Читать книгу Religion ist nicht für Dumme - aber für Mutige - Rudolf Vögele - Страница 8
Religion ist …
ОглавлениеWenn ich ein Buch mit so einem provozierenden Titel schreibe und behaupte, dass Menschen, die sich selbst als ‹religiös› verstehen und – aufgrund ihres Amtes oder ihres Auftretens – auch so gesehen werden, dem Wert von Religion jedoch mehr schaden als nutzen, muss ich erst einmal erklären, was ich eigentlich unter Religion verstehe! Denn bekanntlich gibt es keine allgemein anerkannte Definition davon, sondern nur verschiedene Versuche, den Begriff zu definieren. Um also miteinander ins Gespräch zu kommen, sollte zunächst klar sein, wovon wir überhaupt sprechen, wenn wir über «Religion» diskutieren.
Und um es vorwegzunehmen: nach meiner Definition halte ich viel weniger ‹atheistische› Menschen für ‹areligiös› als vermutlich diese sich selbst. Und umgekehrt sind nach meinem Religionsverständnis viele ‹Tiefgläubige› gar nicht so religiös, wie sie sich immer geben. Scherzhaft sage ich oft: die Tiefgläubigen sind oft so tief in ihrem Glauben versunken, dass sie die Welt um sich herum gar nicht mehr wahrnehmen. Manchmal hilft nur der Humor, schreckliche Situationen zu beschreiben…
Entgegen den Bedenken, dass es eine allgemeine Definition von Religion gar nicht gibt, machen wir es doch mal wie Lehrer Bömmel in dem Filmklassiker Die Feuerzangenbowle. Jede seiner Unterrichtseinheit begann mit: „Da stelle ma uns mal janz dumm…“ Wenn man heute von gar nichts eine Ahnung hat, dann fragt man ja bekanntlich erst einmal Siri oder Google. Dort bekommt man schnell die Antwort: «Religion ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Weltanschauungen, deren Grundlage der jeweilige Glaube an bestimmte transzendente (überirdische, übernatürliche, übersinnliche) Kräfte ist, sowie häufig auch an heilige Objekte.» Wer mit dieser Antwort dann noch nicht zufrieden ist, kann dort noch lange weiter recherchieren und erfährt eine Flut an Informationen. Die Frage ist nur, ob der- oder diejenige dann auch an der für mich entscheidenden Passage hängenbleibt, wo erklärt wird, woher der Begriff Religion überhaupt kommt: entweder von dem lateinischen Verb relegere oder religare.
Das eine (relegere) setzt sich ja zusammen aus re und legere. Legere kann man übersetzen mit lesen, sammeln, auswählen usw. und mit dem Partikel re könnte man dann sagen: relegere bedeutet wieder (und wieder) lesen, sammeln, auswählen. Der gute alte Cicero (106 - 43 v.Chr.), den nicht nur Lateinschüler kennen, interpretierte Religion demnach als sorgfältig bedenken. In seiner Schrift «Über das Wesen der Götter» folgert er daraus, dass Religion das rechte Verhalten gegenüber den Göttern sei bzw. die fromme Verehrung der Götter bedeute. Für weniger gottergebene Mitmenschen, die sich eher dem Humanismus oder dem Atheismus zurechnen, ist dies sicher eine kaum akzeptable Interpretation. Denn sorgfältig bedenken kann auch zur Folge haben, dass ich nach gewissenhaftem Abwägen mit gutem Gewissen zu einer anderen Entscheidung gelange als einen Gott oder etwas Transzendentes fromm zu verehren oder religiöse Handlungen zu praktizieren. Allein vom Wortbegriff her wäre deshalb schon jeder Mensch ‹religiös›, der stets auf der Suche ist, liest, auswählt und gewissenhaft abwägt – also sehr weit und sehr vereinnahmend gefasst.
