Читать книгу Panik in Odessa - Rudolf Stratz - Страница 4

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Űber die südrussische Steppe brüllte der Regensturm. Sie lag baumlos, flach wie die Hand, in dunkler Nacht. Nur etwas wie unsichtbare, riesige Schlangen mit reihenweisen lichthellen Schuppen glitt alle paar Stunden eilig durch die Finsternis. Das waren die Eisenbahnzüge voll Truppen. Sie keuchten. Sie sprühten Funken. Sie schleppten in diesem Herbst 1877 immer neuen Nachschub für den grossen feurigen Ofen, für den Türkenkrieg auf dem Balkan und an der Donau. Generale und Soldaten, Pferde und Kanonen, Ärzte und Popen fuhren hier zwischen Kiew und Odessa dem fernen Land voll Blut und Wunden entgegen. So ging das schon seit vielen Monaten. Der Schnee des Schipkapasses, der Schützengrabenschlamm der Plewnakuppe frass die Heere des Zaren.

An einen der langen Transportzüge waren hinten ein paar Wagen für die wenigen Zivilreisenden angehängt. Der Wagen erster Klasse war gross und bequem. Stearinkerzen erhellten flackernd den breiten Seitengang, längs dessen sich die verschlossenen Türen der einzelnen Abteile reihten. Dazwischen glühte in einer Ausbuchtung der riesige eiserne Heizofen. Ein schnurrbärtiger, grünröckiger russischer Gendarm stand zwischen ihm und der Wand verborgen. Ein zweiter schlich lautlos auf den Spitzen seiner Schaftstiefel über den Gang heran und schob sich neben ihn in das heisse Versteck. Ein Flüstern durch das Rattern der Räder.

„Ist Goldhändchen wirklich im Zug?“

„Antoschka hat sie gesehen! Sie hat sich auf der letzten Station in der allgemeinen Unordnung hier in das leere Abteil am Ende des Wagens eingeschlichen. Dort sitzt sie wie eine Ratte im Dunklen!“

„Sie hat etwas im Wagen vor!“

„Sie wird gleich zum Vorschein kommen!“

„Diesmal kriegen wir hoffentlich endlich diese Feindin Gottes!“

„Still! Da ist sie!“

Die letzte Tür am Ende des Wagens öffnete sich ganz langsamm und vorsichtig. Der Kopf einer jungen Frau spähte durch den Spalt. Über dem scharf gebogenen Näschen musterten zwei unstäte, stechend schwarze Augen misstrauisch den leeren Gang.

„Goldhändchen kommt heraus!“

„Da steht sie!“

Kaum mittelgross. Schmächtig die Gestalt unter dem dunklen Mantel. Ein dunkles Kopftuch über dem schmalen, gelblichen jugendhübschen Gesicht. Zusammengepresst der kleine rote Mund, den die vorgeschobene Unterlippe etwas Lauerndes gab. Die Fremde ging vorsichtig mit einem geschmeidigen Gleiten in den Hüften längs den Türen hin. Blieb vor einer stehen. Sah sich noch einmal scheu nach vorn und hinten um. Die beiden Gendarmen hinter dem Ofen beobachteten die junge Jüdin. Ihr Gemurmel verklang im Rollen des Zuges.

„Wer ist in dem Abteil da drinnen?“

„Irgendein reicher Kaufmann. Er hat sich Bettzeug mit hineingebracht und schläft!“

„Jetzt klinkt sie leise auf . . .“

„Schiebt sich wie ein Schatten hinein!“

„Warte nur, Goldhändchen! Du wirst keine Reisenden mehr bestehlen und ermorden!“

„Zähle noch bis zwanzig, damit wir sie auf frischer Tat ertappen! Jetzt mit Gott!“

„Stoss die Tür auf!“

Ein Schreckensschrei innen. Das Abteil war hell. Auf dem breiten Polster lag ein graubärtiger Reisender in tiefem Schlaf, unter sich wie daheim im Bett ein weissleinenes Kopfkissen, über sich eine weisse Steppdecke. Er hatte aus Furcht vor Dieben seinen kostbaren Otterpelz nicht abgelegt. Aus dessen Kragenausschnitt am Hals, unter dem Patriarchenbart, riss in dem Augenblick, als die Gendarmen sie packten, die junge Frauensperson ihre magere kleine Hand. Sie wand sich wie ein Aal in den Fäusten der Gendarmen. Ein tiefer Bass lachte.

„Zappele nur, du Sünderin! Bald wirst du noch höher am Strick zappeln! Man schickt euch nicht mehr nach Sibirien! Wir haben Kriegsgelege! Verstärkten Schutz! Begreifst du, mein Seelchen?“

„Und schreie nicht! Du weckst die Reisenden!“

„Wie, schreie ich denn?“ Die junge Frau warf trotzig den schmalen Kopf ins Genick. Sie fuhr sich glättend mit der Hand über den glänzend schwarzen Mittelscheitel, von dem das Tuch gerutscht war, und über die hinten mit einer feuerroten Schleife aufgesteckten schwarzen Zöpfe und blickte den beiden Gendarmen herausfordernd ins Gesicht. „Belieben Sie, mir zu sagen, was ich verbrochen habe?“

„Was hast du hier in dem Abteil zu suchen, du Gottlose?“

„Ich bin aus Versehen hineingeraten! Zu spät sah ich, dass hier schon ein Herr schlief!“

„Er scheint schwer berauscht zu sein, dass er immer noch nicht aufwacht“, sagte der eine Gendarm.

„Bestehlen wolltest du ihn, wenn nicht Schlimmeres! Gestehe, du Unwürdige, dass du das Goldhändchen selber bist!“

„Wer ist Goldhändchen?“

Es klang dreist, mit einem unschuldsvollen Augenaufschlag. Der Gendarm schüttelte seinen Fang an den Schultern.

