Читать книгу Aufgreifen, begreifen, angreifen - Band 2 - Rudolf Walther - Страница 10
4 »Volkstrauertag«: Normalisierung im Geist nationaler Verlogenheit
ОглавлениеGeschichte ereignet sich zweimal – einmal als Tragödie, dann als Farce. Wird dieselbe Geschichte mehrfach erzählt, darf man sich wundern oder nach den Motiven fragen. Mit der Eröffnung der Neuen Wache als zentraler Gedenkstätte (»mies, medioker und provinziell«, Reinhart Koselleck) und einer Rede von B. Seebacher-B. zum Volkstrauertag werden die Bemühungen zur Begradigung der deutschen Geschichte erneut aufgenommen. So viel zum unausgesprochenen Teil der Motive. Der Rest spricht für sich selbst.
E. Nolte schrieb 1986 einen Artikel (FAZ 6.6.86), der zusammen mit Arbeiten von A. Hillgruber, K. Hildebrand und M. Stürmer den Historikerstreit auslöste. Dass es dazu kam, ist allein das Verdienst von Jürgen Habermas, der schnell und entschieden auf »die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung« reagierte (»Eine Art Schadensabwicklung«, Die Zeit 11.7.86). Nolte hatte mit dem Titel seines Beitrags die Marschrichtung angegeben: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«. Im Klartext: Wer verhindert, dass die Geschichte deutscher Verbrechen endlich mit der Geschichte und den Verbrechen anderer Staaten verrechnet werden kann? Ein historisches Clearing-Verfahren zwischen den nationalsozialistischen Verbrechen und jenen Stalins, Pol Pots etc. war angesagt. So frontal freilich stieg Nolte nicht ein, sondern wählte den aparten Weg über die Notwehr: Vor Auschwitz war der GULag, und deshalb handelten Hitler und seine Wehrmacht aus berechtigter Angst vor der »asiatischen Tat« präventiv, als die Sowjetunion überfallen und an und hinter der Front Millionen von Menschen umgebracht wurden; Stalin als Lehrmeister Hitlers, dem Nolte in einer die neudeutsche Ideologie präzis charakterisierenden Bemerkung nur nachträgt, dem Repertoire des Terrors den »technischen Vorgang der Vergasung« (FAZ 6.6.86) hinzugefügt zu haben. Auschwitz – ein Problem von Technik und Chemie. Die Debatte schlief bald ein, weil Nolte wissenschaftlich fundierte Einwände ignoriert und seine Thesen zum Holocaust so feinsinnig weiterspinnt, dass sie von einer Rechtfertigung nur noch mit einer Lupe zu unterscheiden sind.
B. Seebacher-B. sprach jüngst zum staatlich gehegten Volkstrauertag in der Frankfurter Paulskirche und wiederholte fast wörtlich Noltes Kernthese: »Dass nicht aufhören kann, was nicht aufhören darf, kann und darf nicht das Maß unserer Erinnerung sein« (FAZ 15.11.93). Es geht erneut darum, Risse und Gräben in der jüngsten deutschen Geschichte zu planieren, Opfer nationalsozialistischer Herrschaft zu allen übrigen Toten zu legen. 1989 »stellt alles auf den Kopf, was zuvor gültig gewesen ist und was nicht«. Das betrifft auch die neue allgemeine deutsche Friedhofsordnung: Tod ist Tod und tot sowieso. Dieses Mal regiert nicht ein chronologisches Mätzchen die Revision: nach dem alten Muster post hoc, ergo propter hoc, d. h. dem historistischen Trick der Verzauberung einer zeitlichen Abfolge in ein Kausalverhältnis, hatte es Nolte versucht; und auch nicht die notorisch alles mit allem verwechselnden und damit alles verniedlichenden Vergleiche, die seit dem Golfkrieg so beliebt sind, treiben die Autorin an, sondern die Gier nach »Normalität«. »Normalität heißt, ein Deutschland wollen, das seine Kraft aus der Gegenwart bezieht.« Eine ebenso geschmackssichere wie steinerne Dummheit gegenüber Toten, die wer weiß wo sind, aber nicht in der Gegenwart.
