Читать книгу Unser Sommer im Mirabellengarten - Rumer Godden - Страница 2
I
ОглавлениеImmer wieder, während des ganzen heißen Augusts in Frankreich, überaßen wir uns an den Mirabellen. Joss und ich fühlten uns schuldig. Wir waren noch in dem Alter, in dem wir Gier für ein kindliches Laster hielten, und diese Annahme gab unserem Schuldgefühl einen Beigeschmack von Hoffnungslosigkeit, denn bis dahin hatten wir geglaubt, dass wir unsere Laster mit den Jahren verlieren würden. Aber keines von ihnen verschwand. Hester schämte sich natürlich gar nicht, Will – der damals noch Willymaus genannt wurde – und Vicky waren noch zu klein, um auch nur die untersten Zweige zu erreichen, aber sie fanden die heruntergefallenen Früchte im Gras. Uns allen war es streng verboten, auf die Bäume zu klettern.
Der Garten von Les Œillets war dreigeteilt: Zuerst kam die Terrasse und der von Kieswegen durchzogene Garten, der das Haus umgab; dahinter und durch eine niedrige Buchsbaumhecke von ihm abgetrennt lag die Wildnis mit ihren Statuen und zugewachsenen Pfaden, und zwischen der Wildnis und dem Fluss der von hohen Mauern umgebene Obstgarten. Ein blau gestrichenes Tor am Ende der Mauer führte zum Ufer des Flusses.
Uns erschien der Obstgarten riesengroß, und er mag es auch wirklich gewesen sein, denn die Mirabellenbäume allein bildeten sieben Alleen. In dem hohen Gras unter ihnen lag selbst in diesem brennend heißen Sommer den ganzen Tag lang der Tau. Die Bäume waren alt, krumm, mit Flechten und Moos bedeckt, aber ihre Früchte werde ich nie vergessen. Im Speisesaal des Hotels baute sie Mauricette auf den mit Weinblättern ausgelegten Desserttellern zu wundervollen Pyramiden auf. »Reines-claudes«, sagte sie deutlich, sooft sie den für uns bestimmten Teller auf den Tisch stellte, damit wir uns den Namen der Früchte einprägten, aber wir hatten uns an ihnen schon vorher so satt gegessen, dass wir nicht zugriffen. Im Obstgarten brauchten wir die Früchte nicht zu pflücken – sie fielen von den Bäumen in unsere Hände.
Im Schatten sah man, dass die Mirabellen mit einem blassblauen Reif bedeckt waren, aber in der Sonne leuchtete das Fruchtfleisch bernsteinfarben durch die hellgrüne Haut. Wenn diese geplatzt war, schmeckte der Saft besonders warm und süß. Kein Wunder, dass wir, die aus den Straßen und kleinen Vorgärten von Southstone kamen und noch nie einen Obstgarten gesehen hatten, viel zu viele aßen.
»Die übliche Sommerkrankheit«, sagte Mademoiselle Zizi.
»Magenverstimmung«, sagte Madame Corbet.
Ich weiß nicht, ob es das eine oder das andere Leiden war, aber von da an hieß es in unserer Familie nur der »Mirabellensommer«.
»Wenn jemand die Geschichte dieses Sommers aufschreiben sollte, dann du«, sagte ich zu Joss, »denn sie ist hauptsächlich dir passiert.« Aber Joss sagte: »Ausgeschlossen«, wie sie immer alles ablehnt oder mit sich allein ausmacht, sodass niemand weiß, was sie wirklich denkt.
»Du bist es doch, die so gern in Worten schwelgt«, fuhr sie fort. »Und außerdem …«, sie machte eine kleine Pause, »… ist sie dir genauso passiert wie mir.«
Darauf wusste ich keine Antwort. Ich bin jetzt erwachsen – oder doch beinahe erwachsen –, »und wir können es noch immer nicht vergessen!«, sagte Joss.
»Die meisten Menschen erleben … das … nicht einmal in dreißig oder vierzig Jahren«, sagte ich zu unserer Verteidigung.
»Die meisten Menschen erleben es überhaupt nicht«, sagte Joss.