„Du willst Goldhändchen und ihre Leute nicht kennen, die ihr seit Jahr und Tag nachts die Reisenden in den Zügen beraubt und womöglich umbringt?“

„Nun — Gott mit ihnen!“ Ein Achselzucken. „Ich bin nicht euer Goldhändchen!“

„Wer willst du denn sein — he?“

„Diesen Vogel kenne ich doch!“ Ein bleicher, blondbärtiger Mann in mittleren Jahren trat ein — ein russischer Mensch aus dem Volk, wie man ihn zu Tausenden sah. Er trug die Schirmkappe und den umgedrehten Schafpelz der unteren Stände. Sein Gesicht mit der stumpfen breitflügeligen Nase und den fast wimperlosen blauen Augen war ausdruckslos schläfrig. Er warf eine ausgerauchte Papyros zu Boden und sagte mit einer auffallend weichen, schmeichelnden Stimme zu der Fremden:

„Tratst du nicht bis zum Herbst in dem jüdischen Possen theater im Garten des Adelsklubs in Odessa auf?“

„Ja, Euer Wohlgeboren! In der Lansheron-Strasse!“

„Heisst du nicht Haja Perlstein?“

„Hier mein Pass!“

„Antoschka, dieser Spitzbube, weiss doch alles!“ sprach der eine Gendarm zum andern mit einem Blick auf den bleichen, blondbärtigen Mann. Und dieser meinte, immer in seinem blommor Tonfall:

„Wie sollte die Geheimpolizei nicht klüger sein als andere! Dazu gab uns Gott unser Brot!“ Er wandte sich wieder der jungen, schwarzhaarigen Haja Perlstein zu, deren Kohlenaugen bei dem Namen der Ochrana, der gefürchteten Geheimpolizei, ihren dreisten Glanz verloren hatten. „Und was tust du hier im Zug?“

„Ich komme aus Balta, Euer Wohlgeboren! Ich suchte dort ein Engagement!“

„Das ist nur ein Vorwand für deine Verbrechen, mein Goldhändchen“, sagte Antoschka, der Agent der Geheimpolizei, gleichmütig. Die schwarze Haja fuhr verzweifelt auf. Sie spreizte die Finger. Sie hob die Schultern. Sie zischte wie eine in die Enge getriebene Katze.

„Und was habe ich verbrochen? Weckt doch diesen Herrn auf! Er ist ein grosser Herr! Er ist reich. Er wird bezeugen, dass ihm nichts von seiner Barschaft fehlt!“

„Weil wir rechtzeitig gekommen sind, meine Gesegnete!“ Der eine Gendarm bückte sich und fasste den schlummernden graubärtigen Reisenden an den Schultern. „Aber in der Tat: er hat jetzt genug geschlafen!“

„Belieben Sie zu erwachen, Herr!“ Der andere Gendarm rief es dem still Ruhenden in die Ohren. Der rührte sich nicht. Die beiden schauten sich an, rüttelten noch einmal. Der Körper da unten gab willenlos nach. Antoschka, der Geheimagent, beugte sich über das gelbliche Antlitz, aus dessen Haarwildnis eine mächtige Geiernase vorsprang, er schaute prüfend in die Augen unten, die nicht wie im Schlaf geschlossen, sondern gläsern starr und offen waren. Er richtete sich auf und sagte in seinem weichen, leisen Stimmklang:

„Aber wie denn? Er ist ja tot!“

„Tot?“ Die Gendarmen standen mit offenem Mund.

„Tot!“

Darauf war eine kurze Stille.

Haja Perlstein stedte ihre Hände zwischen die Zähne und biss sich krampfhaft auf die Finger, um nicht aufzuschreien. Ihr magerer Busen flog in ungläubigem Schrecken. Ihr geschmeidiges Körperchen zitterte vor Entsetzen über den Mord. Antoschka, der Geheimagent, mass sie mit einem mitleidigen Blick.

„Das wundert dich noch?“ sprach er. „Spiele du nur Komödie wie im Adelsgarten in Odessa! Deswegen wird man dich doch aufknüpfen!“

Die beiden Gendarmen hatten sich stumm bekreuzigt. Dann befühlte der eine die graubehaarte Faust des Toten, die sich in der Seidendecke eingekrallt hatte, und murmelte:

„Er ist noch warm!“

„Vor ganz kurzer Zeit hat ihn Gott abgerufen!“ Antoschka bückte sich und beschaute das starre Antlitz da unten, das einem grimmen Hohenpriester Israels aus dem Alten Testament glich. „Bemerkt das aufgedunsene Gesicht! Die vorgequollenen Augen! Eine Spur Blut, Brüder, am rechten Mundwinkel!“

Er schlug den grauen Bart mit der Hand nach oben, so dass der Hals des Toten freilag. „Da seht: Im Schlaf erdrosselt . . . ..“

Tiefe Würgemale zeichneten sich wie zwei talergrosse bläuliche Teller zu den beiden Seiten des Kehlkopfes ab. Der Agent der Ochrana legte sorgfältig wieder den Bart darüber und richtete sich auf.

„Er ist der erste nicht!“ versetzte er. „Was, Goldhändchen?“

Haja Perlstein stiess einen weinerlichen Schrei aus. Es klang wie das Wimmern einer geängstigten Katze. Der bleiche blondbärtige Antoschka fasste ihre bebende kleine magere Rechte, hob sie empor, betrachtete sie, liess sie wie einen wertlosen Lappen wieder fallen und schüttelte den Kopf.

„Mit diesen Fingerchen ist es nicht geschehen!“ Er wandte sich streng zu der jungen Jüdin. „Gestehe: Wer war der rotbärtige riesige Barfüssler, mit dem ich dich noch auf der vorigen Station im Wagen dritter Klasse da nebenan zusammensah?“

„Ein Freund von mir aus Odessa!“ stammelte Haja. „Ein Sackträger im Praktischen Hafen!“

„Wie heisst dieser Sohn des Teufels?“

„Morduch Izaaks, Euer Wohlgeboren! Aber auch er ist unschuldig wie ein Kind!“

„Wir wollen dieses Kind festnehmen, ehe es auf der nächsten Station aussteigt!“ sagte Antoschka. „Dich wird man vorläufig in dem leeren Abteil vorn im Wagen einsperren! Du . . .“, er wandte sich zu den beiden Gendarmen, „hältst drinnen bei ihr Wacht, damit sie nicht durch das Fenster klettert! Und du bleibst hier stehen und sorgst, dass niemand zu dem toten Kaufmann da drinnen eintritt!“

Antoschka, der Geheimagent, stiess die Aussentüre des dahinrollenden Wagens auf. Draussen war stockdunkle Sturmnacht. Schräg gepeitschte Regengüsse klatschten ihm ins Gesicht. Unter ihm donnerte der Bahnkörper, während er die lebensgefährliche Kletterei über die dröhnenden und schaukelnden Puffer zum nächsten Wagen unternahm, dort die Türe aufriss und sich hineinschwang.

In der verpesteten Stickluft von Ofenglut, Menschenbrodem, Leder- und Schafpelzbunst, Zwiebelgeruch, Zigarettenrauch winkte er zwei Gendarmen, die stumm, die Revolver über die Mäntel geschnallt, an der Wand des Seitengangs lehnten.

