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Apfelstecher

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Das zweite Opfer innerhalb einer Woche!

Christine schaute vom Schleißheimer Anzeiger auf, einer kostenlosen Regionalzeitung des Münchner Nordens, die sich durch Werbung und Kleinanzeigen finanzierte. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie hochrechnete, wann bei dieser Rate die Bevölkerung von Unterschleißheim ausgelöscht sei. Bei 31.000 würde das ganz schön lange dauern! Etwas erschrocken über ihre makabren Gedanken widmete sie sich wieder dem Bericht in dem dünnen Blatt.

Am Freitag war ein Fünfzehnjähriger erstickt. Mit geschwollenem Rachen genau wie davor am Mittwoch diese Rentnerin. Wespengift. Kamen die asiatischen Wespen jetzt schon bis nach Oberbayern? Christine war erschüttert. Der Reporter hatte sie sensationslüstern als „Killerbienen“ bezeichnet und damit den drei Zentimeter langen schwarzen Insekten mit dem besonders harten Chitinpanzer Unrecht getan. Bei den Obduktionen waren keine Einstiche im Mund oder sonstwo gefunden worden. Auch hatten andere Bewohner der kleinen Stadt im Norden des Dreiecks zwischen den Autobahnen A9, A92 und A99 unter Erstickungsanfällen oder zumindest einem geschwollenen Rachen gelitten, aber nichts davon berichtet, sie hätten mit Insekten zu tun gehabt.

Christine beugte sich vor, griff blind in die Obstschale in der Tischmitte und lehnte sich mit dem Apfel in der Hand wieder zurück, wollte weiterlesen. Ein herzhafter Biss in das frische Obst würde ihre Müdigkeit vertreiben, der Saft sie erfrischen. Bei der schwülwarmen Sommerluft, die sich durch die Balkontüre in ihr Wohnzimmer drängte, eine Wohltat. Kaum jedoch durchdrangen ihre Zähne die knackige Schale des rotgelben Fuji, setzte sie sich ruckartig wieder auf, riss die Arme hoch und warf Zeitung und Apfel in entgegengesetzte Richtungen von sich. Urplötzlich hatte sie dieses pelzige Gefühl am Gaumen, das sich rasend schnell im Mund bis hinter den Rachen verbreitete und ihr die Kehle zuschnürte.

Sie sprang von ihrem Stuhl in der Essecke auf, hastete in die Küche und hielt den Mund unter den Wasserhahn. Der erste Schluck war lauwarm, aber schnell war das abgestandene Wasser aus der Leitung abgelaufen, frisches, kaltes floss nach. Christine hangelte das Geschirrtuch vom Griff des Backofens, auf dem es hatte trocknen sollen, hielt es unter den kühlen Strahl und schlang es sich um den Hals, zwang die Schwellung zurück. Obwohl alles keine halbe Minute dauerte, kam es ihr wie Ewigkeiten vor, bis sie wieder atmen konnte.

»Geronimo«, rief Christine schon, bevor sie den Obst- und Gemüseladen ganz betreten hatte, »was ist mit deinem …« Sie brach mitten im Satz ab, als sie in das verstörte Gesicht des Inhabers schaute.

»Guillermo, Wilhelm«, hatte er sie verbessern wollen, einem eingespielten Ritual zufolge.

Guillermo war nicht nur Christines Obsthändler ihres Vertrauens, sie waren auch Vertraute. Nach dem Tod seiner Frau vor sechs Jahren hatte er mit seiner Tochter den kleinen galizischen Küstenort San Vicente auf der hundekopfförmigen Halbinsel O Grove im Atlantik zwischen La Coruña und der portugiesischen Grenze verlassen, um sich in Oberbayern, wo er einen ebenfalls spanischen Freund hatte, niederzulassen. Pepe aus Valencia führte im Unterschleißheimer Industriegebiet einen gutgehenden Obst- und Gemüseimport. Trotzdem kaufte Guillermo alles, was auch Süddeutschland hergab, lieber auf dem Münchner Großmarkt. Er wollte der Umwelt etwas Gutes tun, Transportwege vermeiden und Produkte der Region verkaufen.

