlichkeiten und Generalen zusammenstand. Er kümmerte sich nicht um das Flugbild des vorbeiflitzenden Pferderudels. Er starrte traumverloren vor sich in die blaue, sonnige, warme Weite, und in ihm stieg eine heisse Welle von Glücksgefühl empor, und er spähte umher, während draussen ein Mainzer Feldartillerist, mit der Trense wirbelnd, unter dem tosenden Geschrei der Tribünen, seinen Gaul um einen Kopf vor einem feuerroten Zietenhusaren durch das Ziel peitschte, und suchte nach dem Dorettche Gallina und fand es nicht unter der Menge, sondern nur den Herrn mit den grossen Ohren, der langsam, wie zufällig, dicht an ihm vorüberging und ihn eine Sekunde scharf, fast warnend oder drohend, fixierte.

Hinter der Tribüne, an einer einsamen Stelle, stand zugleich jetzt, nach Schluss des Rennens, erhitzt das Philippche und zappelte mit den Händen der Schwester beinahe in das niedliche, naiv erstaunte Frätzchen.

„Was ist das für e Manier? . . . Was soll denn des mit der Kokettiererei?“

„Von mir doch nit?“ frug das Dorettche mit der Unschuldsmiene eines aus den Wolken gepurzelten Engels.

„Du machst meinem Freund, dem Ernst, Aage . . . Jawohl, Aage machst du ihm!“

„Meenste, Philippche?“ Das Patrizierkind lachte pfiffig.

„Aage . . .e jedes wundert sich!“

„Des sin mei’ Sorje!“

„Der Charley schneidet vor Eifersucht e Gesicht, als dät er gleich verblatze!“

„Des soll er ja gerad! Des is ja e Einfall von mir — nit mit Geld ze bezahle!“

„. . . dass du meinen Freund an der Nas’ herumführst . . .“

„Bloss e bissi, Philippche!“

„Um den Charley eifersüchtig zu mache? Warum suchst du dir denn für den edle Zweck akkurat den Ernst aus?“

„Dei’ Barönche? ha — warum denn nit?“

„. . . weil junge Leuť aus Frankfurt, die sich für so was eigne, genug am Platz sind!“

„Ha — ich werd’ mich deswege doch nit mit eme Hiesige verkrache!“ sprach das Dorettche seelenvoll. „Mit einem muss ich’s doch probiere! Dein Freund is e Auswärtiger! E Maler! Der verschmerzt des in München bald.“

„Du hörst jetzt auf damit — verstanne?“

„Nit, bevor der Charley aus der Haut gefahre ist!“

„Und dabei hat sie e kindlich Silberstimmche, als könnť sie kei’ Wässerche trübe! Steig mir den Buckel nuff, du schlechť Mädche!“

Der Bruder lief erbittert nach vorn. Er sah da, mit bösem Gewissen, den Primaner Wachsmuth stehen — verträumt, in stiller Seligkeit, mitten in der fremden Menge. Er verkniff schuldbewusst seine spitzen Züge zu einem süsssauren Feixen und gab sich die Marke des heutigen Tages für die junge Kaufmannswelt, das Air des passionierten Sportsmanns.

„Des war e Renne, Ernst!“ rief er begeistert. „Hab’ ich’s nit den Herre Buchmachern prophezeit: Der Artillerist macht’s! Aber die wolle ja alles besser wisse!“

„Da hast du wohl viel gewonnen?“ frug Ernst Wachsmuth geistesabwesend. Das Philippche zuckte etwas kleinlaut die Schultern.

„Gott — eigentlich nit! Ich hab’ doch aus Freundschaft auf den Grafen Rott gesetzt und verlore! Der Artillerist hat halt das bessere Pferd geritte! Aus dem Stall vom Charley da drüben! Wer des is? Der mit den scheppe Ohre zwischen den Offiziere? Ha — der Karlche Badenius, vom Bankhaus Badenius am Rossmarkt. Wir nennen ihn als Charley, weil er drei Jahre Volontär bei Persing Brothers in der City in London gewesen ist. Von dort hat er sich den Hindernisstall mitgebracht! Lauter irische Hunter! Der Charley hat’s gut! Gott . . . da läuft mei’ schwesterliche Liebe . . . Du — hör’ mal!“

Aber das Dorettche kümmerte sich nicht um ihren Bruder. Sie liess ihn einfach stehen und schlenderte ostentativ mit Ernst Wachsmuth weiter, kameradschaftlich lachend und schwatzend, gerade an der feinen Welt auf den Tribünen vorbei, dass jeder sie beide zusammen sehen konnte — der Charley Badenius in der Klubloge vor allem!