„Im dritten Abteil sitzt er? Gut! Macht auf! . . . . Steh auf, du Judassohn, wenn man mit dir spricht!“

Das Abteil war voll von allerlei Volk. Von der Holzbank erhob sich langsam ein hünenhafter Hebräer mit rotem Haarschopf und langem, wirrem rotem Bart. Es schien, als wollte er kein Ende nehmen. Er wuchs weit über den Geheimagenten und die Gendarmer hinaus. Es war, als sei Simson unter den Philistern wieder auferstandert, so riesig stand er da, breitbeinig auf knochigen blossen Füssen, die mächtigen Hände in dem Ledergurt, der den zerlumpten, aus einem alten Kohlensack gearbeiteten Kittel umschloss.

„Zeige deinen Pass! Wahrhaftig: Du hast einen!“ Der Agent Antoschka blätterte. „Du bist Morduch Izaaks, Obmann einer Genossenschaft hebräischer Kohlen- und Getreidesackträger im Hafen! Warum bist du nicht dort?“

„Ich sah mich hier für unsere Gemeinschaft nach Arbeit auf einer der Stationen um. Überall wird Weizen für den Krieg in der Türkei eingeladen!“

„Und bei dieser Gelegenheit hast du den reichen Kaufmann in der ersten Klasse ermordet?“

„Wie denn, Herr?“ Der rote Riese hob voll Staunen und Abscheu die hornigen Handteller gegen den Polizeiagenter.

„ . . . und bist dabei offenbar gestört worden! Denn du bist auf der letzten Station hierher zurüdgekehrt und hast Haja Perlstein beauftragt, das Werk zu vollendert und den Toten zu berauben! Oh, lüge nicht! Ich selbst habe euch beide hier im Gang beisammenstehen sehen!“

„Wie sollten wir nicht? Aber . . . .“

„Aber den Wagen hat dieser Hebräer nicht verlassen!“ sprach ein alter, schmutziger Dorfpope, der in einer Ecke des Abteils sass. Ein bärtiger Altgläubiger neben ihm ergänzte in tiefem Bass:

„Wenn er auch Christus gekreuzigt hat — der Wahrheit die Ehre!“

„So ist es!“ sagte ein schlitzäugiger tatarischer Stationskellner neben ihm. Zwei Kaukasier schüttelten heftig die hohen schwarzen Fellmützen auf ihren bräunlichen Köpfen als Zeichen: Nein. Der Hebräer stieg nicht aus!

„Ihr hört, Herr . . .“, sprach Morduch Izaaks fast drohend. Er hatte grobe, finstere Züge und einen unheimlichen Blick. Man konnte ihn jedes Verbrechen zutrauen. Der Agent Antoschka überschaute das Abteil: ein Pope, ein Altgläubiger, ein Tatar, zwei Georgier — was war auf das Gerede dieses Häufleins Armseliger zu geben? Wer von ihnen fürchtete sich nicht, wenn er sprach, vor der Rache des Riesen und seiner Spiessgesellen?

„Man wird eure Namen aufschreiben und euch als Zeugen vernehmen!“ sagte er verächtlich und dann barsch zu den Gendarmen: „Sowie der Zug jetzt hält, führt ihr diesen Menschen in den nächsten Militärwagen und bewacht ihn dort gut!“

Es war auf der Steppenstation das übliche nächtliche Getümmel von grauen Soldatenmänteln und gelben Schafpelzen der Bauern und bunten Kopftüchern der Weiber, die harte Eier und Wassermelonen feilhielten, und grünen Uniformen der Beamten — das alles in unstätem Schein von Handlaternen, in der grossen russischen Stille, in der die Menschen sich wie stumme Schatten bewegten.

Nur einer schrie durch Sturm und Regen vom finsteren Himmel, dass alles sich neugierig um ihn drängte. Vier Gendarmen hatten Mühe, den baumlangen Morduch Izaaks zu bändigen und ihn durch die Menge zu einem Wagen voll Kosakenpferden zu schleppen. Er schlug mit Bärenkraft um sich und zeterte dabei in seltsam hohen klagenden Fisteltönen. Er verfluchte auf hebräisch seine Bedränger und rief die Rache Jahves auf sie nieder, und um ihn grinsten die Uralkosaken und halfen deri Gendarmen, den strampelnden roten Riesen zu den struppigen Gäulchen in den Wagen hineinzustossen.

Einer von ihnen prallte dabei in dem Geraufe an einen Herrn vom langen, dünnen Wuchs der vornehmen Petersburger Welt, der, das Genfer rote Kreuz auf der weissen Armbinde und über dem Schirm der weissen Mütze, mit zwei dampfenden Teegläsern vom Stationsbüfett kan und Mühe hatte, nichts zu verschütten. Es war ein Mann zu Mitte Dreissig mit einem dunkeln Schnurrbart in dem länglichen, blassen Gesicht. Er ging suchend an dem Wagen erster Klasse entlang. Er frug den Oberkonduktor des Zugs:

„Belieben Sie: In diesem Wagen soll sich doch Seine Exzellenz General Schischko vom Stab des Feldintendanten für die Truppenversorgung befinden?“

„Ein General ist in diesem Wagen“, sagte der Oberschaffner, „samt einem Fräulein in Schwesterntracht. Der Herrin war der Zigarettenrauch im Offizierswagen zu beschwerlich. Deswegen stieg in Balta der General zu ihr in den Wagen für die Zivilreisenden. Da stehen sie ja beide im Wagengang am fenster!“

Hinter der herabgelassenen Scheibe hob sich in dunkelgrüner Uniform mit breiten Achselstücken und Fangschnüren die Gestalt des Generals Schischko ab. Er war ein Fünfziger, kurz und stämmig. Auf breiten Schultern sass ein ruhiger, russischer Kopf mit starken Backenknochen und stumpfer Nase. Sein kurzer Vollbart war leicht ergraut. Neben ihm lehnte seine Tochter, zart gewachsen, mittelgross, in weisser Schwesterntracht und Pflegerinnenhäubchen. Mit dem hellblonden Haar, den hellblauen Augen, der vom Nachtwind geröteten klaren Hautfarbe der Wangen glichen ihre weichen Züge mit dem kleinen herzförmigen Mund und der zierlichen Nase eher einem hübschen russischen Bauernmädchen als einer Weltdame von der Newa. Der junge Aristokrat unten lächelte ihr begeistert als alter Bekannter zu. Grüssen konnte er nicht. Denn er hielt in jeder Hand eines der Teegläser. Die bot er innen im Wagen dem General und seiner Tochter an.