Geronimo war zwischen den beiden sein Spitzname geworden, da Christine bei ihrem ersten Treffen seinen Namen nicht behalten hatte und ihn beim zweiten Rendezvous wie den vor über hundert Jahren verstorbenen Kriegshäuptlings der Apachen angesprochen hatte.

Heute aber war ihm die Lust auf das Ritual gründlich vergangen. Es war Dienstag, der einzige Arbeitstag der Woche, an dem Christine nicht zu arbeiten brauchte. »Nicht in die Schule zu gehen«, wie sie sich immer ausdrückte. Seit letztem Dienstag hatten sie sich nicht mehr gesehen, eigentlich freute er sich über ihr Erscheinen, aber etwas lag ihm an diesem Vormittag schwer im Magen.

Noch früher war die Polizei in seinem Laden erschienen, nicht die uniformierten Gesetzeshüter aus dem Kommissariat im benachbarten Oberschleißheim, sondern die Kriminalpolizei aus dem Polizeipräsidium München, und das in Begleitung zweier Herren des Kreisverwaltungsreferats der Landeshauptstadt, Abteilung Lebensmittelüberwachung. Eine halbe Stunde hatte die Befragung gedauert, Guillermo war schweißgebadet, als sie den Laden wieder verließen. Sieben Kisten Äpfel hatten sie abgefahren, seinen gesamten Vorrat.

Christines Anrede konnte ihn nicht ansatzweise aufheitern.

»Irgendetwas ist mit deinen Äpfeln«, hörte er Christine sagen. Sie beschrieb ihm das pelzige Gefühl an Gaumen und im Rachen, lebte ihm ihren Erstickungsanfall in Gesten noch einmal vor. Auf diese Symptome hatten ihn auch die Kriminalbeamten angesprochen, und die Herren von der Lebensmittelkontrolle vermuteten einen Pilz. Dem widersprachen die Kriminologen im Hinblick auf die vorliegenden forensischen Erkenntnisse vehement, und man war erst wieder einer Meinung, nachdem sie die Obstkisten in dem kleinen Kombi verstaut hatten.

Christine hing an seinen Lippen, als er ihr von den Klagen einiger Kunden erzählte, denen die Äpfel zugesetzt hatten. Er wusste, dass es ein hartnäckiges Gerücht war, Allergiker würden grüne Äpfel nicht vertragen. Und Fuji – grüne Äpfel? Er hatte ihnen nicht widersprochen, weil ihm das Wespengift als Ursache aus der Presse schon bekannt gewesen war, er aber seine Kunden nicht dadurch vergraulen wollte.

»Jemand hat meine Äpfel vergiftet!« Guillermo war den Tränen nahe, seine Rede kam stockend, manchmal versagte ihm für einige Augenblicke die Stimme. »Zuerst hatte ich den neuen Inhaber des kleinen Supermarktes am Ende der Bezirksstraße im Verdacht, dachte, dass er seine Konkurrenz aus dem Geschäft drängen wollte. Dann aber fiel mir der Junge auf, der immer wieder nach der Schule vor meinem Laden herumlungerte, mal direkt neben dem Eingang, mal auf der anderen Straßenseite genau gegenüber. Der hatte mit Sofía Magdalena anbandeln wollen. Mein Gott, sie ist erst zwölf! Ich hatte ihn zur Rede gestellt und hab´ ihm den Kopf gewaschen. Das war vor zwei Wochen, und letzte Woche erwisch´ ich ihn, wie er mir in der Auslage draußen faule Äpfel in die Kisten schmuggelt!«

Was Guillermo Christine nicht erzählte, war, dass er den Halbwüchsigen am Freitag gestellt hatte, als der die Hand in einer der Obstkisten hatte. Er hatte ihn in den Laden gezerrt, ausgeschimpft und anschließend gezwungen, drei Äpfel zu essen. Fuji. Als der Junge sich an den Hals fasste und nach Luft zu schnappen begann, hatte er ihn auf die Straße geschoben. Schwankend hatte er noch die Fassaden dreier Geschäfte passiert, dann war er zusammengebrochen. Guillermo war hinzugesprungen, nachdem er bis zum letzten Augenblick in seiner Ladentür gewartet hatte. Er hatte die verdrehten Augen des Jungen gesehen, das blau anlaufende Gesicht, und spät genug den Notarzt gerufen. Der Junge wurde das zweite Opfer seiner Fuji. Das, fand Guillermo, war eine gerechte Strafe, denn immerhin, davon war er überzeugt, hatte der Junge die Äpfel vergiftet, um ihm eins auszuwischen, weil er ihm den Umgang mit seiner Tochter verboten hatte.