Die Bedeutung Religion als Kult, Gottesverehrung usw. hat sich erst im christlichen Kontext im 3. Jahrhundert n.Chr. verfestigt. Denn da kommt nochmal eine andere Deutung von Religion ins Spiel: Der recht bekannte Kirchenvater Augustinus (354 - 430 n.Chr.) hatte von einem anderen Theologen seiner Zeit (Lactantius - † um 320) gelesen, dass dieses Wort auch von religare stammen könnte – und das übersetzt bedeutet binden. Ein religiöser Mensch bindet sich – für Augustinus natürlich an den einen und wahren Gott, den nur das Christentum kennt und verkündet. Auch bei dieser Interpretation kann man gleich einhaken und sagen: Im ‹Kleinen Stowasser› [dem Klassiker der lateinisch-deutschen Wörterbücher] steht für das Verb religare aber nicht nur binden, sondern auch an- bzw. einspannen! Gedacht ist dabei an das An- bzw. Einspannen von Tieren. Und deshalb wehren sich meines Erachtens mir Recht heute viele Menschen dagegen, sich als ‹religiös› zu bezeichnen, weil sie einerseits sich keinesfalls an irgendeine religiöse Institution binden und andererseits schon gar nicht an- oder einspannen lassen wollen. Denn das würde ja wiederum erschweren, selbst weiterhin Suchende, Auswählende und gewissenhaft Entscheidende zu bleiben – also ‹religiös› in dem Sinn, wie es das Verb relegere nahelegt.
Auch wenn noch näher definiert werden muss, was die eigentliche Aufgabe und Funktion von Religion ist bzw. sein sollte, möchte ich hier schon einmal betonen: für mich binden sich ‹religiöse› Menschen nicht für ein- und allemal und ohne jegliche Zweifel und Skrupel an eine Religion oder Institution. Denn ‹religiös› nur denen zuzuschreiben, die blind gehorsam oder auch radikal-fundamentalistisch ihren Glauben leben, wäre einfach nur falsch. Nach dem ersten großen Denker des Christentums, dem Apostel Paulus, sind diese nämlich gar nicht religiös. Deren ‹Glaube› widerspricht der christlichen Grundhaltung, die er im Galaterbrief (Kapitel 5, Vers 1) sehr prägnant beschreibt: «Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen!»
In die gleiche Richtung formulierte es auch der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti (1895-1986), wenn er sagte:
«Die organsierte Religion ist der gefrorene Gedanken des Menschen, aus dem heraus er Tempel und Kirchen baut; sie ist zu einem Trost für die Ängstlichen, einem Opiat für die Trauernden geworden. Aber Gott oder die Wahrheit ist weit jenseits von Gedanken und emotionalen Anforderungen.»
Ein Mensch wird für mich also dann erst ‹religiös›, wenn er nach sorgfältigem Studieren und Abwägen zur Erkenntnis gelangt, dass er in dieser oder jener Weltanschauung [s]einen Sinn findet, dass er sich gerne und freiwillig an dieses oder jenes ethische oder moralische Konstrukt bindet – und sei es auch nur phasenweise. Religiös wird diese Weltanschauung dadurch, dass sie nicht rein innerweltlich, d.h. immanent diesen Planeten Erde betrachtet, sondern aus der Sicht Gottes, was auch immer man unter ‹Gott› verstehen mag. Religiöse Menschen erkennen an, dass es einen Wertekodex und eine Ethik gibt, die weit über unserem begrenzten Horizont, sowohl räumlich als auch zeitlich, hinausreichen. Sie sind bereit, ihre endliche Erfahrungswelt auf einen ‹jenseitigen›, transzendenten Grund hin zu überschreiten und von dieser Sicht aus ihre ‹Weltanschauung›, ihr Menschenbild und ihr soziales Verhalten bestimmen zu lassen.
‹Religiosität› hat für mich also viel damit zu tun, dass ich einen Standpunkt, einen Halt gefunden habe, aus dem heraus ich mich mit anderen auseinandersetze. Mit ‹studieren› meine ich aber nicht gleich ein Hochschulstudium in Theologie, sondern viel einfacher: ein ständiges Suchen nach dem Sinn des Lebens, nach Werten, nach dem, was diese Welt im Innersten zusammenhält, wie es Goethes Faust so treffend formuliert hat. Und: die Bereitschaft, darüber auch ständig mit anderen im Dialog oder auch im Disput zu bleiben, wie es der Autor des 1. Petrusbriefes postuliert: «Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt» (3, 15).