Wenn ich das, womit ich gerade beschäftigt bin, für einen Augenblick unterbreche, wann immer ich still sitze oder nachts wach liege, was seit damals immer wieder vorkommt, und meine Gedanken kreisen lasse, bin ich zurück in Les Œillets. Ich rieche noch immer den heißen Staub und den kühlen Putz der Mauern, den Duft von Jasmin und sonnenbeschienenen Buchsbaumblättern und von Tau im hohen Gras, das Aroma von Monsieur Armands Kochkünsten, das Haus und Garten erfüllte, und die Gerüche von dem Haus selbst, nach feuchter Wäsche und Möbelpolitur, in die sich immer auch ein bisschen der Gestank der Kanalisation mischte. Ich höre noch immer die Geräusche, die anscheinend nur in Les Œillets zu hören waren: das Rauschen der Pappeln entlang der Hofmauern, das Plätschern einer Wasserleitung in der Küche, vermischt mit dem Klang schriller französischer Stimmen, das dumpfe Getrommel, das Rex mit seinem Schweif auf dem Fußboden vollführte, und andere Klopflaute, wenn jemand unten am Fluss Wäsche wusch; das Tuten der flussaufwärts fahrenden Schleppkähne und Mauricettes tonlosen Singsang – sie sang immer durch die Nase –, das rasche, schnatternde Französisch, in dem sich Toinette und Nicole von Fenster zu Fenster im ersten Stock miteinander unterhielten, die fernen, gedämpften Geräusche des Städtchens und – ganz nah – den Plumps eines springenden Fisches oder einer zu Boden fallenden Mirabelle.
»Aber ihr seid doch sehr froh gewesen, wieder zurückzukommen«, sagte Onkel William.
»Wir sind nie zurückgekommen«, sagte Joss.
Das Sonderbare an der Sache ist, dass Joss und ich, als alles in Les Œillets vorüber war, noch immer sechzehn und dreizehn Jahre alt waren – genauso alt wie an jenem erstickend heißen Abend Anfang August, an dem wir ankamen. Wir – das waren Mutter, Joss, Hester, die beiden Kleinen, Willymaus und Vicky, und ich: Cecil. Es muss neun Uhr abends gewesen sein.
»Warum kommt ihr so spät?«, fragte Mademoiselle Zizi. »Tagsüber verkehren genug Züge.«
»Wir wollten in der Gare de l’Est warten, bis sich Mutters Zustand gebessert hat.«
»Aber er hat sich nicht gebessert«, sagte Willymaus.
»Und wir hatten den ganzen Tag nichts zu essen«, sagte Vicky. »Nichts als Brot und ein bisschen scheußliche Wurst.«
»Und die Orangen, die wir auf die Reise mitgenommen hatten«, sagte Hester, die in allen Dingen sehr genau ist. »Zwölf Orangen. Wir haben sie im Zug gegessen.«
Mademoiselle Zizi schauderte, und mich ließ der Gedanke, in die Kategorie jener Familien eingeordnet zu werden, die im Zug Orangen essen, vor Scham erröten.
Vor dem Bahnhof standen keine Taxis, aber nach einer verweifelten Viertelstunde, an die ich nicht gern denke – der ganze Tag war wie ein böser Traum gewesen –, fand sich ein Träger, der bereit war, unser Gepäck auf einem Handkarren ins Hotel zu bringen.
Als unsere kleine Prozession den Bahnhof verließ, begann es zu dämmern. Männer kamen vom Angeln zurück, Frauen standen plaudernd in den Haustüren oder in ihren sonderbar ordentlich angelegten Gärten, wo Gladiolen und Zinnien, die im Zwielicht seltsame Färbungen annahmen, hinter Eisengittern zu schweben schienen. »Franzosen haben keine Gärten«, sagte Onkel William später einmal, »sie züchten Blumen.« Kinder spielten auf den Straßen. Willymaus und Vicky starrten sie verwundert an. Ich glaube, sie bildeten sich ein, die einzigen Kinder auf der ganzen Welt zu sein, die zu so später Stunde noch nicht im Bett waren.
Rings um uns war der Trubel der fremden Stadt, der fremden Häuser und fremden Straßen. Auch wir wurden angestarrt, aber wir fühlten die Blicke der Leute nicht. Wir fühlten gar nichts. Unsere Körper schienen nicht zu uns zu gehören, sondern getrennt von uns weiterzulaufen, während wir wie die Blumen im Dämmerlicht schwebten. Vielleicht waren wir zu müde, um irgendetwas fühlen zu können.