„Ich beeilte mich, Sie zu bedienen!“ sagte er atemlos in schmeichelndem Französisch. „Der Tee wird Ihnen guttun in der kalten Nacht. Ich hörte, dass Sie im Zug seien. Ich wollte Sie schon vorhin aufsuchen. Aber ich fand Ihr Abteil nicht. Nun bin ich am Ziel meines Glücks!“

Die zarten Mädchenzüge ihm gegenüber gewannen unter der frommen Schwesterhaube bei dem Wort „Glück“ einen leicht ironischen Ausdruck. Fräulein Schischko nippte an dem heissen Tee. Über das Glas hinweg blickten ihre blauen Augen sehr kühl auf den eleganten Herrn und Helfer vom Roten Kreuz. Er faltete die Hände. Er flehte flüsternd:

„Nadeschda Basilewna — seien Sie nicht wieder aus Eis, wie das letztemal in Petersburg!“

„Warum haben Sie Petersburg verlassen? Dort gehören Sie hin!“

„Sie sehen es: ich diene nach meinen Kräften Russland!“ Der junge Fürst hob ergebungsvoll die schmalen Hängeschultern und liess sie wieder sinken. „Nicht mit der Waffe! Mein Brustumfang ist zu gering. Aber alle Duchowskoi haben gedient. Alle meine Vorfahren. Auch ich glühe für Russland. Auch ich möchte endlich nach dem Testament der Grossen Katharina das Christenkreuz auf der Sofienmoschee in Konstantinopel sehen. So mache ich mich wenigstens nach Gottes Willen hier im Hinterland des Krieges nützlich!“

„Es geht Ihnen wie mir, Fürst Duchowskoi!“ sprach der bärtige General Schischko. „Auch ich sehe keinen Türken und höre keine Kugel pfeifen, sondern schlage mich hier in Südrussland mit der Verpflegungsschwierigkeiten für die Balkanarmee herum!“

„Und so liess ich mich denn als Krankenpfleger zum Sechsten Militärbezirk beordern“, fuhr der Fürst aufgeregt fort. Nadeschda Schischko lächelte. Aber es lag nichts Ermutigendes in dem leisen Zucken ihrer Mundwinkel.

„ . . . weil auch ich als Schwester vom Roten Kreuz nach Odessa unterwegs bin“, sagte sie, während ihr Vater sich aus dem Fenster beugte, um seine ausgerauchte Papyros hinauszuwerfen. „Aber Ihre Bemühungen werden hier so vergeblich sein wie in Petersburg!“

„Warum denn nur, Nadeschda Basilewna?“

„Nun — weil ich Sie nicht mag!“ sagte das junge Mädchen einfach.

„Aber wie denn? Ich bin Fürst. Ich bin reich. Ich bin wahnsinnig in Sie verliebt!“

„Und doch werde ich mich nie entschliessen, Ihre siebte Rippe zu werden!“ Fräulein Nadeschda Schischko wandte sich mit einem leisen Achselzucken ab. „Nie — Fürst — nie!“

Peter Duchowskoi biss unter dem dunkeln Schnurrbart die blassen Lippen zusammen. Das war nur ein Augenblick. Dann lächelte sein langes, schmales, fast schwindsüchtiges Gesicht wieder glatt nach Petersburger Art. Er bot dem General Feuer für seine neue Zigarette. Er wechselte das Gespräch.

Hoffentlich haben Sie sich durch den unliebsamen Vorfall hier im Wagen nicht stören lassen, Exzellenz?“

„Welcher Vorfall?“

„Nun — man hat doch in einem Abteil dicht neben Ihnen einen Reisenden ermordet. Es war der allgemeine Unterhaltungsstoff rund um den Samowar am Bahnhofsbüfett. Dort steht ja noch der Gendarm vor der Türe des Tatorts!“

Die Stationsglocke läutete durchdringend dreimal. Die Lokomotiven heulten. Knirschend und stöhnend setzte sich die lange, lichterhelle Schlange des Militärzugs wieder in das Kellerschwarz der Regennacht hinaus in Bewegung. Der General Schischko schüttelte den Kopf.

„Man hat mir noch nichts gemeldet, obwohl ich meine Geheimpolizei im Zuge habe. Aber da haben Sie Russland, Fürst! Immer der alte Schlendrian. Nun — wir werden sehen!“ Er schritt wuchtig, fast schwerfällig dem von den Gendarmen bewachten Abteil zu. Dessen Tür öffnete sich von innen beim nahenden Klirren seiner Sporen. Ein bleicher, blondbärtiger Mann aus dem Volk in schmutzigem Kittel und Schmierstiefeln stand mit schläfrigem, ausdrucks losem Gesicht auf der Schwelle. Der General furchte streng die Stirne gegen den Geheimagenten.

„Willst du mich zum Kindergespött machen, Antoschka? In meiner Nähe werden Menschen ermordet. Ich aber sitze ahnungslos in meinem Abteil und raudhe . . .“

„Ich wollte Euer Exzellenz erst Meldung machen, wenn alles geklärt ist“, sprach Antoschka sanft und einschmeichelnd.

„Wir fingen mit Dank gegen Gott endlich diese langgesuchten Vögel: Goldhändchen selbst und ihren Gehilfen bei dem Mord, einen rothaarigen Hafenkerl! Wir nehmen fortwährend noch im Zug Verhaftungen vor. Wir haben nach Odessa telegraphiert. Alles ist bereit, um bei Einlaufen des Zuges dort wartende Berdächtige abzufassen!“

„Und wer ist der Ermordete?“

„Das ist Gott bekannt, Exzellenz! Nicht uns.“

„Wie das? Ihr müsst doch Papiere bei ihm gefunden haben?“

„Da sind keine Papiere!“ Der bleiche Antoschka wies auf den grünröckigen Bewaffneten, der innen in dem Abteil stand. „Der Oberzugsgendarm und ich haben diesen toten Herrn durchsucht. Er scheint vorgestern aus Petersburg abgereist zu sein — nach den Zeitungen, die wir in seinen Taschen fanden. Daher kenne ich ihn nicht, weil ich im russischen Südbezirk der Geheimpolizei tätig bin . . .“

„Und sein Pass? Seine Fahrtausweise? Seine Briefe?“

„Kein Pass! Nichts! Wir haben bei diesem Herrn aus Petersburg diese umgehängte Brusttasche hier, gestopft voll von Hundert- und Tausendrubelnoten, gefunden. Die goldene Uhr. Die Diamantenringe an den Fingern . . .“

„ . . . was ihr alles gestohlen hättet, wenn ich nicht eben noch zurechtgekommen wäre! Also die Wertsachen sind sämtlich vorhanden?“

