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IV

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»Wer hat den Mann in mein Zimmer gelassen?«, fragte Joss.

Es war nach der Teestunde jenes ersten denkwürdigen Tages – »Nur dass es keinen Tee gegeben hat«, sagte Vicky; den goûter der französischen Kinder hatten wir noch nicht kennengelernt –, es war also nach der Stunde, in der es Tee hätte geben sollen, dass Eliot zu uns kam, als wir verloren rund um einen Tisch in der Bar saßen, und fragte: »Fehlt nicht eine von euch?« Dann forderte er mich auf, ihn zu Joss hinaufzuführen.

Sie lag steif und flach ausgestreckt auf ihrem Bett und rührte sich nicht, solange er im Zimmer war. Ihr loses Haar ringelte sich auf den Kissen, und im Halbdunkel der geschlossenen Fensterläden sah ihr bleiches Gesicht so klein aus wie das eines jener Hutzelmännchen, die wir aus Rüben schnitzelten. Sie hätte ebenso gut viel älter oder viel jünger sein können, als sie wirklich war, und Eliot schlug ihr gegenüber einen Ton an, wie er einem Kind in Vickys Alter angemessen gewesen wäre.

»Geht es unserem kleinen Mädchen schon besser?«

Sie antwortete ihm einsilbig. »Ja.«

»Kopf hoch. Bald wird es dir wieder besser gehen.«

»Ja.«

»Keine Wünsche? Du kannst haben, was du willst!«

»Nein.«

Ich glaube, Eliot wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. »Du sorgst dich doch nicht allzu sehr um deine Mutter? Sie ist bei uns gut aufgehoben.« Keine Antwort. Eine Weile zögerte er noch, dann verließ er das Zimmer, und sofort fuhr Joss aus ihren Kissen auf.

»Wer hat ihn hereingelassen?«

»Ich …«

»Wie konntest du es wagen?«

»Aber … er kümmert sich doch um uns.«

Sie sah mich verwundert an. »Wer hat das gesagt?«

»Mutter. Sie hat ihn darum gebeten.«

»Sie war schon immer idiotisch!«, sagte Joss.

Die Übelkeit kehrte zurück, und ich sah zu, wie sie sich qualvoll in die Schüssel neben ihrem Bett erbrach. Als sie endlich erschöpft in die Kissen zurücksank, brachte ich – wie ich es jetzt schon zum Überdruss gewohnt war – ihr einen Waschlappen, wusch ihr den Schweiß von Gesicht und Händen und trocknete sie mit einem Handtuch ab. An ihrem Zusammenzucken merkte ich, dass jede Berührung ihr wehtat, aber sowie sie wieder imstande war zu sprechen, krächzte sie: »Du musst … es Mutter sagen!«

Ich stand mit dem Handtuch in der Hand neben ihrem Bett und versuchte, den Frosch hinunterzuwürgen, der mir in der Kehle zu stecken schien. »Ich kann es Mutter nicht sagen«, stammelte ich. »Joss, sie … sie haben sie ins Krankenhaus gebracht!«

Joss war zu krank gewesen, um verständigt zu werden, aber für mich war es ein zweigeteilter Tag geworden: zweigeteilt zwischen Les Œillets und der Belmont Road.

Sobald ich mich angezogen hatte, war ich zu Mutters Zimmer gegangen und hatte leise an die Tür geklopft. Als mir geöffnet wurde, sah ich, dass Joss recht gehabt hatte – da war wirklich eine Nonne. Sie trug ein weißes Gewand mit einer Kordel, an der ein Kruzifix hing, und um den Kopf hatte sie einen langen schwarzen Schleier. Ich hatte vorher nie eine Nonne aus der Nähe gesehen und starrte sie verblüfft an. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Der Angstschweiß drang mir aus allen Poren, und auf Zehenspitzen schlich ich davon.