„Gehen Sie denn jetzt wieder gleich nach München retour?“ frug sie vertraulich. Der Abiturient schüttelte beglückt den dunklen Krauskopf.

„Nein, gnädiges Fräulein! Jetzt sind ja noch Ferien!“

„Ich hab’ nur gedenkt, weil Ihr Vater in München Minister ist!“

„Mein Grossvater war es einmal Anno Tobak . . .“

„Ach so! Da hat sich das Philippche geirrt! Der hat gesagt, der Baron Paur . . .“

„Ja — das ist mein Grossvater, aber der sitzt längst beschaulich auf seinem Schloss Frauenmoos in Niederbayern.“

„Und da fahren Sie jetzt zu der Exzellenz hin?“ erkundigte sich die Dorett’ Gallina, doch in dem stillen Wunsch, den neuen Verehrer nach getaner Schuldigkeit recht bald weg zu wissen.

„Nein, gnädiges Fräulein! Da ist es mir zu langstielig! Bis es Zeit für die Kunstakademie in München wird, suche ich meine Tante heim — die Schwester meiner Mutter.“

„Wo lebt denn nachher die?“ forschte das Dorettchen etwas beklommen, in der Hoffnung, ihren Begleiter morgen über allen Bergen zu sehen. Es wurde ihr doch nicht recht wohl in ihrer Haut bei dem Spiel mit dem Feuer. Sie hatte so einen unheilverkündenden Blick des jungen Mannes mit den grossen Ohren von der Klubtribüne drüben aufgefangen . . .

„Meine Tante Drach?“ Ernst lachte unbefangen. „Wir nennen sie immer so. Es ist eine Baronin Drach von Wunnenstein. Die haust auf ihrer Burg in Württemberg, gerade überm Neckar!“

„Und da zieht Sie’s mehr hin?“ Die Dorett’ hob harmlos lächelnd ihre dunkeln Wimpern. „Da hat’s wohl in der Burg hübsche Mädchen?“

„Ach nein, gnädiges Fräulein! Es ist nur eine Tochter da — meine Kusine! Die hab’ ich vor zehn Jahren zuletzt gesehen — und da war es eine mickerige kleine Kröte! Aber malen kann man in Wunnenstein ganz anders als in den Filzen und Mooren in Niederbayern — Rebhügel und den Fluss und Wälder und malerische Nester . . .“ Ernst Wachsmuth blieb stehen. „Und wann maľ ich Sie, gnädiges Fräulein?“ stiess er verklärt hervor.

„Sie kriegen noch Post! Durch das Philippche!“ sagte die Kleine neben ihm hastig.

„Darf ich morgen vielleicht meine Aufwartung machen?“

„Nei’! Nor net! Fassen Sie sich als in Geduld! Auf Wiedersehen! Ich muss jetzt zu meine Eltern!“

Das Dorettche trippelte eilig, mit der Wespentaille wippend, in weiss wehendem, langem Glockenrock davon. Ernst Wachsmuth schaute ihr still beseligt nach. Er schwamm in einem silbernen Meer von Glück, über das golden die Abendsonne schien. Er seufzte aus übervollem Herzen, während er, nach Schluss der Rennen, in das Privat-Chaische stieg, das sich das Philippche für diesen Tag gemietet hatte. Der kleine Frankfurter Lebemann sass übellaunig darin und schwieg. Sie fuhren über die alte Mainbrücke. Feierlich ragten drüben im Dämmergrauen die Giebel und Firste Alt-Frankfurts — der Römerberg und das Rund der Paulskirche, der Dom und die Türme von St. Nikolai. Vor dem Rundbild der alten Reichsstadt öffnete sich Ernst Wachsmuths Herz.