„Vorhanden, Exzellenz!“

„Und alle Papiere fehlen?“

„Fehlen, Euer Exzellenz!“

„Ihr habt sie auch nicht bei den Verbrechern gefunden?“

„Diese Unwürdigen, Exzellenz, wollen nichts davon wissen. Offenbar haben sie die Papiere schon weggeworfen, um sich nicht durch den Besitz verdächtig zu machen!“

„Aber warum stehlen sie zuerst die Papiere und dann die Wertsachen?“

„ . . . weil ich eben eingriff, Euer Exzellenz, als sie sich auch der Wertsachen bemächtigen wollten“, sagte der Geheimagent Antoschka mit seiner weichen Stimme, „und Goldhändchen in dem Augenblick erwischte, in dem sie mit der Hand unter den Bart des Toten fuhr und nach dem Lederbeutel mit den Rubelnoten auf seiner Brust langte.“

„So? . . . hm . . . nun — lasse mich jetzt da hinein!“

In dem Abteil lag der tote Reisende aus Petersburg feierlich steif. Man hatte seine Lage nicht verändert. Die verglasten Augen starrten zur Decke. Gebieterisch, wie bei dem Moses des Michelangelo, sprang die mächtige Hakennase aus dem grauen Bartgewirr des gelblichen Gesichts. General Schischko betrachtete die Leiche. Lange. Er trat näher. Beugte sich über sie. Richtete sich auf. Sagte halblaut:

„Mein Gott! Das ist ja Ruben selber!“

„Wie denn? Avron Ruben?“ wiederholte der Fürst Duchowskoi, der neben ihm stand. Der Geheimagent Antoschka dahinter murmelte:

„Der grosse Ruben!“

„Er ist es. Ich erkenne ihn zu genau wieder. Ich habe ihn oft genug in Petersburg gesehen und gesprochen“, versetzte der General. Peter Duchowskoi trat auf den Fussspitzen in den Wagengang hinaus.

„Wissen Sie, was passiert ist?“ sagte er leise zu Nadeschda Schischko, die draussen stand. „Kennen Sie das allmächtige Kleeblatt Ruben, Wainstein und Channeles?“

„Die grossen Kriegslieferanten?“

„ . . . denen man zum grössten Teil die Versorgung der Balkanarmee übertragen hat.“

„Alle Welt flucht ihnen! Unsere armen Soldaten verhungern und erfrieren. Es fehlt an Verbandzeug und Medikamenten. Die Lazarette stehen auf dem Papier. Jeder weiss es in Petersburg. Was hat mein armer Vater unter den betrügerischen Lieferungen dieser drei Sünder zu leiden!“

„Aber gegen den Grossfürsten Igor, der sie schützt, ist nichts zu machen. Denn er hat die Oberaufsicht und füllt sich selbst mit Millionen von Rubeln die Tasche. Nun: Einen der drei Kriegslieferanten hat Gott gestraft. Goldhändchen und ihr Volk haben da nebenan Avrom Ruben, jedenfalls ohne ihn zu kennen, in das Jenseits befördert.“

„Siehe: der alte Ruben ist tot!“ sprach erfreut ein junger Herr zu Anfang der Dreissig hinter den beiden. Er war aus seinem Abteil am anderen Ende des Wagens gekommen, hatte gähnend den leeren kerzenhellen Gang gemustert und war ihn dann schnell entlanggeschritten, um zu sehen, was da vorne los sei. Jetzt blieb er stehen. Er hatte ein kluges, sehr lebhaftes, an allen Dingen interessiertes Gesicht mit rotblondem Schnurrbart und kurz geschnittenem rotblondem Haar. Er machte den Eindruck eines gewandten Petersburgers. Aber seine Haltung zeigte nichts von der russischen Lässigkeit, sondern war straff und seine Bewegungen rasch und entschieden.

„Eigentlich verdienen die Mörder den Annenorden“, sagte er herzlich. „Kann man die Leiche sehen?“

Antoschka, der Geheimagent, musterte ihn mürrisch.

„Belieben Sie: was für eine Leiche? Hier ist kein Jahrmarkt von Leichen. Einem grossen Herrn aus Petersburg ist da drinnen ein wenig übel geworden. Es geht ihm schon besser.“

„Sollte ich taub geworden sein?“ Der Fremde hatte einen kaltblütig humoristischen Zug um die Lippen. „Sie sagten doch eben zu dieser Dame . . .“

„Aber nicht zu Euer Wohlgeboren! Sie missverstanden mich. Belieben. Sie den Kranken drinnen nicht weiter zu stören!“

Der Unbekannte machte Miente, neugierig in das Abteil zu schauen. Antoschka stellte sich vor den Türspalt.

„Gehen Sie!“ bat er mit seinem öligen Stimmklang und betonte noch leiser und weicher das furchtbare Wort, bei dem jedem Untertan des Zaren eine Gänsehaut über den Rücken lief. „Sie haben es hier mit der Ochrana zu tun!“

„Das habe ich bereits bemerkt!“ sagte der junge Mann, ohne ein Zeichen des Schreckens. Er zog aus einer Tasche seiner verschnürten Morgenjacke ein Schriftstück mit dem aufgestempelten russischen Adler und hielt es dem andern vor die schläfrigen wasserblauen Augen. Seine Sprache wurde plötzlich rücksichtslos barsch und hart. „Kennst du das — he?“ herrschte er schneidend den zitternden Tschinownik an.

Das war der Ton von oben, von hoch oben, der Antoschka, dem Geheimagenten, vertraut war. So wagte niemand zu der Ochrana zu reden, der nicht das Recht dazu besass. Der Geheimagent entfaltete das Papier. Er las. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu scheuer Unterwürfigkeit. Er versetzte gedämpft, mit unter dem Blondbart zitternden Lippen:

„Befehlen Sie, Herr? Ich höre!“

„Wie doch Gott uns Menschen führt!“ sagte zugleich drinnen vor der Leiche General Schischko in seinem tiefen Bass zu dem Obergendarm. „Ich erwartete meine aus Moskau kommende Tochter in Balta. Ich stieg erst spät abends zu ihr in den Zug, als Herr Ruben bereits schlief. Wäre ich schon früher mitgefahren, so hätten wir uns vielleicht auf dem Gang getroffen, womöglich in seinem Abteil einen Teil der Nacht verplaudert. Die Mörder hätten an den Stimmen innen gehört, dass er nicht allein war, und für diese Nacht den Mut verloren. Nun: Gott wollte es anders!“

Der General trat schwerfällig auf die Schwelle des Abteils und stiess die Türe auf. Vor ihm stand draussen Antoschka. Der Geheimagent hielt das Papier noch in der Hand. Mit einem Augenwink nach den jungen Mann im Gang raunte er:

„Dies ist eine besondere Persönlichkeit, Exzellenz!“

„Auch ein Verdächtiger?“

„Im Gegenteil: dies ist Herr Paul von Minde. Beamter für besondere Aufträge im Zehnten Departement des Ministeriums des Innern in Petersburg!“

Im Zehnten Departement . . . In der Geheimen Staatspolizei, die nur bei besonders wichtigen Dingen in der Provinz eingriff. Dieser freundliche und weltläufige junge Mann war eine Macht. Das derb russisch geschnittene Antlitz des Generals Schischko wurde sonnig. Er ging auf den Kaiserlichen Kommissar zu.