Das Nächste war, dass Hester und Vicky frühstücken wollten. »Hier gibt es kein Frühstück«, sagte ich verzagt. Da sie aber darauf beharrten, dass es »unten« genug zu essen gebe, blieb mir schließlich nichts übrig, als mit ihnen in den Speisesaal zu gehen, wohin Willymaus schon auf eigene Faust vorausgegangen war. In dem weitläufigen Raum versuchte ich, mich so weit gereist und souverän zu benehmen, wie selbst Joss es nur hätte wünschen können, aber Hesters helle, unbefangene Stimme konnte ich nicht dämpfen und Vickys hartnäckig geäußerte Frühstückswünsche nicht zum Schweigen bringen. Vicky war so halsstarrig britisch wie John Bull selbst. »Ich will mein Frühstück haben«, rief sie. Ich gab ihr Kaffee und ein Croissant. »Das ist kein Frühstück«, sagte Vicky. »Ich will ein Ei.«

»In Frankreich isst man keine Eier zum Frühstück.«

»Aber natürlich könnt ihr Eier bekommen«, sagte Eliot. »Viele Leute fragen danach.« Er fügte noch als Mahnung hinzu, ich solle kein Reise-Snob sein, aber ich war ein Reise-Snob und außerdem auch ein Snob, was mein Alter betraf. Vicky war ich jedoch nicht gewachsen. Wie immer setzte sie ihren Willen durch, und ich musste schließlich nicht nur ein Ei, sondern – wie für ein Baby – auch Milch und Marmelade für sie bestellen.

Es war Paul, der uns das Frühstück brachte, und ich begriff bald, dass Mauricette sich nur selten herabließ, uns zu bedienen. Paul stellte die Milch und die Marmelade absichtlich vor mich. »Essuie-toi l’bec avec ta bavette!«, sagte er. Dass er damit hatte sagen wollen ›Wisch dir den Schnabel mit deinem Lätzchen ab!‹ verstand ich erst, nachdem ich hinaufgegangen war und das Wort bavette in unserem Taschen-Larousse nachgeschlagen hatte, aber ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er eine herabwürdigende Bemerkung beabsichtigt hatte, und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Er war ein hoch aufgeschossener, magerer, schmutziger und schmieriger Bursche, der zu seiner blauen Baumwollhose und einem zerfetzten Hemd die weiße Schürze und grau-weiße Leinenschuhe trug, die uns schon am Abend vorher aufgefallen waren – wir hatten noch nicht gelernt, diese Schuhe espadrilles zu nennen. Seine Hemdsärmel waren immer aufgerollt, seine Ellbogen so spitz wie Messerschneiden, und als er sich umdrehte, sah ich, dass seine Schulterblätter hervortraten. Eine Strähne seines dünnen blonden Haars fiel ihm in die Stirn, und seine Wangen waren eingefallen. In jenen ersten Tagen wusste ich noch nichts über Paul, aber trotz meiner Sorglosigkeit und Unwissenheit beunruhigte mich dieses Gesicht von Anfang an. Wir waren gekommen, um die Schlachtfelder zu besichtigen, und dieses Gesicht gehörte zu ihnen, obwohl wir es nicht ahnten.

Wer war Paul? Niemand wusste es. Selbst sein Name hätte nahezu jeder Nationalität angehören können. Es war einer der wenigen, deren Aussprache von einem Land zum anderen kaum wechselt. Dem Namen nach hätte man Paul ebenso gut für einen Franzosen wie für einen Engländer, Deutschen, Österreicher oder Russen halten können. Seine Mutter, sagte Madame Corbet verächtlich, sei »mit den Soldaten gegangen«.

»Wohin?«, fragte Hester, aber niemand gab ihr eine Antwort. »Unser Vater ist Botaniker«, sagte Hester zu Paul. »Und deiner?«

»Un troufion«, sagte Paul, und als wir ihn verständnislos ansahen, tat er, als würde er marschieren, und salutierte.

»Ach so, ein Soldat!«, sagte ich.

»Wie hat er geheißen?«, fragte Hester, aber anscheinend hatte sein Vater keinen Namen gehabt.

»J’avais une p’tite sœur«, sagte Paul eines Tages.

»Eine kleine Schwester?« Hester begann, ein wenig Französisch zu verstehen.

»Une mulâtre«, sagte Paul geringschätzig.

»Aber du bist doch nicht mulât… wie hast du sie genannt?«, fragten wir verblüfft und fuhren fort: »Wo ist denn deine kleine Schwester?«

Paul zuckte mit den Schultern.

»Weißt du es nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Elle a disparu.«

Hester sah mich fragend an.

»Sie ist verschwunden«, sagte ich.

