Читать книгу Die Liste vor der Kiste - Ruediger Dahlke - Страница 4
ОглавлениеLebe, als würdest du morgen sterben.
Lerne, als würdest du ewig leben.
Mahatma Gandhi
Es gibt ein Leben vor dem Tod. Wäre es da nicht gut, es auch zu leben – und es vor dem Tod zu einem runden Abschluss zu bringen? Statt also Mitte dreißig bereits tot zu sein und sich erst in seinen Achtzigern tatsächlich eingraben zu lassen, erscheint mir als ein lohnendes Ziel, sich die von Paulo Coelho erdachte Grabinschrift zum Vorbild zu nehmen. Für meine Person würde sie lauten:
Ruediger Dahlke
Er lebte noch, als der starb
Damit ist nichts anderes gemeint, als dass wir vor dem Tod alles ins Hier und Jetzt hineinpacken dürfen – um vollen Herzens auf diese spannende Entdeckungsreise zu gehen, die wir so mutig und manchmal anmaßend Leben nennen. So viele große und kleine Dinge gäbe es zu erleben. Das vergessen wir viel zu schnell.
Wir sollten uns bewusst werden, was wir eigentlich möchten und wozu wir einmal angetreten sind. So empfehle ich, sich dafür möglichst lange vor der »Kiste« eine Liste anzulegen, die noch ausstehende Träume, Hoffnungen und unbedingt abzuhakende Punkte enthält. Für uns Bedeutsames darf nicht in Vergessenheit geraten, damit sich am Ende nicht ein Stau von Unerledigtem ergibt, wie er Sterbenden oft zu schaffen macht.
Wir sollten uns auch nicht scheuen, sogar die ganz großen Träume und hochfliegenden Wünsche auf diese Liste zu setzen. Die beste Einstimmung darauf ist ein wundervoller Text von Marianne Williamson aus ihrem Buch Rückkehr zur Liebe. Ihn wählte Nelson Mandela einst für seine Inaugurationsrede, um Mut zu machen für seinen Traum von einem (be)frei(t)en Südafrika, das er für viele unerwartet und wundervoll verwirklichte. Und nebenbei bemerkt: Dieser charismatische Mensch, der sich lebenslang von seinen Überzeugungen und Idealen leiten ließ, wurde uralt.
Unsere tiefste Angst ist nicht die, dass wir unzulänglich sind. Unsere tiefste Angst ist die, dass wir über die Maßen machtvoll sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, das uns am meisten erschreckt. Wir fragen uns: Wer bin ich eigentlich, dass ich so brillant, großartig, talentiert, fabelhaft sein sollte? Aber wer sind Sie denn, dass Sie es nicht sein sollen? Sie sind ein Kind Gottes. Wenn Sie sich kleinmachen, dient das der Welt nicht. Es hat nichts von Erleuchtung an sich, wenn Sie sich so schrumpfen lassen, dass andere Leute sich nicht mehr durch Sie verunsichert fühlen. […] Wir sind dazu geboren, die Herrlichkeit Gottes in uns zu verwirklichen. Sie existiert in allen von uns, nicht nur in ein paar Menschen. Und wenn wir unser eigenes Licht leuchten lassen, erlauben wir auch unbewusst anderen Menschen, das Gleiche zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Furcht befreit sind, befreit unsere Gegenwart automatisch auch andere.
Einige Jahrhunderte zuvor hatte Michelangelo Buonarroti, einer der größten Künstler der Welt, erkannt:
Die große Gefahr für die meisten von uns ist nicht,
dass unsere Ziele zu hoch sind und wir sie nicht erreichen,
sondern dass sie zu niedrig sind und wir sie erreichen.
Der Autor Alan A. Milne, »Vater« von Winnie Puuh und Tigger, gab Kindern folgende Zeilen mit:
Versprich mir, dich immer zu erinnern:
Du bist tapferer als du glaubst,
stärker als du scheinst,
klüger als du glaubst.
Und das gilt für alle Kinder – kleine wie große.
Die Tatsache, noch nicht in Zeitnot zu sein, noch von keiner Diagnose in Enge und Angst getrieben zu werden, kann Mut machen und Kraft schenken. Wir können gleich anfangen, unsere Liste aufzustellen und uns nach ihr zu richten – und zwar ohne falsche Bescheidenheit und Angst. Es ist nicht ratsam, alle Wünsche und Träume (ewig) aufzuschieben, bis es irgendwann (zu) spät ist. Wir haben heute, in diesem Moment, nichts zu verlieren und alles zu gewinnen.