„Du, Philippche! Ich kann nicht mehr an mich halten!“ begann er verzückt und leise, damit der Kutscher auf dem Bock nichts hörte. „Ich muss eine gleichgestimmte Seele für mein Glück haben! Ich bin so glücklich, so namenlos glücklich!

„Du hast Ursach’!“ sprach das Philippche verdriesslich.

„Erinnerst du dich, wie ich dir heute nacht sagte: ,Ich hab’ eine Ahnung, dass bald das Weib gewaltig, sieghaft in mein Leben tritt!’ Sie ist da, Philippche! Sie ist schon da!“

„Ja — fang du nur Maikäfer!“

„Dir, meinem Freund, muss ich es zuerst sagen! Denn es handelt sich ja um deine Schwester!“

„Muss er sich auch gleich in den Grasaff’ vergucke!“

„Und sie in mich!“ Der Primaner legte geheimnisvoll selig mit leuchtenden dunkeln Augen den Bartflaum an das Ohr des griesgrämigen Freundes. „Philippche — ich bin ihr nicht gleichgültig! . . . Beim ersten Blick hab’ ich auf sie gewirkt! Ich hab’s deutlich gemerkt!“

„Das hat jeder merke müsse!“

„Nicht wahr . . . ach — ich möchť ja springen und tanzen! Ich muss die ganze Welt umarmen . . .“

„ . . . weil es jeder hat merke solle . .“

„Wieso?“ Ernst Wachsmuth machte plötzlich grosse Augen.

„. . . weil du die Dorett’ net kennst!“ schrie das Philippche erbittert, ohne Rücksicht auf den Kutscher. „Das Oos hat dich ja nur geuzt!“

„Was?“

„Die hat dich zum besten gehabt, um den Charley zu ärgern! Mit dem hat sie’s doch schon die längsť Zeit! Den will sie doch heirate! Du bist doch keine Partie für so e Mädche!“

Der kleine Frankfurter zuckte verächtlich die Achseln.

„Deswegen hat sie mit dir schöngetan,“ sagte er, „und dann ist ihr die Supp’ zu heiss geworden, und sie ist weggeloffe . . .“

„Das . . . das ist nicht wahr . . .“

„Aber ich sag’ ihr morge meine Meinung! Der Gans solle die Ohre klinge!“

„Das . . . kann nicht sein!“

„Wann ich dir’s doch sag’! das nixnutzig’ Frauenzimmer hat halt ’en Strohmann gebraucht!“

„Aber warum denn mich — Gott im Himmel — gerade mich — den sie gar nicht kennt?“

„Ha — gerad’, weil du ein Ortsfremder bist! Da hat die Sach’ weiter keine Folge! Man lacht halt e bissche über dich, und ’s ist gut! Herrgott: jetzt fängt der grosse Mensch mitten in der Chais’ zu flenne an! Jetzt beruhig’ dich doch! Ernst! . . . Beruhig’ dich nor! Die Frankforter gucke ja her. Hilft nix! Er heult weiter! Komm! Wir steigen da an der Schönen Aussicht aus und laufen eine Streck’ zu Fuss! Dann wird dir schon besser, und nachher soupieren wir am End’ von der Zeil im Hotel und gehen nachher hintenhin spiele! No vergisst du den Aff, die Dorett’!“

„Die Weiber sind halt Weiber!“ plauderte zwei Stunden später zu Ende des Diners das Philippche mit dem sarkastischen Lächeln des Frauenkenners und warf sich blasieri in den Sessel zurück, blaue Havanna-Ringel paffend, den rechten Lackschuh wippend auf dem linken Knie. „Das langhaarig’ Volk wird net anders! Die derf e Weltmann nit tragisch nehme! Schäm’ dich, Ernst: du guckst als noch daher wie e Leich’ auf Urlaub!“

„Mir tut das Herz weh, Philippche!“

,,Das Herz is e Muskel wie jeder andere! Den muss man nor fleissig üben!“ belehrte der Freund.

„Philippche . . . Ich versteh’ die Welt nicht mehr!“

„Die Welt ist rund, und die Weiber sind kraus, und wir sind Männer!“ Philippche Gallina erhob sich. „Wir lassen jetzt die Gäns’ auf’m Kapitol und gehe zu den andern Männern jeuen! Die Anfangsgründ’ vom Bac hab’ ich dir ja erklärt!“

„Ja. Du hast recht: wir sind Männer!“ Ernst Wachsmuth stand finster auf.