Zum Tod und zu Toten hat B. Seebacher-B. ein exquisites Verhältnis, das sie in den Augen der Organisatoren zur richtigen Festrednerin macht. Als vor einigen Monaten im Westteil der Republik Häuser angesteckt und Menschen verbrannten, fielen ihr dazu Sätze ein, die ihresgleichen suchen: Demnach hat man sich zu merken, »dass das Recht der Lebenden durch die Erinnerung an die Toten nicht aufgehoben und nicht einmal eingeschränkt wird. Im Leben eines Volkes ist es wie im Leben des einzelnen: Man muss sich selber achten, um andere zu achten und von anderen geachtet zu werden« (FAZ 28.1.93). Die Asche der verbrannten Türken war gerade erst erkaltet.
Den geraden Weg zur »Normalität« versperrten bislang ein paar Millionen Vergaste, in wissenschaftlichen Experimenten Ermordete, in der Haft Erschlagene, durch Zwangsarbeit Vernichtete, von Einsatzgruppen und Wehrmacht Ermordete, von furchtbaren Juristen in den Tod Geschickte. Diese sperrige Last sollte weggeschafft werden – dauerhaft und im Namen des »Volkstrauertags«. Das ist ein durch und durch verlogenes, in keine europäische Sprache übersetzbares Wort, das seine Entstehung (1923) dem Geist von Dolchstoßlegenden und seine Wiederbelebung (1952) dem bigotten Adenauer-Regime verdankt. Seine einzig stimmige und mögliche Übersetzung erhielt es 1934 von den Nazis, die aus dem heuchlerischen »Volkstrauertag« den »Heldengedenktag« machten. Sie sollen ihren Tag wiederhaben, jene, die nach der Rede von B. Seebacher-B. in der Paulskirche »Ich hatt’ einen Kameraden« anstimmten (FR 15.11.93).
Anderes als Ballast wegräumen wollte auch Nolte 1986 nicht, aber bevor ich auf die bemerkenswerte Reprise im Geiste der »Ideen von 1989« eingehe, lohnt sich ein Blick zurück.
Der Zeithistoriker M. Broszat forderte schon 1985 eine »Historisierung« des Nationalsozialismus. Er redete damit allerdings nicht einer verharmlosenden Einordnung der Nazi-Zeit und der Nazi-Verbrechen ins Kontinuum der Geschichte das Wort (wie neuerdings R. Zittelmann, K. Weissmann, G. Schöllgen u. a.). Im Gegenteil: Gerade wer auf der Einmaligkeit des Verbrechens industrieller Menschenvernichtung besteht, muss zwingend – um die Einmaligkeit begreifen zu können – historische Vergleiche anstellen, um das Geschehen im historischen Kontext zu verstehen. Dieses aufklärerische Unternehmen, kritisch verstanden und nicht apologetisch im Sinne jener, die das Ganze endlich vergessen machen wollen, richtete sich auch gegen die nur noch mit beschwörenden Chiffren und pathetischen Formeln operierende Redeweise über die Nazi-Verbrechen. Dazu gehören das raunende Herzitieren von »Auschwitz« bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ebenso wie das immunisierende Gerede über »Singularität« oder »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), das sich jedem rationalen Verstehen und Begreifen entziehe und entziehen solle.
Die im Historikerstreit kulminierende Debatte hat ihren Ursprung in der »geistig-moralischen Wende«, die Kohl 1981 programmatisch verkündete. Konservative Historiker und Publizisten entdeckten daraufhin, woran es den Deutschen angeblich besonders mangelte – an »Identität«, die einige bald »nationale Identität« nannten, womit dann jeder wusste, wohin die Reise gehen sollte. Sinn- und Identitätsbastler hatten von nun an Konjunktur.
Zum 30.1.1983, d. h. zur fünfzigsten Wiederkehr des Tages, an dem die bürgerliche Elite in Deutschland die Macht den Nationalsozialisten übergab, hielt H. Lübbe eine Rede im Berliner Reichstagsgebäude (FAZ 24.1.1983). Diese Rede markiert die konservative Trendwende mit dem Anspruch, die Nation wiederzubeleben, was freilich nur funktioniert, wenn gleichzeitig die Verbrechen, die in deren Namen begangen wurden, »normalisiert« werden. »Identität« und »Normalität« sind die Parolen, unter denen Ideologieproduzenten seither zum Halali blasen, weil Nation pur vielen noch zu schrill klang. Nach 1989 ist »Verantwortung« als Passepartout fürs Weltpolitische hinzugekommen. Im Namen der populistischen Dreifaltigkeit von »Identität«, »Normalität« und »Verantwortung« legen sie nun los, seit wir wieder »ein« Volk sind – von ganz rechts bis post-links.