„Gott führte Sie zu uns!“ sagte er aus tiefer Brust. „Es sind hier allerhand Missstände. Was nimmt dieser tote Sünder da drinnen allein schon an Schuld mit ins Grab! Wenn es nottut, verfügen Sie über mich! Darf ich um Ihren Vor- und Patersnamen bitten — Herr Minde?“

„Paul Gendrikowitsch!“ sagte der junge Mann. „Ja. Er klingt für russische Ohren schwierig. Aber mein Vater hiess nun einmal noch Heinrich, und ich bin aus rein deutschstämmigem Blut, wenn auch russischer Untertan.“

„Basil Basilowitsch!“ stellte sich mit einem Händedruck der General als echten Russen vor. „Wir sahen uns noch nie in Petersburg.“

„Ich bin erst seit ganz kurzem im Ministerium tätig. Man berief mich aus dem Generalgouvernement in Warschau, wo man mich bis dahin beschäftigte.“

„Dadurch erklärt sich das! Und nun führt Sie ein besonderer Auftrag nach dem Süden?“

„So ist es!“ sagte Paul von Minde. Weiter nichts.

„Nochmals: Da unser russischer Süden für Sie noch Neuland ist — ich stehe jederzeit mit meinem Rat und meinen Erfahrungen für Ihren geheimen Auftrag zu Diensten.“

„Oh — ich bin kein Fremdling hier auf der Schwarzen Erde zwischen Kiew und Odessa.“ Der junge Mann lächelte freimütig. Er hatte eine Gabe, den Menschen sehr rasch mit einer vertraulichen, wie selbstverständlichen Offenherzigkeit nahezukommen. „Ich besitze Verwandte in Odessa, die ich oft besuche.“

„Das ist selten. Es gibt im Gouvernement Cherson so wenig örtlichen Adel . . .“

„Aber um so mehr Kaufleute in Odessa!“ sagte Paul von Minde. „Kennen Sie dort die Firma Förster?“

„Den Weizenexporteur? Wie der nicht?“

„Madame Förster, seine Frau, war eine Schwester meines auch schon als Hohe Exzellenz in Tiflis verstorbenen Vaters. Daher meine nahen Beziehungen zu Odessa . . .“

„Die Ihnen in der sicherlich wichtigen Sendung, die Sie dorthin führt, von Nutzen sein werden!“

„Ich hoffe.“

Paul von Minde sprach es knapp und mehr nicht. Exzellenz Schischko begriff, dass dieser liebenswürdige junge Mann die Kunst des Schweigens, da wo es ihm nötig schien, beherrschte. Die beiden waren in das Abteil getreten und betrachteten noch einmal den toten Kriegslieferanten. Wieder bemerkte der General Schischko den grübelnd in sich gesammelten und forschenden Blick des Kommissars von dem unheimlichen Zehnten Departement des Ministeriums des Innern. Verborgene Gedankengänge schatteten hinter der Stirne dieses äusserlich freundliden und frischen Gesichts. Exzellenz Schischko hoffte immer noch, dass der junge Vertrauensmann Petersburgs reden würde. Aber Paul von Minde sagte nur, sich eine Papyros anzündend:

„Es wird im Osten über der Steppe hell. Der Tag ist nahe!“

„In wenigen Stunden sind wir in Odessa“, bestätigte General Schischko und gab den beiden Gendarmen einen Wink, das Abteil in Ordnung zu bringen und dann bis zur Ankunft an Ort und Stelle zu verschliessen.

Die beiden Grünröcke packten mit gefühllosen Fäusten den stillen Avrom Ruben. Jetzt war die Angst vor seiner Allmacht verschwunden. Jetzt war er nur noch ein schwerer, willenloser Körper, den sie, in seinen Pelz gehüllt, die Ottermütze auf dem Haupt, aufrecht in eine Ecke am Fenster hinsetzten, so dass von aussen jeder, an dem der Zug vorbeifuhr, sehen konnte: Es war nichts in diesem Wagen heute nacht geschehen. Nichts!

Die Türe war geschlossen. Avrom Ruben war allein. Starr und feierlich sass er da. Der Morgenschein umfloss sein grimmes, bleiches Moseshaupt. Er hatte die Augen geschlossen. Er sah nicht mehr gleichgültigen Blicks vorn im Zug die Soldaten, von denen bald viele, dank ihm, nicht mehr am Leben sein würden. Er hörte nicht mehr die Flüche der Krieger, die im Schnee des Balkans merkten, dass ihre Stiefelsohlen aus Pappe waren, nicht mehr das Stöhnen der Fiebernden, denen das Chinin nichts half, weil es aus Gipsstaub mit Bitterwurzelpulver bestand, nicht mehr die Hilferufe der Verwundeten, denen die aus Packpapier statt aus Leinen gefertigten Verbände den Blutstrom nicht stillten. Unbewegt, wie er im Leben gewesent, fuhr er Odessa und der Ewigkeit zu.

Vor dem Abteil standen noch Schischko und Minde. Der General schüttelte unruhig den Kopf.

„Sie sind scharfsinnig! Man sieht es Ihnen an!“ sagte er zu dem jungen Mann. „Bitte — belehren Sie mich: Wir haben als Täter eine Handvoll Gesindel. Einen liederlichen Lappen vom Sobranje-Varieté in Odessa, einen Barfüssler aus dem Hafen, vielleicht noch ein paar Sackträger, Hebräer, Tataren und derlei. Wie ist es möglich“, die stämmige, bärtige Exzellenz hob bedeutungsvoll den Zeigefinger, „dass diese Anwärter auf den Galgen und die Bergwerke nicht sofort nach den Rubeln griffen, die Ruben mit sich führte, sondern nach seinen Papieren?“

„Jedenfalls sind die Papiere weg!“ versetzte Paul von Minde und schwieg wieder.