Meine ganz persönliche Grunddevise für einen ‹gläubigen› oder auch religiösen Menschen lautet: «Wer glaubt, der sucht! Wer nicht mehr sucht, läuft in Gefahr, den Glauben (an sich selbst, an diese Welt, an Gott) zu verlieren!» Und ich bin sehr dankbar, dass ich das als römisch-katholischer Theologe seit März 2013 auch wieder laut denken darf. Denn seit dieser Zeit sitzt auf dem Bischofsstuhl in Rom – und damit nach römisch-katholischem Verständnis als Nachfolger von Petrus – nicht mehr ein Dogmatiker oder Moralist, sondern ein sehr sensibler Pastor – ein Hirte im eigentlichen Sinn. Dieser Papst Franziskus hat in einem Interview mit Antonio Spadaro SJ im September 2013 selbst gesagt:
«Wenn jemand behauptet, er sei Gott mit absoluter Sicherheit begegnet, und nicht berührt ist von einem Schatten der Unsicherheit, dann läuft etwas schief. Für mich ist das ein wichtiger Erklärungsschlüssel. Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mit ihm ist. Das bedeutet, dass er ein falscher Prophet ist, der die Religion für sich selbst benutzt… Wer heute immer disziplinäre Lösungen sucht, wer in übertriebener Weise die ‹Sicherheit› in der Lehre sucht, wer verbissen die verlorene Vergangenheit sucht, hat eine statische und rückwärtsgewandte Vision. Auf diese Weise wird der Glaube eine Ideologie...»
Für mich ist Religion jedoch alles andere als Ideologie. Schon zu Beginn meines pastoralen Dienstes (1988) hat mich das Buch von Werner Huth mit der bezeichnenden Titel «Glaube, Ideologie und Wahn. Das Ich zwischen Realität und Illusion» aufgeklärt, sehr vorsichtig zu sein, Menschen als religiös oder areligiös zu bezeichnen. Denn viele ‹tief gläubige› Menschen bewegen sich am Rande einer Ideologie oder sind gar schon einem Wahn verfallen. Vielleicht hat Papst Franziskus dieses Buch auch gelesen – oder warnt einfach intuitiv davor, gerade bei den Menschen genauer hinzuschauen, ob sie wirklich religiös sind, wenn sie mit absoluter Sicherheit, disziplinär und verbissen ihren Glauben verkünden und leben.
Religion ist für mich aber auch nicht das «Opium des Volkes», wie Karl Marx sie 1844 charakterisierte, weil er davon ausging, dass der Mensch die Religion macht, nicht die Religion den Menschen. Diejenigen, die dagegen der Überzeugung waren und sind, dass Religion den Menschen unfrei macht, wandeln dann gern diese Aussage in die Behauptung um, Religion sei «Opium für das Volk». Und dieses Opium wurde und wird verabreicht von den – wie es Franziskus oben sagt – falschen Propheten, von den religiösen ‹Sicherheitsexperten und -expertinnen› mit ihrer statischen und rückwärtsgewandten Vision oder von den – biblisch gesprochen – Pharisäern und Schriftgelehrten, die Jesus selbst heftigst attackierte, wie man im 23. Kapitel des Matthäus-Evangeliums nachlesen kann:
«Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen. Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen. Alles, was sie tun, tun sie nur, damit die Menschen es sehen: Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, bei jedem Festmahl möchten sie den Ehrenplatz und in der Synagoge die vordersten Sitze haben, und auf den Straßen und Plätzen lassen sie sich gern grüßen und von den Leuten Rabbi (Meister) nennen…
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen… Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue… Blinde Führer seid ihr: Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele… Ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von dem, was ihr in eurer Maßlosigkeit zusammengeraubt habt… Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz… Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen?»
