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1.1 Hendrik Witboois Bibel

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Die namasprachige Bibel trägt die handschriftlichen Randnotizen Witboois und stellt daher einen hybriden Text dar. Die namasprachige Übersetzung des Neuen Testaments ist Zeugnis der Missionsarbeit im Rahmen der „Zivilisierung“ des afrikanischen Kontinents durch Europäer; die handschriftlichen Vermerke dagegen machen den Text zu einem afrikanischen literarischen Artefakt, das die europäisch-christliche Vorlage zu eigenen Zwecken verwendet. Dabei werden die körperlichen Spuren der geschichtlichen Erfahrung der Kolonisierung und des antikolonialen Widerstands auf dem gedruckten Papier festgehalten. Trotz des klaren Unterschieds zwischen gedruckten Buchstaben und mit Bleistift aufgetragener Handschrift, bietet das Papier eine geteilte Plattform für verschiedene Schriftkulturen und eine gemeinsame Anschlussstelle für die jeweiligen kulturellen Entstehungsräume. Und das Papier reist: Der Text kehrt durch die Rückgabe nicht nur an seinen Heimatort zurück, so dass eine räumliche Zuordnung im geografischen Sinne erfolgt, sondern es eröffnet sich dadurch auch ein Netzwerk zwischen den Kontinenten (Afrika – Europa – Afrika), welches durch die Aus- und Heimreise des Texts entsteht. Zudem bildete die höchst emotionale Übergabezeremonie in Gibeon einen gemeinsamen Rahmen, in welchem die Vertreter*innen der Familie und des Stammes, des namibischen Staates und der baden-württembergischen Landesregierung sowie des Stuttgarter Museums durch eine stark ritualisierte Rückgabe zusammenkamen. Von der Ebene des textsemiotischen Artefakts über die der zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen bzw. Verhandlungen bis hin zur Versöhnung und der etwaigen Wiedergutmachung sind verschiedene Aspekte der Hybridität, der Interaktion und der gegenseitigen geschichtlichen Verflochtenheit untrennbar ineinander und miteinander verschränkt. Die Rückgabe der Witbooi-Bibel und -Peitsche bringt mannigfaltige Aspekte einer geteilten Geschichte zum Ausdruck:

Die namibisch-deutsche Geschichte, die aus gegebenem Anlass im Jahre 2004 in den Blickpunkt rückt, ist eine afrikanisch-europäische „Verflechtungsgeschichte“ jenseits euro- aber auch jenseits afrozentrischer Sichtweisen. Kolonialgeschichte, vorkoloniale und auch nachkoloniale Geschichte verbinden namibische und deutsche Geschichte in prägnanter, vielschichtiger Weise – und trennen sie zugleich. Namibier, Deutsche oder Namibia-Deutsche, ehemalige Opfer und Täter, ehemalige Kolonisierte und Kolonisatoren, Befreiungskämpfer und Siedler teilen historische Erfahrungen im Sinne einer shared history, einer verbindenden Geschichte, andererseits im Sinne einer trennenden Erfahrung. […] Koloniale Verflechtungen implizierten höchst ambivalente Interaktionen, Spannungen und Abgrenzungen, schufen gemeinsam Konstitutives wie konstitutiv Trennendes. (Förster / Hendrichsen / Bollig 2004: 19)