„Aber wohin?“ General Schischko stiess aufgeregt einen Qualm Zigarettenrauch durch die breiten Nasenflügel. „Erbarmen Sie sich: Wohin?“

„Schliesslich wird der Oberpolizeimeister von Odessa die Verbrecher schon zum Reden bringen?“ Der junge Mann sah gleichgültig an der Exzellenz vorbei in die Weite hinaus.

Es war ganz heller Tag geworden. Regenüberströmt dehnte sich draussen die unermessliche Weizenebene Südrusslands, nicht weiss wie im Winter, nicht grün wie im Frühling, nicht gelb wie im Sommer, sondern jetzt im Herbst zu fast schwarzen, fetten Erdschollen umgeadert. Mächtige silbergraue Steppenrinder mit weiten Gabelhörnern zogen da und dort noch die vorsintflutlichen flachen Holzpflüge. In der Ferne rauchte der aus Deutschland bezogene Dampfdressass eines grossen Guts. Auf dem planlosen Geschlängel der Landwege rollten die Krummholzwägelchen deutscher Kolonisten mit Getreidesäden. Wie schwarze Vogelscheuchen standen schon mitten auf der Steppe in wehenden Kaftanen als Vorposten der Odessaer Getreidebörse die jüdischen Kommissionäre, um den russischen Bauern noch vor der Stadt ihren Weizen abzuschwatzen. Am sturmgrauen Horizont schwankten die Lanzen trabender Kosaken. Sie sollten den Steppenschacher hindern und kamen gegen eine Handvoll Kopeken immer zu spät.

Fräulein Nadeschda Schischko und der Fürst Peter Duchowskoi hatten die ganze Zeit zehn Schritte abseits von dem Todesabteil in den Wagengang gestanden. Der elegante, schmalbrüstige Petersburger mit der Rote-Kreuz-Binde am Arm sagte böse:

„Für eine Freiwillige Krankenschwester sind Sie recht weltlich, Nadeschda Basilewna!“

„Was habe ich verbrochen?“. Die junge Pflegerin hob harmlos ihr weiches rundes, von dem weissen Häubchen umrahmtes Antlig zu ihm empor.

„Ich beobachte Sie seit einer Viertelstunde. Fortwährend sahen Sie nach dem Abteil, in dem Ihr Vater und dieser Herr aus Petersburg standen!“

„Durch welchen Ukas ist das verboten, Fürst? Verzeihen Sie mir meine Unwissenheit!“

„Ihren Vater können Sie den ganzen Tag betrachten. Also galten Ihre Blicke dem andern!“

„Sind Sie eifersüchtig?“ frug die junge Pflegeschwestersanft.

„Können Sie das einem Verliebten übernehmen? Sie wissen, wie verliebt ich in Sie bin!“

„Trösten Sie sich, Fürst! Es wird vorübergehen!“

„Diese Blicke passen nicht zu Ihrer ehrwürdigen Tracht. Sie sind jetzt eine Dienerin unseres heiligen Russland in diesem Kreuzzug gegen die Ungläubigen. Warum wenden Sie kein Auge von diesem rothaarigen Windhund?“

„Er gefällt mir!“

„Was gefällt Ihnen an ihm?“

„Das weiss ich nicht!“ sagte Nadeschda. „Es ist ebenso. Derlei muss man eine Frau nicht fragen. Das ist Gottes Wille.“

„Und was das Schlimmste ist . . .“, murmelte Peter Duchowskoi, „auch er blidt fortwährend zu Ihnen hinüber!“

„Wirklich?“ Das junge Mädchen lachte. Sie sah frisch und unbefangen aus. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie reichte dem herantretenden Paul von Minde, den ihr Vater ihr vorstellte, gnädig die Hand zum Kuss. Er schaute ihr in seiner eindringlichen und freimütigen Art ins Gesicht. Er frug:

„Sie hielten die ganze Zeit tapfer hier aus? Sie fürchteten sich nicht?“

„Vor was?“

„Nun — vor dem toten Spitzbuben da drinnen! Der Anblick einer Leiche . . . .“

„Leichen sind mir nichts Neues“, sagte Nadeschda Schischko, „ich habe die ganze Zeit schon in Petersburg gepflegt.“

„Aber in Odessa hoffe ich in eines der Schlammbad-Sanatorien zu kommen!“ fuhr sie fort. „Es sind da doch die grossen Salzsümpfe ausserhalb der Stadt — die Limans. Man hat diese Institute für die Krone beschlagnahmt. Da möchte ich unsere armen Soldaten pflegen, die sich draussen in ihren papierdünnen Uniformen und ohne Mäntel und Fusstücher die Glieder erfroren. Fürchten diese Kriegslieferanten denn nicht Gott? Ist denn ein solches Verbrechen an dem russischen Volk möglich?“

„Wenn Ruben da drinnen noch reden könnte, würde er Ihnen antworten: ‚Ja — Herrin! Es ist möglich!‘ Aber vielleicht spricht der Gott seiner Väter jetzt eben schon ein ernstes Wort mit ihm!“ sagte Paul von Minde.

Der General war an ihm vorbei in tiefen Gedanken nach seinem Abteil geschritten. Fürst Duchowskoi folgte ihm mit einem finsteren Blick auf den Nebenbuhler, der mit Nadeshda im Gang zurüdckblieb, und setzte sich neben Exzellenz Schischko. Eine Weile musterte er missmutig die vorübergleitenden Telegraphenstangen, das Krähengeflatter, den Regen. Dann hub er nervös an:

„Beachten Sie bitte die beiden da draussen! Ein Herz und eine Seele!“

Exzellenz Schischko schaute vor sich hin und rauchte. Es war, als ob er gar nicht hörte.

„Wenn das Zehnte Departement keinen zuverlässigeren Beamten zu schicken hatte als diesen Vogel . . . .“, fuhr Peter Duchowskoi gereizt fort. „Einen geheimen Auftrag soll er haben und steht statt dessen und macht einer jungen Dame die Cour!“

„Wie denn? Was beliebten Sie zu sagen?“ Der General schraf aus seinem Grübeln auf und schaute geistesabwesend um sich.