Es könnte mich wütend und frustriert machen, wenn ich im Verweisapparat unter dieser Bibelstelle lese, wie oft solche Anklagen auch längst vor Jesus geäußert wurden: Propheten im Alten Testament wie Jesaja, Amos, Micha und viele mehr hatten sich mit demselben Problem befasst und ebenso harsche Kritik geübt. Auch in der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums gab es immer wieder solche Prophetinnen und Propheten, die zu Recht Anklage erhoben gegen die ‹Mächtigen› der Kirchen, sei es ein Franz von Assisi, eine Katharina von Siena, ein Martin Luther und viele mehr. Und was hat es letztendlich genützt?
Zuletzt hat mal wieder der wegen seiner Offenheit von vielen geschätzte, aber sicher auch von vielen gehasste Papst Franziskus in diese Bresche geschlagen, als er in seiner Ansprache an die Mitglieder der römischen Kurie, also Kardinälen wie anderen Bediensteten, beim traditionellen Weihnachtsempfang 2014 die Leviten las und von 15 «Krankheiten» sprach, die er auch im Vatikan immer wieder entdecke: die Krankheit, sich für unsterblich oder unverzichtbar zu halten; die Krankheit der mentalen und spirituellen Versteinerung, der exzessiven Planung und der schlechten Koordinierung; die Krankheit des ‹geistlichen Alzheimers›, der Rivalität und der Eitelkeit sowie der existentiellen Schizophrenie; die Krankheit des Geschwätzes und des Klatsches oder auch, die Oberen zu hofieren zu Gunsten des eigenen Karrierismus und Opportunismus; die Krankheit der Gleichgültigkeit gegenüber den anderen; die Krankheit, immer traurig oder schwermütig herumzulaufen oder den anderen gegenüber immer ein strenges Gesicht zu zeigen, das nur so von Härte, Starre und Arroganz zeuge; die Krankheit des Anhäufens materieller Güte, der geschlossen Kreise und der Zugehörigkeit zu Grüppchen; und schliesslich die Krankheit derer, die danach trachteten, unersättlich ihre Macht zu mehren, und zu diesem Zweck fähig seien, zu verleumden und andere in Misskredit zu bringen.
Diese «Krankheiten», das muss ja auch mal – und keineswegs relativierend – gesagt sein, gibt es nicht nur in der römisch-katholischen Kirche und innerhalb der Religionen, Konfessionen oder Denominationen (also Bekenntnisgruppen innerhalb einer Religion wie römisch-katholisch oder evangelisch-reformiert, sunnitisch oder schiitisch, vishnuitisch oder shivaitisch und viele andere). Sie sind weltweit auf diesem Erdkreis zu finden.
Aber wenn halt auch in den Religionen: ist es demzufolge verwunderlich, wenn nicht wenige immer wieder postulieren: die Religionen gehören abgeschafft, weil auch sie – entgegen ihren hohen moralischen Ansprüchen – für Kriege, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Heuchelei verantwortlich seien?! Ich kann diese Haltung gut verstehen – aber ich teile sie nicht! Denn diese Sichtweise sieht nur eine der beiden Waagschalen und ist nicht in der Lage, eine Relation herzustellen zu dem, was Religion für die Menschheitsfamilie ebenso bedeutet. Und wer umfassend von Religion sprechen will, muss auch diese andere Seite in Betracht ziehen!
Es mag manche erschrecken, wenn ich als christlich-katholischer Theologe nun bekenne: für welche Religion oder Weltanschauungen sich ein Mensch entscheidet, an welche er sich bindet und in welcher er seine Heimat und Geborgenheit findet, ist zunächst einmal völlig gleichgültig. Viel entscheidender ist: Was wird aus der jeweiligen Religion oder Weltanschauung als zentral, als wesentlich angesehen und geglaubt?