Der Handkarren holperte über das Straßenpflaster, das wir als unverkennbar französisch erkannten, obwohl wir nie zuvor auf solchem Pflaster gegangen waren. Sooft der Träger in eine neue Straße einbog, stöhnte Mutter leise auf. Der Weg erschien uns endlos, und als wir schließlich die Pforten des Hotels erreichten, brannte bereits Licht in den Häusern, und die meisten Türen waren geschlossen. In Les Œillets wurden die Hunde jeden Abend um neun Uhr ins Freie gelassen, die äußeren Tore geschlossen, und nur eine kleine Pforte blieb offen, durch die der Handkarren nicht einfahren konnte. Wir mussten, noch immer von unseren Körpern losgelöst, warten, während der Träger läutete.
Wir hörten das Klingeln und gleich darauf tiefes Hundegebell. Damals kannten wir Rita und Rex natürlich noch nicht, aber wir wussten sofort, dass es das Bellen großer Hunde war. Zwei Stimmen geboten ihnen Ruhe, eine schrille weibliche und die tiefere Stimme eines Mannes – oder eines Jungen, der mit der Stimme eines Mannes sprach. Diese Vermutung erwies sich als richtig, denn es war ein großer Bursche, der schließlich erschien. Seine weiße Schürze, die wir schimmernd auf uns zukommen sahen, schlappte um seine Beine, seine Schuhe schlappten auch, und eine Strähne seines Haars fiel ihm über die Augen, als er sich vorbeugte, um den Riegel zurückzuschieben. Er hielt die Gartentür für uns auf, und als wir an ihm vorbeigingen, schlug uns ein Geruch entgegen von Schweiß, Zigaretten und … »Sind das Zwiebeln?«, flüsterte ich.
»Nein, Knoblauch«, flüsterte Hester zurück. »Erinnerst du dich nicht an die Wurst in der Gare de l’Est?« Der Bursche war schmutzig, ungepflegt und lächelte nicht.
Dann gingen wir in das Hotel und – »Guter Gott! Ein ganzes Waisenhaus!«, sagte Eliot.
Bei einer späteren Gelegenheit entschuldigte er sich für diese Äußerung. »Ihr hattet doch alle graue Flanellkleider an«, sagte er und fragte: »Warum hattet ihr alle graue Flanellkleider an?«
Hester schaute zu ihm auf. »Vielleicht waren Sie sehr lange nicht in England«, sagte sie leise. »Es waren unsere Schuluniformen.«
In England waren wir – Joss ausgenommen – stolz auf sie gewesen. Es gibt zwei Kategorien von Familien: Für die einen bedeutet die Schuluniform eine Verschlechterung, sie gibt ihnen das Gefühl, genauso zu sein wie jedermann sonst; die anderen empfinden sie als eine Verbesserung, als eine bessere, vollständigere Ausstattung, als sie je zuvor besessen haben. Wir gehörten zu der zweiten Kategorie. Die graue Jacke und die kurze Hose für Willy, unsere von St. Helena vorgeschriebenen grauen Mäntel, Röcke und Hüte waren unsere besten Kleider, die einzigen, die sich für eine Reise eigneten.
»Andere Mädchen haben noch andere Kleider«, sagte Joss oft.
»Nicht wenn ein Onkel William sie bezahlt«, sagte Mutter.
Im Augenblick schossen Joss’ Augen hasserfüllte Blitze auf Eliot, obwohl man von ihm nicht erwarten konnte zu wissen, wen er vor sich hatte. Unsere Schulhüte hatten die Form von Suppentellern. Vicky sah mit ihrem aus wie ein Pilz mit zwei Beinen, wogegen Joss’ Hut auf ihren vielen dunklen Haaren zu klein wirkte und, da er ihre Stirn frei ließ, sie fast hässlich erscheinen ließ; auch war der Faltenrock zu kurz.
Natürlich ereigneten sich noch sehr viele Dinge, ehe Eliot dazu kam, sich wegen seiner Bemerkung über das Waisenhaus zu entschuldigen. Er trat überhaupt erst viel später in Erscheinung, aber es ist immer Eliot, an den wir uns erinnern, wenn wir an unsere Ankunft in Les Œillets denken. Er war der Lichtpunkt des Abends.
»Als er kam, war nichts mehr schrecklich«, sagte Hester, aber ich musste hinzufügen: »Außer dem ganz Schrecklichen!«