Seine Tochter … Guillermos Gedanken schweiften zu der Zwölfjährigen. Sofía Magdalena. Ein schöner Name. Damals war er nicht nur glücklich gewesen über die Geburt seiner Tochter, sondern auch stolz darauf, sich seiner Frau gegenüber durchgesetzt zu haben, die die Neugeborene Maria Irgendetwas taufen lassen wollte. Guillermo war entsetzt, denn schließlich hieß jede zweite Spanierin Maria Irgendetwas, was regelmäßig, der Unterscheidbarkeit zuliebe, in etlichen Namenszusammenziehungen verballhornt wurde. Sofía Magdalena war etwas Besonderes, die diesen Standard nicht verdiente, wie sie später und auch heute noch täglich bewies. Intelligent, Klassenbeste, interessiert besonders am Schwierigen, hatte sie ausgerechnet Biochemie zu ihrem Lieblingsfach erkoren. Es machte ihn stolz, wenngleich auch ein wenig hilflos. Wenn sie davon schwärmte, was man mit einfachen Mitteln alles bewerkstelligen konnte, war er nicht in der Lage, ihr zu folgen.

Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen.

»Herr Fernandez García?« Der Mann druckste herum, beugte sich mal vor und mal zurück und wiegte den Oberkörper hin und her. Die Unsicherheit in Person.

»Ja, bitte.«

Nun erst bemerkte Guillermo auch die Frau mittleren Alters, die sich mit gedämpfter Stimme mit Christine unterhielt. Er kannte sie vom Sehen, eine ihrer Kolleginnen, ebenfalls Lehrerin am Carl-Orff-Gymnasium.

Der Mann stellte sich als Leiter der Schule vor, die Dame sei in seinem Lehrerkollegium, sein weiterer Begleiter der Seelsorger der St. Ulrich-Kirche hinter der Le-Cres-Brücke. Guillermo blickte ratlos zwischen den drei Besuchern hin und her.

»Können wir reingehen?« Beinahe panisch schaute der Oberstudiendirektor in die Runde.

Mit einer Handbewegung drängte Guillermo die kleine Gruppe in den Laden, er folgte und zwängte sich an ihnen vorbei. Der Ladentisch sollte ihm als Bollwerk dienen, denn für heute hatte er genug von unerwartetem Besuch. Diesen konnte er aber nun nicht mehr abwehren. Der Seelsorger schloss die Ladentür und dreht das kleine Plastikschild an der Kette von Geöffnet auf Geschlossen. Dann wandte er sich Guillermo zu.

»Herr Fernandez García«, begann er, »es ist wegen ihrer Tochter.« Er schaute hilflos zur Lehrerin neben sich, rieb fahrig eine Hand in der anderen.

»Sie hatte eine Freistunde und war allein in einem Klassenzimmer«, nahm Christines Kollegin das Wort. »Als wir sie gefunden haben, war sie schon, war sie schon … tot. Der Notarzt sagt erstickt. Neben ihrem Rucksack, dem Pausenbrot und dem angebissenen Apfel lag ihr Block.« Ihre Stimme bebte. Sie reichte ihm mit unsicherer Hand das kleine Ringbuch.

Auf der aufgeschlagenen Seite erkannte er die Schrift seiner Tochter. Ihre letzten Gedanken, niedergeschrieben in ungewohnt zittriger Handschrift:

Papa,

ich hab nicht gewollt, dass jemandem was passiert. Ich wollte nur, dass du deinen Laden schließt und mit mir wieder nach San Vicente ziehst.

Ich hab dich lieb.

Sofía Magd

Sein Herz setzte aus. Sofía Magdalena aß nie Fuji. Aber als er ihr heute Morgen das Pausenbrot zubereitete, hatte er in diese Kiste gegriffen, weil er von ihren Lieblingsäpfeln keine mehr hatte.

Schmunzelmord

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