Annahme der vorliegenden Studie ist, dass die Rückgabe des Kulturraubguts im Jahr 2019 nicht nur eine Verflechtungsgeschichte wieder sichtbar werden lässt, sondern dass dadurch grundlegende und unausradierbare kulturelle Verbindungen zu Tage treten, die zwar lange Zeit vergessen worden sind, jedoch keineswegs aufgehört haben sich in den beiden Gesellschaften auszuwirken. Daher stellt allein die Tatsache, Verlorenes wieder zurückzubringen und Vergessenes wieder in Erinnerung zu rufen, einen entscheidenden Schritt in Richtung Versöhnung und Reparieren einer nach wie vor bestehenden, jedoch schwierigen, gar fragilen Beziehung dar. Solche Verbindungen sowie die Gesten, Symboliken und Rituale, die sie aufrechterhalten und sogar heilen können, sind grundsätzlich kreativer Natur, sie bedürfen aber stets einer kritischen Überprüfung und ideologieentlarvender Kontrollinstanzen. Das Wirken dieser Verbindungen, die sowohl historisch wie gegenwärtig und auf vielen verschiedenen Ebenen zu verstehen sind, ist Hauptgegenstand der hier durchgeführten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen. Die Rückgabe der Witbooi-Bibel und -Peitsche stellt ein wichtiges interkulturell-politisches Zeichen dar, denn Baden-Württemberg machte hier einen Anfang mit der Restitution geraubter Kulturgüter aus Namibia: „Baden-Württemberg hat die ersten Schritte gemacht. Es ist Zeit, dass wir in Deutschland für unser koloniales Erbe gemeinsam die Verantwortung übernehmen und auch handeln“, so Landesministerin Bauer (MWK-BW 2019). Eine Rückgabe des Steinkreuzes vom Kreuzkap wurde einige Monate später vereinbart (ARD 2019b). Menschliche Gebeine wurden bereits 2011 an Namibia zurückgegeben. Die Rückgabe stellt auch einen wichtigen Schritt in Richtung Versöhnung dar: „Die Rückgabe ist ein Signal, dass wir es ernst meinen. Die Anerkennung des Unrechts ermöglicht die Eröffnung des gemeinsamen Dialogs und bringt uns im Versöhnungsprozess voran“, meinte Bauer (MWK-BW 2019). Innerhalb des Bundestags wurde eine breite Debatte über den Umgang mit kolonialen Kulturraubgütern angestoßen, die in mehrere parlamentarische Anfragen sowie eine Expertenanhörung mündete (Deutscher Bundestag 2019a). Eine offizielle Entschuldigung und im gegebenen Fall daraus entstehende Wiedergutmachungen, in welcher Form auch immer, wie sie von verschiedenen Seiten gefordert werden, stehen noch aus.

Diese kulturpolitischen Rahmenbedingungen liefern die konzeptuelle Umrahmung der vorliegenden Studie: Sie bietet in erster Linie eine Interpretation der deutschsprachigen Belletristik der Gegenwart zum kolonialen Deutsch-Südwestafrika und vor allem zum Deutsch-Namibischen Krieg und anschließenden Genozid an den Herero- bzw. Nama-Völkern 1904 bis 1908. Letzteres bedarf zunächst eines kurzen zusammenfassenden Überblicks.

Am 11. Januar 1904 begannen die in der jüngsten geschichtswissenschaftlichen Literatur als Deutsch-Namibischer Krieg bezeichneten Kampfhandlungen mit der Auflehnung der Herero im zentralen Deutsch-Südwestafrika. Im Zuge des rapide zunehmenden Landerwerbs seitens deutscher Siedler bei Verlust der traditionellen auf Rinderbesitz basierenden Wirtschaftsgrundlage der Herero, des rabiaten Eintreibens von Schulden von deutschen Händlern und der weitverbreiteten und ungestraften sexuellen Übergriffe seitens der Weißen entschlossen sich die Herero zum bewaffneten Kampf. Eine erhebliche Zahl deutscher Farmer wurde ermordet, deren Frauen und Kinder blieben jedoch verschont. Die deutschen Schutztruppen waren im Süden durch einen Aufstand der Bondelwarts gebunden und konnten nur langsam reagieren. Bald wurde Gouverneur Leutwein durch General Lothar von Trotha abgelöst, der eine Vernichtungsstrategie verfolgte: „Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld“ (zitiert nach Drechsler 1984 [1966]: 156). Nach erheblichen deutschen Truppenverstärkungen wurden die Hereroverbände am 11. August 1904 beim Waterberg geschlagen und in die Omaheke-Wüste getrieben. Die Abriegelung möglicher Fluchtwege durch Postenketten und die Vergiftung der Wasserquellen wurden als absichtlich geplante Vernichtungsmaßnahme durchgeführt:

Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserquelle zu Wasserquelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur des eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes. (Bericht der Kriegsgeschichtlichen Abteilung 1906, zitiert nach Kößler / Melber 2017: 23–4)

Am 2. Oktober 1904 erließ von Trotha den bekannten Schießbefehl:

Die Hereros sind nicht mehr deutschen [sic] Untertanen. […] Das Volk der Herero muß […] das Land verlassen. […] Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. (Zitiert nach Zimmerer 2003: 51)

Der Schießbefehl setzte die „Ausbürgerung“ der Herero und somit deren Vertreibung in die totale Rechtlosigkeit innerhalb der Kolonialgrenzen fort, d.h. sie konnten sowohl einzeln als auch als Gruppe straffrei getötet bzw. vernichtet werden. Schätzungsweise kamen insgesamt 80 bis 90 Prozent der Herero ums Leben (vgl. Bridgman 1981: 164–5).