»Meint er, dass sie tot ist?«, fragte Hester.

Ich versuchte, diese Fährte zu verfolgen. »Morte?«, fragte ich mitleidig.

»Perdue«, sagte Paul. »Pssst!«, und machte eine Bewegung, als würde er etwas wegwerfen.

»Aber Schwestern können einem doch nicht abhandenkommen.«

Pauls Schweigen schien anzudeuten, dass das durchaus möglich sei. Uns wurde schwindlig.

Beim Abbruch des amerikanischen Lagers war Paul dort gefunden worden, und zwar von den Soldaten selbst, die sich seiner liebevoll annahmen. Als sie nach Amerika zurückkehrten, hatte man ihn ins Armenhaus, ins Hôtel-Dieu, gebracht. »In Gottes Hotel?«, fragte Hester. »Das muss gut gewesen sein.« Aber Madame Corbet sagte, das sei ein Haus, wo alte Leute darauf warten zu sterben und Wahnsinnige sowie misshandelte Kinder aus den Gerichtssälen landen. »Das klingt gar nicht so gut«, sagte Hester argwöhnisch.

Madame Corbet schien darüber nicht weiter beunruhigt. »Was hätte man in einer so kleinen Stadt mit ihm machen sollen?«, fragte sie und fügte hinzu, dass Paul sich schlecht benommen habe, abgehauen und von der Polizei wieder zurückgebracht worden sei – und dass Mademoiselle Zizi ihn aus purer Herzensgüte hier arbeiten lasse.

Wir hatten nicht den Eindruck, dass er sehr gütig behandelt wurde. Wie wir bald herausfanden, begann Paul seine Arbeit um sechs Uhr morgens – oder noch früher, wenn eine Gesellschaft zum Frühstück erwartet wurde – und beendete sie um Mitternacht, oder noch später, wenn es ein diner gab. Zwar hatte er mehr als genug zu essen – jeder, der für Monsieur Armand, den Küchenchef, arbeitete, hatte eine Menge zu essen –, aber seine Schlafstätte war ein Verschlag unter der Treppe, der nicht einmal ein Fenster hatte, und sein Bett bestand aus Planken und einer Matratze, einem schmutzigen Kissen und einer Decke von der Art, wie man sie Hunden gibt.

»Aber das alles war kein Grund, auf mich loszugehen«, sagte ich später, aber anscheinend war es das doch. Ich glaube jetzt, dass unsere Ankunft – das plötzliche Auftauchen einer so ahnungslosen, so rosigen und wohlbehüteten Kinderschar – in Paul einen Schmerz auslöste, wie er ihn noch nie zuvor empfunden hatte, und dass ihm, besonders wenn Joss in seiner Nähe war, jeder seiner Fettflecke, jeder seiner abgebrochenen schwarzen Nägel ein Dorn im Auge war und ihm der üble Geruch, mit dem er bis dahin unbewusst gelebt hatte, in die Nase stieg.

Am ersten Morgen wussten wir nichts von alledem. Ich musterte ihn sehr von oben herab und wandte dann kühl meinen Blick ab. Dies gelang mir nicht so gut, wie Joss es zustande gebracht hätte, aber es war die beste Imitation, die ich aufbringen konnte. Ich bestrich Vickys Croissant mit Marmelade und goss die Milch in ihre Tasse, dann tauchte ich – dem Beispiel eines dicken Franzosen in der Ecke folgend – mein eigenes Croissant in den schwarzen bitteren Kaffee und aß es auf diese ungewohnte Weise. Es schmeckte abscheulich, war aber französisch.

Nach dem Frühstück schickte ich Hester, Willymaus und Vicky los, die Gegend zu erkunden. Ich sah, wie sie durch die Alleen des Obstgartens jagten, und meine Beine juckten, es ihnen gleichzutun. Obwohl ich ein Teenager war, hatte ich noch immer das Bedürfnis, zu laufen, zu tollen, mich wie ein Fohlen auf dem Boden zu wälzen. Aber ich fühlte Pauls Augen auf mich gerichtet, und da Mutter und Joss krank waren, war ich überdies so schwer mit Sorgen beladen, wie Onkel William es immer war. Ich trat auf die Terrasse hinaus, blieb auf der obersten Stufe der Eisentreppe stehen und stützte mich auf das Geländer, das die Sonne bereits erwärmt hatte.