Nie sah ich Nadeschda Basilewna so heiter und belebt wie jetzt in diesem Gespräch drüben! Ihre Augen glänzen . . .“

„Man kommt darüber nicht hinweg!“ sprach Exzellenz Schischko tiefsinnig. „Warum raubten die Verbrecher zuerst statt des baren Gelds die Papiere dieses Kriegslieferanten?“

„Sie hören nicht, was ich sagte . . .“ Fürst Duchowskoi mass mit einem stechenden Blick das Paar draussen. „Da lacht man und plaudert, als habe man schon ein Pub Salz zusammen gegessen!“

„Geheimpapiere sicherlich!“ murmelte der General. „Das weiss jeder, der Ruben kannte . . .“ Er sammelte sich. „Wie? Sie sprachen von Nadeschda . . .“

„Dazu trägt sie das Schwesternkleid“, sprach Peter Duchowskoi bitter. Die Hand, in der er einen Krankenrapport des Roten Kreuzes hielt, zitterte vor Eifersucht. „Dazu ist Krieg. Dazu fliesst das Blut in Strömen für den Glauben von Byzanz, dass zwei Täubchen sich hier schnäbeln! Oder wenigstens sich so ansehen, als ob sie am liebsten gleich nach einer Viertelstunde Bekanntschaft sich küssen möchten!“

„Wohin, glauben Sie, könnten diese Papiere hingeraten sein?“ murmelte der General Schischko.

„Sie sind zerstreut, Exzellenz!“

„Vielleicht haben diese Leute sie wirklich zerrissen! Das Volk kann ja nicht lesen und schreiben. Was versteht es davon! Es wird so sein, wie Antoschka meint.“ Der General wurde lebhaft. Er erhob sich, um sein Gepäck zu ordnen. Er wies in die Ferne, wo der Rauch vieler Lokomotiven qualmte. „Da halten schon die Truppenzüge. Die Einfahrt in die Station ist wie gewöhnlich verstopft. Aber bald sind wir in Odessa!“

Fürst Duchowskoi war sitzengeblieben. Er starrte immer noch verbissen hinaus auf den Gang.

„Wegen diesen beiden könnte der Zug noch vierundzwanzig Stunden fahren. Sie würden es gar nicht merken“, sagte er. „Bisher, Exzellenz, hatte ich Hoffnung. Das Herz Ihrer Tochter war frei. Aber jetzt . . . .“

„Ich muss gleich mit dem Oberpolizeimeister sprechen . . .“, brummte Exzellenz Schischko vor sich in den Bart.

„Wollen Sie denn nicht hier einschreiten, Exzellenz?“

„Ich habe weiss Gott jetzt anderes im Kopf!“ sagte der General und schaute ungeduldig nach den Geleisen rechts und links. Auf ihnen standen die endlosen Truppentransporte des Zaren, Geschütze starrten von offenen Plattformen. Pferdeköpfe lugten aus Luken, Soldaten in grünen Uniformen und grauen Mänteln hockten haufenweise auf dem gelben Stroh im Dämmern der Güterwagen — Schützen und Grenadiere, Dragoner und Kosaken —, und es war, als sei das, hundertfach abgestempelt, immer der gleiche stumpfnasige Kopf mit starken Backenknochen und aufgeworfenen Lippert, derselbe Mensch und Muschik, aus Russlands Erde geformt. Aus diesen Militärzügen schollen keine trotzigen Kriegslieder. Es war so still, dass man das eintönige Rauschen des Regens hörte. Auf allen den Bauerngesichtern der Balkankämpfer lag die gleiche dumpfe Ergebung: Es ist so befohlen! Also gut!

Exzellenz Schischko beugte das bärtige Haupt aus dem Fenster. Er klatschte in die Hände und schrie den nächsten vorbeibummelnden Beamten an.

„Vorwärts! Seht ihr nicht, dass ein General im Zug ist?“

Ein Durcheinandergeschrei auf dem Bahnhof. Irgendwie wurde Platz gemacht. Der Zug schob sich in die kleine schmutzige Halle. In dem Kriegsgetümmel, das sie füllte, standen längs den Wagen reihenweise riesige Gendarmen. Sie packten mit unsanften Fäusten die wild schluchzende Haja Perlstein und den in gellen Fisteltönen zeternden rotbärtigen Riesen, den Sackträger Morduch Izaaks, und noch ein halbes Dutzend im Zug festgenommener Menschen ohne Pass, Barfüssler, Zigeuner, und schleppten sie durch das Gewühl. In ihm stand der Ältere Gehilfe des Stadtpräfekten und Oberpolizeimeisters von Odessa selber mit seinem Stab. Er war ein hochgewachsener Graukopf mit grauem Schnurrbart. Die Augen lagen finster und dunkel in dem verwitterten Gesicht. Es wirkte beinahe unheimlich, als er über dessen Runzeln hin lachte und dem General die Hand schüttelnd sagte:

„Es wartet hier schon allerhand Gesindel auf sein Goldhändchen! Wir haben verhaftet, was uns in den Weg kam!“

Auf dem Bretterboden vor dem Zug standen Paul von Minde und Nadeschda. Sie zögerten noch, voneinander Abschied zu nehmen. Sie blickten sich stumm und förmlich verlegen in die Augen. Dann schaute Fräulein Nadeschda Schischko durch die Bahnhofshalle in das Freie. Ihre Stirne verdüsterte sich.

„Sehen Sie diese grosse, schlanke junge Dame, die da draussen aus ihrem eigenen Phaeton steigt? Nein: Sie springt geradezu heraus. Sie rennt nach dem Bahnhof hin.“

„Ja. Sie hat sich verspätet“, sagte Paul von Minde.

„Sie bleibt stehen und winkt Ihnen mit der Hand!“

„Sie möchte uns nicht hier gleich stören!“

„Sie kennen sie?“

„Wie sollte ich meine leibliche Base nicht kennen? Ich sagte es schon Ihrem Vater: der alte Andreas Förster hier, Ehrenbürger und Kaufmann Erster Gilde, hatte eine Schwester meines Vaters zur Frau, und die Margarete drüben ist seine Tochter.“

Es war ein kurzes Schweigen. Dann sagte Nadeschda:

„Sie ist sehr hübsch!“

„Das hat noch niemand bezweifelt.“

„Hübsch in deutscher Art. Dies Bestimmte! Uns ist diese Entschiedenheit nicht gegeben.“

„Sie ist auch rein deutschen Geblüts — ebenso wie ich!“

„Ihr kennt euch wohl schon lange?“

„Von Kindesbeinen an. Sie ist fünf Jahre jünger als ich. Mitte Zwanzig.“

„Nun — dann lassen Sie sie nicht warten!“ sagte Nadeschda Schischko. „Vielleicht sehen wir uns einmal in Odessa! Bleiben Sie hier?“

„Ich weiss nicht, wohin mein Auftrag mich noch führt. Aber ich werde Sie zu finden wissen, Nadeschda Basilewna!“

„Nun dann mit Gott!“

„Mit Gott!“

Panik in Odessa

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