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Das Beste kommt zum Schluss
ОглавлениеDer Filmtitel Das Beste kommt zum Schluss scheint allem zu widersprechen, was der westliche Mensch so glaubt. Die Moderne hat in einem beispiellosen Jugendkult den Tod weitestgehend verdrängt. Das hat allerdings kaum jemanden glücklich und das Ende zu einem Desaster gemacht. In Heime und Asyle abgeschoben, fühlen sich die Alten, deren Zahl obendrein überproportional zunimmt, weder wohl noch angenommen. Und so werden wir entsprechend dem Schattenprinzip auch auf allen Ebenen immer mehr mit dem Thema Alter konfrontiert, gerade weil wir es nicht mögen. Daten und Fakten dokumentieren die Überalterung der Gesellschaft. Die Alterspyramide ist schon längst keine mehr, sondern zeigt Ausformungen wie ein umweltgeschädigter Baum, der mit seinen Fluchttrieben an der Spitze eine Art Storchennest bekommt. Während Hundertjährige längst keine Seltenheit mehr sind, scheinen es Paare zu sein, die mehr als zwei Kinder bekommen. Viele wollen nur ein Kind und die meisten keins. Die Renten der vielen Alten seien von den wenigen Jungen kaum mehr zu finanzieren, heißt es, und auch das lässt alte Menschen sich nicht gerade beruhigt zurücklehnen und zufrieden entspannen. Sie erhöhe ständig die Lebenserwartung, hören wir von der Schulmedizin, dabei ist es bestenfalls die Alterserwartung, die wir erhöhen. Kindheit und Jugend, die wir so schätzen, werden im Gegenteil immer kürzer. Inzwischen kommt über die Hälfte der US-Kids in die Geschlechtsreife, bevor sie zehn sind, und zwar wegen der Mast mit Tierprotein und besonders Milch(produkten) voll von Wachstumsfaktoren. Die Jugendzeit wird ebenfalls verkürzt durch Herabsetzung der Volljährigkeit, denn Politiker hoffen, zum Dank von eben diesen Jungen gewählt zu werden. Länger wird dagegen nur die Zeit von der Lebensmitte bis zum Tod und damit das Alter, das wir so gar nicht mögen und am liebsten verdrängen. Aber gerade das, was wir ablehnen, drängt das Schicksal uns nach dem Schattenprinzip auf.
Vor diesem Hintergrund behauptet nun dieser amerikanische Film gegen jeden Trend, das Beste käme zum Schluss, und belegt das auch noch mit bewegenden Bildern und dem besten, was Hollywood an Schauspielern zu bieten hat. Der Film ist wie eine Therapie(stunde), und tatsächlich lässt sich daraus mit wenig Aufwand eine wundervoll einfache, wirksame und dabei extrem (preis-)günstige Therapie fürs Leben entwickeln – und in meinen Augen brauchen wir alle Psychotherapie. Schon vor Jahrzehnten sagte der Gestalttherapeut Irving Polster, Psychotherapie sei zu schade, um Kranken vorbehalten zu bleiben. Selten hatte jemand so Recht.
Damit meine ich nun nicht, alle sollten zum Analytiker gehen. Wir brauchen weder eine weitere die archetypisch männliche und sowieso schon übermächtige linke Gehirnhälfte betonende Analyse noch neues Futter für unseren nimmersatten Intellekt. Das bringt, wie der US-Großversuch in den Achtzigerjahren gezeigt hat, erschreckend wenig, höchstens dass die Filme von Woody Allen nach unzähligen Analysestunden deutlich besser geworden sind. Ich meine hier wirkliche Therapie mit tiefem Eintauchen in die Seelen-Bilder-Welt, um Zugang zum eigentlichen Leben mit seinen Empfindungen und Gefühlen, seinen Bildern und Visionen zu bekommen. Aus solch neuem Erleben des Lebens ergeben sich andere Schwerpunkte und Perspektiven, und wir kämen zurück zur alten Einschätzung und Ordnung, wie sie etwa das klassische Indien kennt. Dort sind idealerweise die ersten einundzwanzig Lebensjahre dem Lernen vorbehalten, die zweiten einundzwanzig der Familiengründung und dem Berufsleben, die dritten einundzwanzig dem Konsolidieren des Erreichten, um sich anschließend lösen zu können. Denn mit dreiundsechzig Jahren beginnen die letzten einundzwanzig Jahre der spirituellen Vervollkommnung mit dem Höhepunkt in der (Er-)Lösung des Heimgangs, dem Tod. Dieses letzte Viertel ist der – jedenfalls für Inder – entscheidende Quadrant des Entwicklungskreises, auf den alles hinausläuft. Daran lässt die östliche Philosophie wenig Zweifel. Das wird auch noch gelebt, etwa in Bali, wo das Alter und mit ihm die Alten in hohen Ehren stehen. Insofern illustriert der Film Das Beste kommt zum Schluss eine alte Idee und schlägt eine längst überfällige Korrektur des modernen Lebens vor. Außerdem lädt er dazu ein, über seine Bilderwelten in unsere eigenen einzutauchen und beide zu verknüpfen, bis wir in Trance geraten und Trance-formation erleben, das heißt, dorthin zu gehen, wo wirkliche Psycho- im Sinne von Seelentherapie geschieht.