Die Onkel-William-Stimmung hielt nicht lange an. Die Geräusche meines ersten richtigen Morgens in Frankreich schlugen über mir zusammen. Aus einem oberen Stockwerk hörte ich die Stimmen zweier Frauen, die ich von Joss’ Fenster aus – das im Gegensatz zu den unseren auf die Straße ging – durch das Tor hatte kommen sehen und jetzt als die beiden Zimmermädchen erkannte. Sie schwangen Matratzen auf die Fensterbretter, schüttelten den Staub aus Tüchern und Besen. Eine rief von ihrem Fenster aus der anderen zu: »Toinette, la clé du quatorze«, und die andere schrie zurück: »En bas, Nicole, sur le tableau.« Was ich an alledem so bezaubernd fand, weiß ich nicht, aber ich war einfach hingerissen. Irgendwo plätscherte Wasser – ich vermutete, dass es aus der Küche kam, da es sich mit dem Klirren von Tellern und einer tiefen männlichen Stimme mischte, die Anweisungen gab. Im Speisesaal trällerte Mauricette näselnd ein kleines Lied:

»Je l’ai tellement dans la peau,

C’est mon homme.

Que j’en suis marteau,

C’est … mon … homme.«

Im Büro klapperte eine Schreibmaschine. Über den Garten hinweg sah ich in das taufrische Grün der Wildnis und des Obstgartens und in den sonnigen Dunst der Ferne, und plötzlich hielt mich nichts mehr im Haus. Langsam ging ich die Stufen hinunter, über den Kies, vorbei an den Blumenbeeten und schlüpfte durch eine Lücke in der Buchsbaumhecke. Die Füße vom Tau benetzt und den Kopf in der Sonne, schlenderte ich in den Obstgarten, und bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich den Arm nach einer Mirabelle ausgestreckt. Sie fiel warm und weich in meine Hand. Ich sah mich rasch nach allen Seiten um – da aber niemand kam und keine Stimme mich schalt, biss ich nach kurzem Zögern in das reife goldene Fleisch. Dann aß ich noch eine und wieder eine, bis ich schließlich, übersättigt von den süßen Früchten und erfüllt von Entzücken, auf meinen Posten zurückkehrte.

Von Mademoiselle Zizi war keine Spur zu sehen, aber nach einer Weile trat Eliot aus dem Haus. Er war in einer seiner abweisenden Launen, distanziert und unzugänglich. Wieso ich damals schon begriff, dass er solche Zeiten hatte, weiß ich nicht, aber plötzlich – als wäre meine erste Mirabelle ein Apfel der Erkenntnis gewesen – war ich älter und weiser geworden und versuchte gar nicht erst, mit ihm zu sprechen. Er hatte eine weiße Leinenhose an und ein dunkelblaues Hemd und ging an mir vorbei, hinaus in die Sonne, als wäre ich nicht da. Mauricette brachte ihm einen Liegestuhl, aber er schnauzte sie an. Wie herrlich, auf Französisch ebenso fluchen zu können wie auf Englisch! Mein Entzücken verflog allerdings so rasch, wie es gekommen war, und ich war plötzlich wieder niedergeschlagen, als mir bewusst wurde, dass wir eine ganz normale Familie waren, die nirgends in der Welt herumgekommen war und gar nichts wusste.

Paul kam heraus und gab mir mit einem Ruck des Daumens über seine Schulter zu verstehen, dass ich ins Büro kommen solle. Madame Corbet wollte, dass ich unsere Pässe holte, und plötzlich war auch Hester da und erzählte von Onkel William.

Monsieur William John Bullock, schrieb Mademoiselle Zizi auf einen Zettel, schob dann das Gitter in die Höhe, hob die Klappe der Theke auf, kam heraus und lief die Treppe hinauf. Das Getrappel ihrer Stöckelschuhe klang sehr energisch, als sie quer über den Treppenabsatz zu Mutters Tür ging. Mir rutschte das Herz in die Hose. Wütend schob ich Hester beiseite und folgte Mademoiselle Zizi.