Der heute populärste und bekannteste Vertreter des Hinduismus ist vermutlich Mahatma Gandhi, der des Buddhismus der Dalai Lama. Für einen sehr offenen Islam ist wohl der Arzt, Wissenschaftler und Philosoph Ibn Sina durch den Bestseller und Spielfilm «Der Medicus» bekannt, der im 11. Jahrhundert in Isfahan die bedeutendste Schule für angehende Mediziner der damaligen Welt leitete. Schon als Gymnasiast habe ich aus dem Judentum den in Lessings Drama «Nathan der Weise» charakterisierten Moses Mendelssohn (1729 - 1786), den Begründer der jüdischen Aufklärung, schätzen gelernt. Später dann, schon als Theologiestudent, imponierte mir der deutsch-israelische Journalist und Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin (1913 - 1999). Der derzeit wohl populärste prophetische Repräsentant des Christentums ist für mich heute unverkennbar Papst Franziskus, auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, was er so sagt und tut.
Wer sorgfältig bedenkt oder studiert, was Vertreterinnen und Vertreter ganz verschiedener Religion und Konfessionen sagen, wird schnell zu Erkenntnis gelangen, dass es auch heute noch genügend von dem Typ eines Ghandi, Ibn Sina, Moses Mendelssohn usw. gibt. Für mich als Theologe war es quasi ein Aha-Erlebnis, als ich auf Bücher stieß wie «Islam ist Barmherzigkeit» des Islamwissenschaftlers Mouhanad Khorchide, Professor für islamische Religionspädagogik am Centrum für Religiöse Studien und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Oder auch auf Aussagen von Ahmad Milad Karimi, die er in dem Buch «Im Herzen der Spiritualität», zusammen mit Pater Anselm Grün OSB, geschrieben hat:
«Muslime können Terroristen sein, aber der Terror ist nicht islamisch; Muslime können Gewalt ausüben, aber die Gewalt an sich ist nicht islamisch; Muslime können ungerecht sein, aber die Ungerechtigkeit ist nicht islamisch; Muslime können aus dem Islam eine ideologische Bewegung formen, aber die Ideologie ist nicht islamisch; Muslime können anderen Menschen Schmerz und Leid zufügen und die Welt in Angst und Schrecken versetzen, aber die Erniedrigung des anderen ist nicht islamisch. Kurz: Muslime können ihre Religion verfehlen, aber die Verfehlung der Religion ist nicht Teil der Religion selbst. … Der Islam wird dann zum Islamismus, wenn die Religion zur Legitimation der Gewalt missbraucht wird, wenn der Sinn für Bewahrung in Lust auf Zerstörung pervertiert, wenn die in der Bewertung des anderen geforderte Demut in Überheblichkeit ihm gegenüber und in Missachtung des anderen umschlägt, wenn die Vielfalt des Lebens unterdrückt wird und verkümmert, wenn die Rede von Gerechtigkeit und Frieden der Gewalt dient – und nicht umgekehrt, wie es die Maxime des Islam darstellt."
Diese Sichtweise von Ahmad Milad Karimi lässt sich unschwer auch auf andere institutionelle Religionen übertragen wie beispielsweise das Christentum: Christen und Christinnen können Gewalt ausüben, aber die Gewalt an sich ist ganz und gar nicht christlich; sie können ungerecht sein, aber die Ungerechtigkeit ist nicht christlich; sie können aus dem Christentum eine ideologische Bewegung formen, aber die Ideologie ist nicht christlich; sie können Kreuzzüge durchführen oder Hexen verbrennen, spirituelle oder sexuelle Macht über andere ausüben, aber das ist alles andere als christlich…
Die entscheidende Frage ist doch wohl: was macht dann eine Religion zu einer Religion, wie ich sie hier zu propagieren suche? Meines Erachtens ihre Vision und ihre Ziele, ihre Ausrichtung und ihr Handeln. «An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen», heißt es schon im Johannes-Evangelium (7,16). Und die Früchte, die Menschen heute zum Großteil sehen und ernten wollen, sind nicht mehr nur Frömmigkeit, Weihrauch, Gold und dogmatisches Gerede, sondern tatkräftige Verantwortung für diese «Eine Welt». Alle echten religiösen Führer und Führerinnen wurden bzw. werden nicht müde, immer wieder an die eine Menschheitsfamilie zu appellieren, dass wir füreinander da sind, dass wir die zur Verfügung stehenden Ressourcen miteinander teilen, dass wir uns gegenseitig akzeptieren oder zumindest tolerieren, einander (und uns selbst) verzeihen, dass wir solidarisch sind und auch mit der Erde sorgsam umgehen. Heute müsste man sagen: versuchen zu retten, was noch zu retten ist… Ich bin mir ganz sicher, dass ich für diese zentralen Postulate eine immense Zahl von Vertreterinnen und Vertreter aller Religionen und Weltanschauungen aufzählen könnte, auch wenn diese weniger prominent und allgemein bekannt sind.