So gesehen bieten gute Filme eine wundervolle Chance, sich selbst besser kennen- und mehr schätzen, ja lieben zu lernen, und ich empfehle sie gern als Therapie, verbunden mit speziellen Aufgaben. Das bringt viel und kostet (fast) nichts. Tatsächlich gibt es viele brillante Spielfilme, die uns spielend und spielerisch auf die Sprünge helfen und weiterbringen können. Mir ist es jedenfalls oft so gegangen und hat mich zu einem ausgesprochenen Filmfan gemacht.
Fast immer handeln Spielfilme von fremden, aber an eigene Muster und Erfahrungen erinnernden Lebensgeschichten, die uns in Resonanz mit unseren (Ur-)Mustern beziehungsweise Archetypen bringen. So können sie Träume wecken und aufleben lassen, zu neuen Träumen verleiten und die Seele berühren; sie regen das Mitfühlen und Lernen an. Oder mit den Worten von Eleonore Roosevelt: »Die Zukunft gehört denen, die an Träume glauben.« Müsste ich einen Film aussuchen, der mir und meinen Patienten diesbezüglich am meisten geholfen hat, fällt mir sofort Das Beste kommt zum Schluss (The Bucket List) ein. Manche haben diesen Film mit Morgan Freeman und Jack Nicholson in den Hauptrollen schon gesehen. Wenn noch nicht, umso besser! Dann hat man dieses Vergnügen noch vor sich, und das erste Mal ist immer etwas Besonderes. Ich habe den Film sicher zehnmal erlebt und mag ihn eigentlich immer mehr. Er hat trotz seines Ernstes viel Witz und für Hollywood-Verhältnisse verblüffende Tiefe; er ist außerdem im Sinne der Krankheitsbilder-Deutung sehr stimmig, von wundervollen Darstellern getragen und in meinen Augen insgesamt ein Meisterwerk.
Es kann uns helfen und viel Zeitverlust im Leben ersparen, wenn wir uns einmal intensiv mit Das Beste kommt zum Schluss auseinandersetzen. In dieser Tragikomödie ist zu erleben, wie zwei Menschen verschiedenen Temperaments, unterschiedlichster sozialer Herkunft und Lebenswelt angesichts der erschreckenden Diagnose Lungenkrebs zu Freunden und Verbündeten in Sachen Lebensfreude werden. Als sie scheinbar nichts mehr zu verlieren haben, entdecken die Todkranken, was ihnen wirklich wichtig ist. Bevor sie den Löffel abgeben müssen, haben sie schnell jeweils ihre »Löffelliste« (bucket list) aufgestellt und machen sich daran, die Zeit zu nutzen, um Spaß zu haben und ihre Leichtigkeit wieder zu spüren. Das Beste für uns Zuschauer ist aber noch viel besser, denn der Film lässt uns spontan erkennen, dass wir gar nicht bis auf eine Krebsdiagnose und gescheiterte Chemo warten müssen. Wir können in diesem Moment anfangen, wirklich zu leben, unser eigenes originelles, ganz persönliches Leben.
Eigentlich ist The Bucket List der Film zum Buch oder Die Liste vor der Kiste das Buch zu diesem himmlischen Film. Himmlisch, weil er uns tatsächlich mit dem Himmel, unserer Bestimmung, verbinden kann und dazu noch mit unseren Wurzeln im irdischen Leben. Jedenfalls rate ich, ihn sich als anmachende, im Sinne von öffnender Übung zur Eigenentwicklung erst- oder nochmals anzuschauen. Anmachend auch, weil uns diese »Filmtherapie« wieder einschalten kann, falls wir schon abgeschaltet und uns aus Leben und Entwicklung ausgeklinkt haben. Wichtig ist, sich zuvor Papier und Stift bereitzulegen, denn gleich nach dem Anschauen des Films geht es um die eigene, ganz persönliche Liste vor der Kiste. Sie kann zu wundervoller Lebenshilfe werden – ich persönlich habe meine Liste immer dabei.
Und jetzt rate ich, den Film auf sich wirken zu lassen mit all seinen kleinen Feinheiten und Stimmigkeiten und gleich anschließend in dieser Stimmung, die erste eigene »Lebensliste« zu erstellen oder sie zu überarbeiten und zu ergänzen. Nach dem Filmerlebnis befinden wir uns sowieso in einer Art Trance und können den musikalischen Abspann nutzen, um in dieser angerührten Stimmung einen Moment der (Selbst-)Ehrlichkeit – vielleicht statt sonst üblicher Selbstherrlichkeit – zu genießen und offene Wünsche Punkt für Punkt zu Papier zu bringen, sogar die ganz großen. Wer mag, kann anschließend auch noch mit anderen über seine Liste sprechen. Unter Umständen wird er wie der Filmheld Edward Cole (Jack Nicholson) einen Partner finden für eine gemeinsame Reise zur Verwirklichung (noch) ungelebter Träume. Hier liegt nur dann eine Gefahr, wenn jemand wie der andere Filmheld Carter Chambers (Morgan Freeman) die eigene Frau als Kompagnon wählt beziehungsweise sie ihn. Das wird in solch einem Fall von Dominanz nicht gutgehen, da das alte Muster der Verhinderung von Lebens- und Selbstverwirklichung dadurch nur noch stabilisiert wird. Aber es könnte natürlich auch der eigene Partner sein, wenn beide sich idealerweise wirklich die Freiheit schenken, ureigene Erfahrungen zu machen, und sich einander zugestehen und gönnen zu leben, was noch offengeblieben ist. Und wenn beide Partner zwischendurch immer wieder am gleichen Strang ziehen, kann eine gemeinsame Lebensliste eine große Liebe noch vertiefen und bereichern.