Mutter war an ihr Bett gefesselt. Sie lag auf dem Rücken, ein Käfig war über ihr krankes Bein gestülpt, ihre Augen wanderten unstet hierhin und dorthin, vorbei an Mademoiselle Zizi, vorbei an der Nonne. Dann erblickte sie mich im Türrahmen und winkte mich zu sich. Ich schlüpfte am Fußende des Bettes vorbei und kniete nieder. Mutter klammerte sich an mich und flüsterte etwas, aber ihre Stimme war so undeutlich, und ihre Worte waren so wirr, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Hol den Engländer«, flüsterte Mutter, »den Mann, der ein Engländer ist!«

Mademoiselle Zizi hatte gute Ohren. »Nein! Das tust du nicht!«, schrie sie, aber ich war schon zur Tür hinausgehuscht.

Als Eliot kam, begriff ich, wie gut er war. »Nicht gut«, sagte Hester, die immer sehr genau war. »Ein guter Mensch hätte das nicht getan. Nicht gut – gütig!« Ein Wort, das unseren Herzen viel näher war.

Er trat ein und sah in diesem Zimmer, in dem sich nur Frauen befanden, sehr groß aus.

»Mais, Eliot, je t’en prie …«

»Einen Augenblick, Zizi.« Er beugte sich nieder, und Mutter ergriff seine Hand. Ich wusste, wie heiß die ihre war. Sie sah ihn mit schmerzerfüllten Augen an. »Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte Eliot.

»Lassen Sie es nicht zu.« Es war dasselbe undeutliche Geflüster wie vorhin. »Lassen Sie es nicht zu.«

»Eliot, das geht dich nichts an.«

»Bitte, Zizi.« Er beugte sich tiefer über Mutter. »Was soll ich nicht zulassen?«

Mutter hatte manchmal eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Hester. »Lassen Sie nicht zu, dass sie William kommen lässt!«

Ich sah, wie seine Lippen zuckten. »Aber …«

»Er wird sagen: ›Habe ich es dir nicht gesagt?‹«, flüsterte Mutter.

»Ach, so«, sagte Eliot. »Ich verstehe.«

»Aber auf jeden Fall muss sie ins Krankenhaus gebracht werden«, schrie Mademoiselle Zizi. »Bon Dieu! Et si elle allait mourir?« Sie plapperte so rasch weiter, dass ich sie nicht verstehen konnte, aber die ganze Zeit über, während der französische Redestrom weiterfloss, hielt Eliot Mutters Hand.

»Warum hat er sich einverstanden erklärt? Ein Kerl wie er?«, fragte Onkel William hinterher. »Das passt gar nicht zu ihm.«

»Vielleicht«, sagte Joss leise zu mir, »hat Eliot auch einmal einen Onkel William gehabt.«

»Aber was soll ich Irène sagen?«, fragte Mademoiselle Zizi.

Ich glaube, sie und Eliot sprachen manchmal englisch miteinander, um von den Angestellten nicht verstanden zu werden, aber im Allgemeinen vermischten sie die beiden Sprachen. Mitunter stellte einer von ihnen eine Frage auf Englisch, und der andere antwortete auf Französisch – oder umgekehrt. »Was soll ich Irène sagen?«

»Sag ihr, dass du zwei von ihnen in ein Einzelzimmer stecken und es als Doppelzimmer berechnen wirst.«

»Eliot, du machst dich über mich lustig.«

»Ich mache mich nicht lustig, ich sage nur voraus, was geschehen wird.«

»Aber die Frage ist, ob sie zahlen können«, sagte Mademoiselle Zizi. »Es sieht nicht so aus, als ob sie Geld hätten.«

»Wenn nicht, dann werde ich für sie zahlen.«

»Hast du so viel Geld, Eliot?«

Er antwortete ausweichend. »Es kommt und geht«, sagte er, und ich hörte ein Geräusch wie von einem Kuss. Aber Eliot sagte noch etwas … etwas Schreckliches … etwas, das mir nicht gefiel. »Diese Kinder können ganz nützlich sein.«

»Inwiefern?«

»Sie könnten die Leute zum Schweigen bringen.«

»Lass die Leute reden«, sagte Mademoiselle Zizi.