„Unglück in der Liebe — Glück im Spiel! Hast du e bissche Kleingeld bei dir? Gut! Schlag dir bloss den Zwickel, die Dorett, aus’m Kopf! Das dumm’ Ding ist’s nit wert!“

„Nein! Wir sind Männer!“

„Ginge wir sonst jetzt e Jeuche mache — mit der Aristokratie? Da hinte hockt alles vol Adel! Man muss sich als fleissig zur vornehme Welt halte, Ernst. So: Da ist das Frankfurter Monte Carlo!“

Der Hintersaal des grossen Hotels flammte von bunten Uniformen, schwarzen Fräcken, weissen Hemdbrüsten. Es herrschte andachtsvolle Stille, obwohl die Jeuratten jetzt im Anfang noch solide um Silbergeld tempelten. Das Philippche begrüsste an dem einen Tisch seinen Freund, den pausbäckigen kleinen Husaren, und murmelte, auf Ernst Wachsmuth deutend, undeutlich ein paar Worte der Einführung. Die Herren verbeugten sich achtlos und flüchtig, in das Spiel vertieft. Der Bankhalter, ein Rittmeister, mischte und gab die Karten. Ernst Wachsmuth nahm seine beiden auf. Jetzt allmählich fühlte er eine Erleichterung seines Innern. Das Selbstgefühl kam wieder. Man war nun doch erwachsen. Mitten im Leben. Man sass statt auf der Schulbank am Spieltisch. Ein Mann zwischen Männern. Er fühlte sich leicht an der Schulter berührt. Er wandte den Kopf. Hinter ihm stand der junge Herr mit den grossen Ohren — der von heute nachmittag — und versetzte trocken und höflich:

„Mein Name ist Leutnant der Reserve Karl Badenius! Darf ich Sie für einen Moment beiseite bitten?“

Und dann, als sie zusammen in eine Ecke des Saales getreten waren, sehr kühl, sehr schneidig:

„Ich möchte Sie ersuchen, Ihre Aufmerksamkeiten gegenüber Fräulein Dorette Gallina einzustellen!“

Der Primaner warf erhitzt den dunkeln Kopf zurück.

„Ich würde mich den Kuckuck noch um dieses Fräulein kümmern . . .“ begann er schroff.

„Schön!“

„. . . aber von Ihnen lasse ich mir nichts kommandieren!“

„Na — na . . . bitte . . . Vorsicht, junger Mann!“

„Ich bin nicht Ihr junger Mann! Ich bin gerade so viel wie Sie . . .“

„Das steht nicht zur Diskussion!“

„Sie haben mir nicht vorzuschreiben, wie ich mich zu benehmen habe . . .“

„Ich muss es leider in diesem Fall tun!“

„Dann ist das eine Frechheit von Ihnen!“

Der andere sah ihn einen Augenblick aufmerksam an, dann machte er die knappe Andeutung einer Verbeugung, drehte sich kurz um und ging. Ernst Wachsmuth kehrte an. den Spieltisch zurück. Das Philippche zischelte ihm besorgt zu:

„Was hat denn der Charley von dir gewollt?“

,,Ach — nichts! Ich hab’ mir seine Aufdringlichkeiten verbeten! Da ist er ganz still weg! Ohne ein weiteres Wort!“

Der Abiturient sagte das leichthin. Er setzte sich befriedigt, noch nachträglich heissblütig lächelnd, wieder zu der Tempelrunde. Aber gleich darauf lagen, statt der Spielkarten, ein paar Visitenkarten auf einem Teller vor ihm — mit den Namen „Emil Seidenbusch“ und „Moritz Cahane.“ Der Kellner, der sie gebracht hatte, lispelte:

„Die Herren möchten Sie draussen sprechen.“

Ernst Wachsmuth sprang auf und ging hinaus. Auf dem Flur standen zwei junge Frankfurter Dandies vom Schlag des Philippche und verbeugten sich steif. Der eine versetzte förmlich:

„Wir haben Ihnen eine Forderung des Herrn Badenius zu überbringen, Herr Baron.“

„Baron?“ frug Ernst Wachsmuth verdutzt.