Zwar gestand Lübbe ein, dass bis 1968 »im Schutz öffentlich wiederhergestellter normativer Normalität« von den Nazi-Verbrechen außerhalb wissenschaftlicher Zirkel kaum die Rede war. Geschichte und Erinnerung (gar solche an Verbrechen, an denen Hunderttausende deutscher Männer beteiligt waren) hätten Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nur behindert. Flächendeckende Verdrängung bestimmte die politische Kultur, bis die Studentenbewegung das »kollektive Beschweigen« (Lübbe) nationalsozialistischer Verbrechen am Nierentisch ziemlich abrupt beendete. Lübbe plädierte 1983 für eine »gemeinsinnsfähige moralische und politische Normalität« als Sicherung für »die Immunität einer politischen Kultur gegen die totalisierende Machtergreifung ideologischer Heilsgläubigkeit«. Praktisch lief die Beschwörung solcher »Normalität« auf die Empfehlung hinaus, die Verbrechen gemeinsinnsfördernd Verbrechen sein zu lassen und sich im Übrigen »so einzurichten, dass, wenn auch diese Gegenwart schließlich Vergangenheit geworden ist, sie dem zustimmungsfähigen Teil der Vergangenheit zuzurechnen sein wird«.
Normalisierte Geschichte hat eine ziemlich späte Geburt. Die Normalisierung der Vergangenheit wurde gleichzeitig regierungsamtlich vorangetrieben. Kohl traf sich am 8.5.1985 mit Reagan im Konzentrationslager Bergen-Belsen und am gleichen Tag auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Gewaltsamer wurde nie versucht, Täter – und dazu gehörten auch Wehrmacht, Reichsbahn und Verwaltungen, ohne die das System der Lager nicht funktioniert hätte – und Opfer symbolisch zusammenzuzwingen. Dazu passte, dass der damalige Fraktionschef der CDU/CSU, Alfred Dregger, der Öffentlichkeit seine Sicht des Zweiten Weltkriegs verriet: Er präsentierte sich als ein Ehrenmann, der am 8.5.1945 in Marklissa (Schlesien) nichts anderes als den Westen gegen den Bolschewismus verteidigt habe. Schneidig. Ins Deutsche übersetzt: Die alliierten Truppen, die Europa von Westen her von der Barbarei befreiten, fielen Dregger und seinesgleichen in den Rücken – mitten im Kampf gegen den Bolschewismus. Notorisch waren in jener Zeit die Zurufe des Vernunft-Atlantikers und Herz-Jesu-Nationalisten F. J. Strauß, endlich die »Büßerhemden« auszuziehen, um aus dem »Schatten der Vergangenheit« herauszutreten.
Stil und intellektuelles Niveau des übrigen Bonner Personals verschaffen dem Bundespräsidenten Weizsäcker einen Bonus, worüber er auch immer redet. Diesen Heimvorteil nutzte er trefflich mit seiner Rede zum 8.5.1985 und erhielt dafür viel Lob. Es gab jedoch in Weizsäckers Rede auch bedenkliche Stellen, etwa jene, in der er sich dazu verstieg zu behaupten, Hitler habe »das ganze Volk zum Werkzeug« seines Judenhasses gemacht und die industrielle Menschenvernichtung habe »in der Hand weniger« gelegen. Eine restlos trübe Passage war geeignet, den Revisionseifer der Historiker zu beflügeln: »Während des Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet. Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk«. Die Deutschen als Opfer ihres eigenen Krieges? Wenn dem so wäre, gäbe es hierzulande nur noch Opfer. Weizsäckers abgründigen Satz verrät ein Webfehler: Die anderen Völker erscheinen gleichsam als Komparativ (»gequält und geschändet«), wir aber sind der Superlativ (»gequält, geknechtet und geschändet«). Die anständig zelebrierte präsidiale Trauer hat ein vermeintliches Super-Opfer im Hinterkopf, um das sie vor allem trauert – und demaskiert sich allein damit als verlogen.