Denn auch mir wurde erst durch Recherchen zu diesem Buch bekannt, dass es seit 1970 schon die «Weltkonferenz der Religionen für den Frieden» gibt. Dabei handelt es sich um eine internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York City, die sich zum Ziel gesetzt hat, durch interreligiösen Dialog Friedensarbeit zu leisten. Der Schwerpunkt dieses interreligiösen Dialogs, der etwa alle fünf Jahre stattfindet, liegt weniger im Bereich der theologisch-dogmatischen Wahrheitsfindung als im Bereich des praktisch-ethischen Handelns. Durch Treffen von Religionsvertreterinnen und Religionsvertretern sowie engagierten Gläubigen aus möglichst vielen verschiedenen Religionsgemeinschaften soll eine Vertrauensbasis geschaffen werden, um Probleme gemeinsam bewältigen und im Konfliktfall gemeinsam reagieren zu können. Nach Ansicht von Hans Küng sind die Aussagen des ersten Treffens in Kyōto 1970 (nicht zu verwechseln mit der Klimakonferenz ebendort 1997) zwar gut, aber noch viel zu allgemein. Es fehle, auch in den Folgetreffen, an Konkretionen (Projekt Weltethos S. 90).
Anstelle einer langen Liste von Persönlichkeiten, die – obwohl aus verschiedenen Religionen und Weltanschauungen kommend –das Gleiche im Sinn haben, möchte ich den ‹gläubigen› und auch ‹ungläubigen› Leserinnen und Lesern von einem Ereignis berichten, das zwar meines Erachtens in den Medien und in der Öffentlichkeit viel zu wenig Beachtung findet, aber meiner eigenen Spiritualität ‹aus dem Herzen spricht›:
Das Friedenstreffen in Assisi
In den Medien, auch in Wikipedia, wird immer wieder die Behauptung aufgestellt, Papst Johannes Paul II. habe dieses erste «Weltgebetstreffen für den Frieden» als interreligiöses Treffen von hohen Geistlichen verschiedener Religionen am 27. Oktober 1986 in Assisi einberufen. Die eigentliche Initiantin war jedoch die 1968 gegründete Laiengemeinschaft Sant‘ Egidio von Rom. Seit deren Bestehen betrachtet diese Gemeinschaft als zentrales Anliegen das Hören auf das Wort Gottes und das Gebet, die Weitergabe des Evangeliums, die Freundschaft mit den Armen, die Ökumene, den interreligiösen Dialog und den Einsatz für Frieden und Menschenrechte. Sie haben Papst Johannes Paul II. schon bei dem ersten Treffen 1980 darauf hingewiesen, wie wichtig der interreligiöse Dialog für den Frieden in der Welt ist. Und sie haben, zusammen mit Vertretern des Vatikans, viel geleistet, dass solche Treffen 1986 und dann auch 1993 und 2002, 2011 und 2016 zustande kamen.