Die großen spirituellen Traditionen legen uns nahe, mit allem eins zu werden. Zum Schluss müssen wir uns sowieso mit allem aussöhnen, uns in allem wiederfinden, mit allem einverstanden sein und erkennen, dass wir vom Göttlichen nicht getrennt sind. Hindus nennen das tat tvam asi (wörtlich: »Du bist das«), und sie meinen damit »Du bist göttlicher Natur«. Dieses Erkennen der Wirklichkeit entspricht auch dem Christus-Bewusstsein. Christen haben das Ziel, ihre Nächsten wie sich selbst zu lieben und sich beziehungsweise ihren Meister Christus im Geringsten ihrer Mitmenschen zu erkennen und sich in Christus und Gott in sich. »Das Himmelreich Gottes ist in euch«, heißt es in der Bibel. Klarer und deutlicher könnte es nicht ausgedrückt werden, und so hat falsche Bescheidenheit hier keinen Platz. Wir sind sozusagen von ganz oben angehalten, alles zu wagen, um das (ewige) Leben zu gewinnen, und zwar lange vor dem Tod. Wir müssten nur wollen und uns trauen.
Wozu also warten, bis der Druck wächst? Wer sich das nicht ein- und zugesteht, wird im Laufe des Lebens die Erfahrung machen, dass unsere Entwicklung in Richtung Kraft und Mut von außen angemahnt wird. Solch einem unnötigen Druck bräuchten wir uns gar nicht auszusetzen.
Das Damoklesschwert des Todes hängt von Anfang an über uns (allen). Es zu verkennen ist ebenso naiv wie ungeschickt. Wer jedoch den Tod als letztes und sicherstes Lebensziel akzeptiert, hat die bessere Ausgangsposition. Angelus Silesius, der dichtende »schlesische Engel«, sagt es deutlich:
Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, bevor er stirbt.
Und Goethe, der Deutschen Dichterfürst gibt uns zu bedenken:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Dabei ist uns das Muster schon aus Schulzeiten bekannt. Zum Beispiel wenn wir die Erledigung von Hausaufgaben bis zum letzten Moment aufschoben, um dann unter großer Anspannung noch alles auf den letzten Drücker hinzubiegen. Der letzte Drücker aber macht Druck, und das Ergebnis ist deshalb oft wenig überzeugend. Unter Druck werden nur wenige wirklich gut. Jeder kennt das Dilemma, und so lautet der zwar bekannte, aber selten befolgte Rat: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.« Der weiseste Rat aber ist: »Alles zu seiner Zeit.« Doch wann ist die rechte Zeit für Träume, Wünsche und Visionen? Dazu gibt in unserer Kultur die Bibel (Prediger 3, 1-7.12) eine Antwort:
Alles hat seine Zeit und jegliches Vornehmen unter dem Himmel seine Stunde.
Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit;
Pflanzen hat seine Zeit, und Gepflanztes ausreuten hat seine Zeit;
Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit;
Zerstören hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit;
Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit;
Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit;
Steine schleudern hat seine Zeit, und Steine sammeln hat seine Zeit;
Umarmen hat seine Zeit, und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit;
Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit;
Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit;
Zerreißen hat seine Zeit, und Flicken hat seine Zeit;
Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit;
Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit;
Krieg hat seine Zeit, und Friede hat seine Zeit. (…)
Ich habe erkannt, dass es nichts Besseres gibt unter ihnen, als sich zu freuen und Gutes zu tun in seinem Leben …
Genauso hat auch die persönliche Liste der Lebensthemen, der Herzenswünsche, Träume, Ziele ihre Zeit. Sie sieht selbstverständlich anders aus, wenn wir dreißig sind, als wenn wir sie mit fünfzig oder sechzig Jahren oder vor der letzten Etappe des Weges formulieren. Auch die Liste einer Frau wird sich von der eines Mannes unterscheiden. Die persönliche Liste ist in jedem Fall etwas so Individuelles, dass ich in diesem Buch nur Anregungen und manchmal vielleicht (An-)Stöße geben kann.
Natürlich gibt es die Unsicherheit, wann es Zeit ist, etwas in die Realität umzusetzen. Wir könnten uns sogar fragen, ob es für uns nicht überhaupt zu spät ist. Die ungemein befriedigende und erlösende Antwort lautet: Jetzt ist die richtige Zeit, und hier ist der richtige Ort – um zu leben.