Von Gustav Heinemann wissen wir, dass er seine Frau liebte, seine Kinder und seine Freunde, aber nicht den Staat, das Land oder gar die nation introuvable. Nach 1989 und speziell bei B. Seebacher-B. ist das natürlich ganz anders. Nichts findet sie süßer als den Traum, auch hier wieder einmal mit »Trauer« und Horaz’ obligatem »Stolz« vor einem jener meist grässlichen Kriegerdenkmale stehen zu dürfen, die man tatsächlich in jedem französischen Nest antrifft und auf denen für 1870/71, 1914/18, 1939/45, 1946/54, 1958/62 unentwegt »pour la patrie« gestorben wird. »Die« Franzosen brauchen den Firlefanz nicht. Aber die französischen Regierungen jeder Couleur beherrschen die Klaviatur des nationalistischen Pathos, mit dem man je nach Lage der Dinge gegen Einwanderer aus dem Maghreb, »boches«, Maastricht oder die deutsche Bundesbank mobil macht, um von der hausgemachten Misere abzulenken. B. Seebacher-B. nimmt den versteinerten Schwachsinn (mort pour la patrie) als Vaterlandsliebe ernst, »ohne die nichts oder nicht viel gelingen und kein noch so großer Geldtransfer Wirkung zeigen kann«. Als Frau hat sie eine etwas größere Chance, sich an Heldengedenktagen vom süßen Traum an tote, aber virile Kerle durchschütteln lassen, während man als Mann aller historischen Erfahrung nach halt nur zu jenen gehören dürfte, die im »Ernstfall« bereits von unten her zuschauen, wie die oben wieder einmal auf »Volkstrauertag« machen.
Aber wir sind dankbar: Seit uns K. H. Bohrer während des Falklandkrieges der Baronin Thatcher daran erinnerte, woran es uns Schlappschwänzen gebricht (»höheres Ethos, letzte causa und brinkmanship«), haben wir derlei nicht mehr gelesen, nicht einmal in der FAZ, die uns anlässlich des Golfkriegs »härtere Zeiten« (16.2.91) androhte.
Aber das ist nur der harmlose Anfang des Volkstrauerspiels. B. Seebacher-B. rückt den Toten und den Lebenden direkt auf den Leib, vor allem aber dem Volk, das seine »innere Einheit, die zeitlos ist und anderes bedeutet als die Angleichung von Lebensverhältnissen«, einfach vergessen hat. Kaum aus der Volksgemeinschaft der Nazis und der Zwangskommune DDR entkommen, verleugnet doch dieses deutsche Volk (nebenbei: eine sehr zeitgebundene Erfindung von 1813), unter der »geistigen Herrschaft« des Antifaschismus (Globke, Oberländer, Filbinger, Kiesinger e tutti quanti?) die »innere Einheit«, die vor allem deshalb den Stempel »zeitlos« verdient, weil es sie gar nie gegeben hat. Mit der Verabschiedung vom Trugbild Nation und Volksgemeinschaft sind die BRD-Deutschen nicht etwa normal geworden nach ihrem Horror-Trip seit 1871, sondern haben sich ein »Ausnahmebewusstsein« zugelegt, »das uns noch heute wie Blei auf der Seele liegt und nicht nur die Selbstvergewisserung nach außen behindert, sondern auch nach innen«.
Spätestens mit dem Blei wird die Sache ernst, denn dabei denken wir eher an die Millionen Toten, denen das Blei vielleicht auch »auf der Seele liegt«, aber mit Sicherheit vorher den Körper zerfetzt hat. Die Normalität, die B.Seebacher-B. beschwört, ist ganz anders: »Stolz«, »Vaterland«, »Härte« und – mit »Blei« und der Logistik von Verteidigungsminister Rühe – »Selbstvergewisserung nach außen«. Von der wilhelminischen Parole vom »Platz an der Sonne«, mit der man Bürger und Proletarier nach 1900 verblendete und zu Hurra-Patrioten machte, steigen wir jetzt um ins Kanonenboot »Seebacher-Rühe« und brechen auf zur »Selbstvergewisserung nach außen«.
Der Antifaschismus, der nicht illegitim wurde, weil ihn die SED als Herrschaftsmittel und Staatsideologie instrumentalisierte, verleitete nach B. Seebacher-B. die westlichen Sonderweg-Deutschen zum Grübeln über die Vergangenheit und obendrein dazu, »sich am eigenen Unglück zu weiden«. Statt forsch loszumarschieren und »sich auf Sinn und Zweck des Ganzen zu verständigen«, um nach innen und außen »Selbstvergewisserung« zu betreiben, »klammert man sich« hausbacken an Antifaschismus. Die Antifaschisten verhindern also direkt, dass es mit der Finanzierung der Einheit vorangeht; sie sind verantwortlich dafür, dass »nicht gelingen kann, was nicht gelingen darf«, wie sie noch einmal – in direkter Anlehnung an Nolte – formuliert.