Beim dem Treffen 2002, an dem Vertreter von zwölf Religionen sowie 31 Kirchen teilnahmen, wurde der erste «Dekalog von Assisi für den Frieden» unterzeichnet und publiziert. Am 27. Oktober 2011 wurde dieser Dekalog erweitert und feierlich besiegelt. Es lohnt sich, die Aussagen von Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Religionen und auch Nichtglaubenden zu studieren:
«Hier in Assisi versammelt, haben wir gemeinsam über den Frieden nachgedacht, der ein Geschenk Gottes ist und gemeinsames Gut der gesamten Menschheit ist. Obwohl wir verschiedenen religiösen Traditionen angehören, bekräftigen wir, dass es zum Aufbau des Friedens notwendig ist, den Nächsten zu lieben und die Goldene Regel zu beachten: "Tu den anderen das, was du willst, dass dir getan wird." In dieser Überzeugung werden wir nicht müde, auf der großen Baustelle des Friedens zu arbeiten, und halten hierzu fest:
1. Wir verpflichten uns, unsere feste Überzeugung kundzutun, dass Gewalt und Terrorismus dem authentischen Geist der Religionen widersprechen. Indem wir jede Gewaltanwendung und den Krieg im Namen Gottes oder der Religion verurteilen, verpflichten wir uns, alles Mögliche zu tun, um die Ursachen des Terrorismus zu beseitigen.
2. Wir verpflichten uns, die Menschen zu gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Hochachtung zu erziehen, damit sich ein friedliches und solidarisches Zusammenleben zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Ethnien, Kulturen und Religionen verwirklichen lässt.
3. Wir verpflichten uns, die Kultur des Dialogs zu fördern, damit gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zwischen den Einzelnen und den Völkern wachsen, die Voraussetzung für einen echten Frieden sind.
4. Wir verpflichten uns, das Recht jeder menschlichen Person auf ein würdiges Leben gemäß seiner kulturellen Identität und auf die freie Gründung einer eigenen Familie zu verteidigen.
5. Wir verpflichten uns zum aufrichtigen und geduldigen Dialog, indem wir es ablehnen, unsere Unterschiede als unüberwindbare Mauer anzusehen, sondern im Gegenteil erkennen, dass die Begegnung mit der Verschiedenheit anderer zu einer Gelegenheit zum besseren gegenseitigen Verständnis werden kann.
6. Wir verpflichten uns, einander die Irrtümer und Vorurteile der Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen. Wir müssen uns im gemeinsamen Bemühen unterstützen, Egoismus und Übergriffe, Hass und Gewalt zu beseitigen und aus der Vergangenheit zu lernen, dass Friede ohne Gerechtigkeit kein wahrer Friede ist.
7. Wir verpflichten uns, an der Seite der Leidenden und Verlassenen zu stehen und uns zur Stimme derer zu machen, die selber keine Stimme haben. Wir müssen konkret an der Überwindung solcher Situationen mitwirken, von der Überzeugung getragen, dass niemand allein glücklich sein kann.
8. Wir verpflichten uns, uns den Ruf derer zu Eigen zu machen, die nicht vor der Gewalt und dem Bösen resignieren. Wir wollen mit all unseren Kräften dazu beitragen, der Menschheit unserer Zeit eine wirkliche Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden zu geben.
9. Wir verpflichten uns, jede Initiative zu ermutigen, die Freundschaft zwischen den Völkern fördert, in der Überzeugung, dass technischer Fortschritt eine wachsende Gefahr von Zerstörung und Tod für die Welt mit sich bringt, wenn ein solidarisches Einverständnis zwischen den Völkern fehlt.
10. Wir verpflichten uns, die Verantwortlichen der Nationen dazu aufzufordern, auf nationaler wie internationaler Ebene alle Anstrengungen zu unternehmen, damit auf der Grundlage von Gerechtigkeit eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens aufgebaut und gefestigt wird.
11. Wir, die Angehörigen unterschiedlicher religiöser Traditionen, werden unermüdlich verkünden, dass Frieden und Gerechtigkeit nicht voneinander zu trennen sind und dass Frieden und Gerechtigkeit der einzige Weg sind, auf dem die Menschheit in eine Zukunft der Hoffnung gehen kann. In einer Welt mit immer offeneren Grenzen, abnehmenden Entfernungen und besseren Beziehungen als Ergebnis eines dichten Kommunikationsnetzes, sind wir überzeugt, dass Sicherheit, Freiheit und Frieden nie durch Gewalt, sondern nur durch gegenseitiges Vertrauen garantiert werden können.