»Sei nicht kindisch, Zizi. Vieux-Moutiers ist ein kleines Nest, und du musst hier leben. Die Kinder geben mir einen Grund, hier zu sein. Besonders jetzt, wo sie mir anvertraut wurden. Sie sind unsere Tarnung.«

Die Idee, als Tarnung dienen zu sollen, gefiel mir ganz und gar nicht, und was die Zimmer anbelangt, behielt er mit seiner Prophezeiung recht. Hester und Vicky schliefen in einem Bett, und Joss wurde in unserem Ankleidezimmer untergebracht, das gar kein Schlafzimmer war. Das Badezimmer durften wir überhaupt nicht und von den Toiletten nur eine einzige benutzen, die wir das »Loch« nannten, weil es ein von der Treppe aus zugänglicher Verschlag war, der weder ein Gestell noch ein Sitzbrett, sondern nur eine Senke im Fußboden und zwei Stellen für die Füße hatte – à la turque nannte es Paul, aber es war schwierig für ein kleines Kind wie Vicky und geradezu schmachvoll für größere Mädchen. »Und es verpestet die Treppe«, sagte Hester. Madame Corbet stellte uns jedes Handtuch und jedes Stück Seife in Rechnung. Als ich nach jenem ersten Morgen zu ihrem Pult ging und um eine Limonade für Joss bat, hatte sie bereits zwei Seiten ihres Hauptbuchs mit 15, 16 und 16a bezeichnet und in ihrer spinnenfeinen Handschrift mehrere Posten eingetragen, unter denen sich sicher auch schon die Limonade befand.

Madame Corbet beauftragte Paul, der nachmittags an der Bar arbeitete, die Limonade zu holen. »Alors vous restez?«, fragte er und sah mich herausfordernd an.

»Jawohl, wir bleiben«, sagte ich kühl und fügte sarkastisch hinzu – auf Französisch, denn ich war entschlossen, mit Paul nur französisch zu sprechen –, dass ich hoffe, er würde nichts dagegen haben.

Er zuckte mit den Schultern, und man konnte sich nichts Frecheres vorstellen als Pauls Schulterzucken. »Les enfants trouvés, y faut b’en s’en occuper, hein?«, sagte er und ging zur Theke, um den Rechnungszettel für die Limonade abzugeben, bevor er mir das Glas reichte.

Ich hatte die Worte »enfants trouvés« aufgeschnappt und mir zusammengereimt, dass er uns als »verlassene Kinder«, als … Vagabunden bezeichnete. Im Weggehen zog er mir noch an den Haaren.

Außer uns beiden war niemand in der Halle, niemand, der mich hätte ermahnen können, dass ich ein großes Mädchen, beinahe erwachsen war. Plötzlich hatte ich genug von Paul. Ich lief ihm nach und schlug ihn, so heftig ich konnte, mit der Faust ins Gesicht.

Er war so überrascht, dass er beinahe gestürzt wäre. Das Glas mit der Limonade wirbelte durch die Halle, seine langen Beine glitten aus, und seine Schürze rutschte hinunter, als er sich an dem Endpfosten des Treppengeländers festhalten wollte. Noch immer den Pfosten umklammernd, beugte er sich vor und sah mich an, die Haarsträhne war ihm noch tiefer in die Stirn gefallen, und durch sie hindurch glänzten seine Augen wie die eines Tieres. »So?«, sagte Paul. »So?«

»Ja, so«, sagte ich.

Er kam auf mich zu, aber ich war auf seinen Angriff gefasst. Paul war groß, aber schlaksig, während ich eine Bullock war, und alle Bullocks sind stämmig und stark. Ich landete noch einen Hieb auf seine Brust, aber dann sausten seine Arme wie Dreschflegel auf mich nieder, und ich stürzte. Im nächsten Augenblick wälzten wir uns kratzend auf dem Fußboden. Ich erinnere mich noch, dass mein Kopf auf dem Marmor aufschlug, als Madame Corbet um Hilfe schrie und Leute von allen Seiten angelaufen kamen. Ich sah Mauricettes Beine, ihren schwarzen Rock und ihre rüschenbesetzte Schürze, ehe mich mein eigenes Blut blendete und ich meine Daumen in Pauls Kehle krallte, bis uns schließlich jemand wie junge Katzen im Nacken packte und auseinanderzog.