Über einen zwanzigzeiligen Abschnitt, in dem B. Seebacher-B. sechs Mal mit dem Begriff »Normalität« herumfuchtelt, kann ich gar nichts sagen, außer dass ich ziemlich froh bin, nicht zu den Normalen zu gehören, denen der syntaktisch vertrackte und total-normale Rat gegeben wird: »Wer sich nicht als Deutscher fühlt, wird nie lernen, ein Europäer zu sein und der Welt zugewandt«. Albaner, Finnen und Portugiesen sollen bereits wie verrückt Deutsch lernen, Le Monde, Times und der Corriere della Sera erscheinen ob dieser Drohung ab sofort in deutscher Sprache, damit deren Leser nicht ausgebürgert werden aus dem Seebacher-B.-Europa.
Alpinisten wissen: Wer einen steilen Einstieg wählt, stürzt eher ab. B. Seebacher-B. nahm die Vaterlandsroute und strauchelte schon beim fünften Schritt über die vermeintlich unbeantwortbare Frage, »für welches deutsche Vaterland ... die Armee preisgegeben« worden sei. Preisgegeben? Wer wen? Dass Teile der Armee sich keiner bis jetzt bekannt gewordener Verbrechen schuldig gemacht haben, ändert natürlich gar nichts an der wissenschaftlich erhärteten Tatsache, dass zwischen Hitlers Herrschaft und dem ganz überwiegenden Teil der Wehrmachtführung kein Haar Platz hatte. Der mainstream arrangierte sich nach unwesentlichen Reibungen zu Beginn bestens mit dem Gefreiten als neuem Chef. Der Widerstand war ehrenwert, aber doch bescheiden.
Weil der Widerstand so minimal war, versuchen Pfiffige immer wieder den Umweg über den »nationalen Verrat«. Wie allerdings die tonangebende »nationale Opposition« (wie NSDAP und Deutschnationale sich nannten), die im Juli 1932 fast 45 % der Stimmen erreichte, ausgerechnet »nationalen Verrat« begehen sollte (an sich selbst?), nachdem sie im Januar 1933 an die Macht gekommen war und unter dem Beifall einer nicht mehr messbaren, aber auf jeden Fall deutlichen Mehrheit Deutschland zügig deutscher machte, bleibt ein Geheimnis. Im Detail liegt B. Seebacher-B. fernab von Tatsachen und behauptet z. B., sozialdemokratische Opfer des Terrors fehlten in »jeder Aufzählung«. Das Gegenteil ist richtig: Jedes halbwegs anständige Buch über die Naziherrschaft enthält detaillierte Angaben – verleugnet oder vergessen werden da schon eher andere (Sinti, Roma, Russen, Polen, Kommunisten und Schwule).
Schon vor derlei Proseminar-Kapriolen stürzte die Rednerin ins Bodenlose, wie jeder, der noch glaubt, mit der Nation festen Boden zu betreten: »Aber zu gedenken ist – aller Opfer, die in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebracht wurden«. Wem hat zunächst die kaiserliche Armee, dann die Wehrmacht welche denkwürdigen »Opfer gebracht«? Die jetzt zu erwartende erneute historische Revision, dieses Mal unter dem Banner der »Ideen von 1989« kündigt sich einigermaßen flott an mit der Umwidmung deutscher Angriffskriege zum Opfergang. Genau diesen Verdacht hatten wir immer schon bei den Veranstaltungen unter der Firma »Volkstrauertag«. Es ging nie um die wirklichen Opfer, weder um die eigenen und schon gar nicht um die fremden, sondern um ein staatliches Trauertheater, in dem die Niederlagen in zwei selbst provozierten Kriegen »zustimmungs- und gemeinsinnsfähig« (Lübbe) inszeniert wurden. Und weil man an Niederlagen ungern einfach als Niederlagen erinnern mochte, wählte man namenlose Opfer als Staatsfeierstunden-Dekoration. Diese kann man – Schützen und Erschossene amalgamierend wie in der verlogenen, seit 1969 offiziellen Formel von den »Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« – risikolos als die »in diesem Jahrhundert in deutschem Namen gebrachten Opfer« instrumentalisieren. Das erklärt auch die von B. Seebacher-B. pompös als Ouvertüre präsentierte Fanfare von der Einzigartigkeit der Veranstaltung (»Kein anderes Volk der Welt hat sich je vorgenommen, an einem einzigen, regelmäßig wiederkehrenden Tag seine Toten zu betrauern«). Welcher andere (Nachfolger-)Staat muss einen ganz und einen maßgeblich verschuldeten Weltkrieg als Opfergang kaschieren?