„Sie sind doch der Herr Baron Paur?“

„Nein. Das ist der Mädchenname meiner Mutter! Mein Vater ist der Universitätsprofessor Wachsmuth!“

Die beiden Kartellträger tauschten einen Blick. Der Wortführer sagte zu dem andern:

„Das ist doch wieder echt das Philippche: Jemanden unter falschem Namen einzuführen. Sie sind Kunstmaler in München, Herr Wachsmuth?“

„Nein — ich war noch nie in München!“

„Da hat also das Philippche wieder gelogen! Wo waren Sie denn bisher, wenn ich fragen darf?“

„In Giessen.“

„Bei einem Korps?“

„Nein!“

„Aber auf der Universität?“

„Nein. Auf dem Gymnasium.“

„Bis wann?“

„Bis gestern.“

Die beiden Herren sahen sich wieder an. Dann lachten sie auf einmal, und der erste sagte in gemütlichem Ton:

„Wir ziehen die Forderung unseres Mandanten zurück, Herr Wachsmuth! Sie sind noch nicht satisfaktionsreif!“

Die Herren Seidenbusch und Cahane gingen in den Spielsaal. Ernst Wachsmuth stand allein, vor den Kopf geschlagen, in dem Gang. Endlich folgte er den beiden. Er kam gerade zurecht, um auf der Schwelle zu hören, wie der erste Kartellträger zu dem Bankhalter sagte:

„Also, Herr Rittmeister: Wenn der Knabe wieder kommt, schicken Sie ihn schonend fort!“

„Na natürlich! Wir können doch nicht hier die Unmündigen auspowern!“

Der Primaner betrat den Bakkarat-Tempel nicht mehr. Er starrte lange im Flur vor sich hin, dann schlich er wie ein Verbrecher auf den Fussspitzen nach vorn. Er durchschritt den grossen Speisesaal, in dem an allen Tischen jetzt, am Abend des Renntags, die Frankfurter Geldaristokratie tafelte. Gerade am Mittelgang, wo Ernst Wachsmuth auf dem Weg zur Ausgangstür vorbei musste, sass der kleine graubärtige Bankier Johann Gallina. Ein Dutzend Herren und Damen um ihn, das Dorettche mitten darunter. Der Sportsmann mit den grossen Ohren, der Charley Badenius, stand hinter ihrem Stuhl. Es war, als ob er eben einen guten Witz erzählte. Denn alles lachte. Bloss die Dorett’ nicht. Sie hatte vor Ärger feuchte Augen und betrachtete erbittert erst ihren Bruder, das verkniffen unten am Tisch sich duckende Philippche, dann den Mulus Wachsmuth im Gang vor ihr und versetzte tränenschluckend und erbittert:

„Ach — lasst euch heimgeige, ihr zwei! Das kommt davon, wenn man sich mit Schulbube abgibt!“

Schulbuben . . . Ernst Wachsmuth stürzte davon. Er lief über die Strasse. Das Wort hallte ihm in den Ohren. Er rannte durch die Gassen nach dem Bahnhof, erreichte eben noch einen Abendzug nach Giessen. Das Städtchen dunkelte in der Mitternacht. Nur aus zwei Fenstern des Elternhauses fiel noch der Schein der Studierlampe seines Vaters. Er wankte in seine im Mondlicht dämmernde Primanerbude, warf sich schluchzend lang in den Kleidern auf das Bett, lag da, das Gesicht in den Kissen.

Dann erhellte sich plötzlich das Gemach vom Geflacker einer Kerze. Der Professor Wachsmuth hielt sie in der Hand. Er stellte sie bedächtig auf den Mitteltisch und trat vor das Bett des Sohnes.

„Bist du krank, Ernst?“ frug er. „Ich höre dich in der Nachtstille bis in mein Zimmer stöhnen!“

„Ich bin kein dummer Junge!“ Der Sohn sprang mit tränenfeuchten Wimpern vom Lager auf.