Es war der Küchenchef. Der Fettgeruch seiner weißen Kleidung war unverkennbar, und der Ausblick auf seine feisten Wangen, seinen gewichsten schwarzen Schnurrbart und seine hohe weiße Mütze war trotz der Tränen, die mir in die Augen schossen, überwältigend.

Dann hörte ich Eliots Stimme. »Lassen Sie sie laufen«, sagte er. Der Chef ließ uns, wieder wie junge Katzen, zu Boden fallen, und nun standen wir schwer atmend inmitten der ganzen Gesellschaft und starrten einander an. Mauricette hielt mir eine Serviette unter die Nase. Da es aber nicht ihre war, riss Madame Corbet sie ihr aus der Hand. Eliot sah uns belustigt an und reichte mir sein Taschentuch. Ich schämte mich sehr.

Ich dachte, er würde mich ermahnen, mir Vorhaltungen machen, dass ich ein junges Mädchen, vielleicht sogar eine junge Dame sei, aber nichts dergleichen geschah. Wahrscheinlich waren wir für ihn nichts anderes als zwei junge Tiere. »Nächstes Mal«, sagte er, »prügelt euch im Garten. Dies ist das Haus einer Dame.« Dann wandte er sich an Paul: »Vous êtes ici chez une dame comme il faut.« Paul machte ein unflätiges Geräusch. »Chez une dame comme il faut«, wiederholte Eliot, und seine Stimme klang so entschieden, dass Paul stramm stehen blieb, »et vous vous tiendrez comme il faut.«

Später am Abend desselben Tages traf ich Paul noch einmal. In der Dämmerung nahm das Laub im Garten ein leuchtenderes Grün an, als ob die Sonnenstrahlen innerhalb der Mauern gefangen wären, Gras und Blätter glitzerten, und die zerbrochenen Statuen, die morgens kühl und weiß waren, bekamen einen fast goldenen Glanz. Robert hatte seinen Rechen niedergelegt und war nach Hause gegangen. Die Hunde lagen auf dem warmen Kies, aus dem Haus klangen gedämpfte Stimmen, Frieden war über allem. Ich hatte die Gewohnheiten der Belmont Road noch nicht abgelegt und war trotz meiner schmerzenden Glieder und meiner geschwollenen Nase auf der Suche nach Vicky – ich vermutete sie bei Monsieur Armand, den sie sofort in Beschlag genommen hatte –, um sie ins Bett zu bringen.

Paul saß auf den Steinstufen vor der Küche. Ich war unschlüssig, ob ich an ihm vorbeigehen oder umkehren und den Umweg durch das Haus machen sollte. Da dies aber wie ein Rückzug ausgesehen hätte, beschloss ich, wenn auch zitternd, an ihm vorbeizugehen. Als ich näher kam, stand er auf.

Na schön! Wenn er raufen will, dachte ich, aber … »Bitte«, sagte er, zog ein zerdrücktes Päckchen der abscheulich riechenden Zigaretten, die er für gewöhnlich rauchte, aus der Tasche und hielt es mir hin.

Ich muss wohl errötet sein – noch nie hatte mir jemand eine Zigarette angeboten –, dann aber sah ich, dass es nicht als eine herablassende Geste, sondern als ein Höflichkeitsakt unter Gleichgestellten gedacht war, und nahm sein Angebot an. Ich hatte keine Ahnung, wie man raucht, aber ich fühlte mich ungeheuer geschmeichelt. Paul zündete ein Streichholz für mich an, ich machte meinen ersten Zug und wäre beinahe erstickt. Er klopfte mir auf den Rücken, und dann saßen wir nebeneinander auf den Stufen.

Vicky kam viele Stunden zu spät ins Bett. »Macht auch nichts«, dachte ich. »Da sie jetzt in Frankreich ist, muss sie leben, wie alle französischen Kinder leben.« Die Belmont Road verschwand rasch aus meinem Bewusstsein.

Als ich zu Joss hinaufkam, zog sie sich vor mir in den entferntesten Winkel ihres Bettes zurück und sagte: »Pfui!«

»Es war eine Gauloise, eine französische Zigarette.« Ich versuchte, mich möglichst unbefangen zu geben, aber Joss maß mich mit einem kühlen Blick und sagte eisig: »Du scheinst dich hier ja sehr schnell eingewöhnt zu haben!«

Unser Sommer im Mirabellengarten

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