Möge Gott diese unsere Vorsätze segnen und der Welt Gerechtigkeit und Frieden gewähren.
12. Wir Humanisten im Dialog mit den Glaubenden verpflichten uns, gemeinsam mit allen Frauen und Männern guten Willens eine neue Welt zu bauen, in der der Respekt für die Würde einer jeden Person, für ihre innere Sehnsucht und für die Freiheit, auf der Basis ihres eigenen Glaubens zu handeln, die Grundlage für das Leben in der Gesellschaft ist. Wir werden alles tun, um sicherzustellen, dass Glaubende und Nichtglaubende in gegenseitigem Vertrauen leben und gemeinsam der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden nachgehen können.
Nie wieder Gewalt! Nie wieder Krieg! Nie wieder Terrorismus! Im Namen Gottes bringe jede Religion Gerechtigkeit und Frieden, Vergebung und Leben, Liebe!
Quelle: www.domradio.de/themen/interreligioeser-dialog/2011-10-27/die-friedenserklaerung-von-assisi
Muss man da noch etwas ergänzen, wozu Religion und Religionen dringend notwendig sind?
Papst Franziskus hat beim Friedenstreffen der Religionen am 7. Oktober 2021 im Kolosseum in Rom dieses Postulat konkretisiert, indem er sagte:
«Es liegt in unserer Verantwortung, liebe Brüder und Schwestern im Glauben, dazu beizutragen, dass der Hass aus den Herzen verschwindet und jede Form von Gewalt verurteilt wird. Mit klaren Worten ermutigen wir dazu, die Waffen niederzulegen, die Militärausgaben zu reduzieren, um humanitäre Bedürfnisse zu befriedigen und Werkzeuge des Todes in Werkzeuge des Lebens zu verwandeln. Dies sollen keine leeren Worte sein, sondern eindringliche Forderungen gegen Krieg und Tod, die wir um unserer Brüder willen und im Namen dessen stellen, der der Friede und das Leben ist. Weniger Waffen und mehr Lebensmittel, weniger Heuchelei und mehr Transparenz, mehr gerecht verteilte Impfstoffe und weniger unbedacht verkaufte Waffen. Die Zeiten verlangen von uns, dass wir unsere Stimme für viele Gläubigen erheben, einfache und wehrlose Menschen, die der Gewalt überdrüssig sind, auf dass diejenigen, die Verantwortung für das Gemeinwohl tragen, sich nicht nur dafür einsetzen, Kriege und Terrorismus zu verurteilen, sondern auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie nicht wieder aufflammen.
Ich möchte noch einmal bekräftigen, was uns die Pandemie gezeigt hat, nämlich, dass wir in einer kranken Welt nicht dauerhaft gesund bleiben können. In letzter Zeit sind viele an Vergesslichkeit erkrankt, an Vergesslichkeit gegenüber Gott und gegenüber den Brüdern und Schwestern. Dies hat zu einem ungezügelten Wettlauf um individuelle Unabhängigkeit geführt, der aufgrund unersättlicher Gier entgleist ist, deren Narben die Erde, auf der wir herumtrampeln, trägt, während die Luft, die wir atmen, voller giftiger Stoffe und arm an Solidarität ist. So haben wir die Verschmutzung unseres Herzens auf die Schöpfung übertragen. In diesem geschädigten Klima ist es tröstlich zu wissen, dass dieselben Anliegen und das gleiche Engagement in vielen Religionen heranreifen und zum gemeinsamen Erbe werden.»
www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2021/october/documents/20211007-incontro-preghiera-perlapace.html
Auch wenn die institutionellen Religionen gegenüber den Machthabenden dieser Welt ihre Postulate nicht immer durchsetzen können, auch wenn sie ohnmächtig erscheinen: ihre Aufgabe und Funktion ist und bleibt es dennoch, ihre Stimme zu erheben und für die Werte der Menschheitsfamilie einzustehen. Dafür – und nur dafür – ist Religion und sind Religionen unverzichtbar!