„Wer hat denn diese wissenschaftliche Behauptung aufgestellt?“ Der Professor schaute sachlich, über die Brille weg, auf seinen Sprössling. Der lief knirschend in dem kleinen Raum hin und her. Er ballte die Fäuste. Er stiess wieder hervor:

„Ich bin kein dummer Junge!“

„Und wer ist entgegengesetzter Meinung?“

,,Alle!“ Ernst Wachsmuth blieb wild lachend stehen. ,,Ach — die Menschen, Papa — die Menschen! . . . Die Weiber treiben mit mir ihr schnödes Spiel . . . und die Männer erklären mich hinterher für nicht satisfaktionsfähig . . . aber ich werd’ euch noch im Leben zeigen, wer ich bin!“

„Ja. Tu das nur!“ Der Vater setzte sich. „Wirf dich nur jetzt gleich mal tüchtig auf die Anfangsgründe der Medizin!“

„Das kann ich nicht!“

„Weshalb?“ Der Kliniker frug es mit seiner tiefen, immer etwas barschen, kurz angebundenen Stimme. Er hob den stillen, bärtigen Gelehrtenkopf, hinter dessen Brille immer ein strenger Ernst leuchtete, zu dem erregt vor ihm stehenden Jüngling empor.

Weil ich es da zu nichts bringe! Ich will nicht zeitlebens der Sohn des Professors Wachsmuth sein, sondern selber was!“

„Der berühmte Maler Wachsmuth?“

„Ja, Papa!“

Der Professor betrachtete mit Forscherruhe die durch die ganze Bude verstreuten Kunstwerke des Sohnes. Unter seinem wirren Bart erschien ein ganz ungewohntes, stilles, humoristisches Lächeln. Er schüttelte mit der Skepsis des Arztes das frühzeitig gefurchte und überarbeitete, immer etwas müde Haupt.

„Diese Götter und Tiere auf deinem Silhouettenfries da oben“, sagte er, „sind wissenschaftlich, was das Knochengerüst betrifft, unmöglich! Sie sind total verzeichnet!“

„Hast du schon je Kentauren gesehen, Papa?“ schrie der Sohn erbittert. „Und Satyrn? He? Na also! Ich denke sie mir eben so!“

„Dieser Löwe aus Lehm ist pathologisch! Er hat einen ausgesprochenen Wasserkopf!“

„Das macht die Mähne!“

„Diese Galerie deiner Mitmenschen — nimm es mir nicht übel — aber sie haben alle eine merkwürdige Familienähnlichkeit . . . sie schielen nämlich durch die Bank.“

„Köpfe sind auch am schwersten!“

„Das ist alles, mein Sohn, mit dem gleichen, sorglosen Wuppdich hingeschmiert!“

„Ich bin eben Autodidakt!“ sagte Ernst Wachsmuth trotzig und stolz.

„Ein Dilettant bist du, mein Junge, und würdest es zeitlebens bleiben!“

„. . . wenn man meine Kraft in sich spürt!“ Ernst Wachsmuth breitete begeistert die Arme aus und schaute zur Zimmerdecke. „Meine Zuversicht! Verzeih, Papa: Aber du hast doch von Kunst keinen blassen Schimmer! Kannst du es denn verantworten, ein Talent wie das meine elend zu unterdrücken?“

„Ich will dir einen Vorschlag machen!“ Auf den stillen Zügen des Gelehrten erschien, als der letzte Grund seines Wesens, eine verhaltene leise und weiche Güte. „Ehe du jetzt für die Ferien zur Tante Drach nach Württemberg gehst, fahre ich mit dir nach München. Durch die Verwandten der Mama haben wir da sofort Zutritt zu den grossen Tieren der Kunstakademie, den berühmtesten Malern und Professoren. Denen legst du deine Arbeiten vor! Der Sicherheit halber nicht nur einem, sondern zweien oder dreien! Die sollen dann entscheiden, was an dir ist! Einverstanden?“

„Hurra!“

„. . . und falls das Urteil ungünstig ausfallen sollte . . .“

„Pah!“ Der junge Mann lachte verächtlich.

„Versprichst du mir dann Medizinmann zu werden?“

„. . . meinetwegen Hühneraugenschneider!“ Ernst Wachsmuth umarmte stürmisch den Vater. „Ich danke dir tausendmal, Papa, dass du meinem Talent zum Sieg verholfen hast! Gott — wenn ich alles so genau wüsste, als dass die in München mich mit Kusshand behalten!“

Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend

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