Provoziert durch die Niederlage und Unterdrückung der Herero entschieden sich viele Nama im Süden des Landen zum bewaffneten Widerstand, vermieden jedoch herkömmliche Kriegsmethoden und verfolgten einen Guerillakrieg, der 14.000 deutsche Soldaten auf sehr effektive Weise band – bis zum Tod Hendrik Witboois am 29. Oktober 1905. Danach kapitulierten viele der Nama-Kämpfer und erlitten ein ähnliches Schicksal wie die Herero. Schätzungsweise kamen 50 Prozent der Nama ums Leben (Speitkamp 2005: 133). Die Kampfhandlungen dauerten noch bis 1907 an. Einer der erfolgreichsten Nama-Kämpfer war Jakob Morenga, bis er 1906 in britische Gefangenschaft geriet und 1907 nach der Flucht ins benachbarte Bechuanaland starb (Bürger 2017: 127–32). Der Krieg wurde am 31. März 1907 für beendet erklärt.

Bald nach der Schlacht am Waterberg wurden Gefangenenlager, ausdrücklich als „Konzentrationslager“ bezeichnet, errichtet. In den berüchtigten Lagern in Swakopmund sowie der Lüderitzbucht mit der Haifischinsel kamen zwischen 50 und 90 Prozent der Insassen um. Die Kriegsgefangenschaft für die Herero wurde am 28. Mai 1908 aufgehoben (Zimmer 2003: 58), da die Sterberaten für die Siedler einen ernstzunehmenden Engpass in der Versorgung mit afrikanischen Arbeitskräften bedeuteten. Nama-Gefangene wurden jedoch erst 1914 offiziell aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Die absolute Enteignung der Viehbestände bzw. des Landes der Kolonisierten wurde 1905 vom Reichstag beschlossen und vom kolonialen Gouvernement 1907 bekräftigt. Dadurch wurden riesige Gebiete im Zentrum und im Süden des Landes für weiße Siedler freigegeben, die über ein Reservoir völlig entrechteter und wirtschaftlich abhängiger Arbeitskräfte verfügten (Werner 2004). 1908 wurden der Arbeitszwang und die Passpflicht eingeführt. Zwangsumsiedlungen wurden durchgeführt und die Rassentrennung, auch einschließlich eines Verbots von Mischehen, wurde ab 1908 beschlossen (Hartmann 2004), so dass die Lineamente eines Vorläufers des Apartheidsystems entstanden, die unverändert von der Südafrikanischen Union während der Besatzung ab 1915, im Übergang zum Mandatsstatus 1919 und schließlich bei der Etablierung der Apartheid 1948 übernommen wurden.

Erst 1990 nach der Unabhängigkeit Namibias, der ein Vierteljahrhundert Befreiungskämpfe vorangegangen waren, wurde eine Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit möglich, die bald in die umstrittene Frage der Reparationen mündete.

Die vorliegende Studie untersucht acht zwischen 1978 und 2015 veröffentlichte deutschsprachige Romane zum Deutsch-Namibischen Krieg und zum Genozid an den Herero- und Nama-Völkern. Die Romane setzen an verschiedenen geschichtlichen Zeitpunkten an bzw. behandeln die Ereignisse aus sehr weit auseinandergehenden geschichtlichen Perspektiven. Der zentrale Ansatz hier ist jedoch weder die Bewertung der Aufarbeitung historischen Geschehens noch die diskursanalytische Kritik der jeweiligen Ideologien des Kolonialismus bzw. der Aufarbeitung des Kolonialismus, sondern die in den Romanen exponierte Gestaltung der affektiven Verbindungsmodi zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Deutschen und den ehemaligen Kolonisierten bzw. den heutigen Namibiern.

Stellvertretend für diese literarische Strömung bzw. Untergattung (gegenwärtige literarische Darstellungen des Deutsch-Namibischen Kriegs) wird der bahnbrechende Montage-Roman von Uwe Timm, Morenga (2000 [1978] / 2020 [1978]) als paradigmatisches Beispiel für die Untersuchungsmethodik behandelt.1 Im Gegensatz zu vielen literaturgeschichtlichen Studien auf diesem Gebiet wird der Roman im Rahmen des allgemein noch relativ kontroversen und umstrittenen – im deutschen Kontext noch wenig bekannten – Ansatzes der Affekttheorie interpretiert. Es wird gezeigt, dass die Montage-Technik Timms nicht nur die kritische „Brechung“ der vermeintlich kohärenten Realität und deren ideologische Konstruktion unterstützt, sondern dass das Nebeneinanderfügen von Fragmenten genauso gut die gegenseitige Interaktion und sogar Anziehungskraft von verschiedenen aneinander geratenen Kulturen suggerieren kann. Genau wie im Falle der Restitution von geraubten Kulturgütern geht es darum, nicht nur einen unabdingbaren kritischen Blick auf die Vergangenheit und ihre noch in die Gegenwart hineinreichenden Diskurse zu werfen, sondern darüber hinaus zu schauen, welche verbindenden Gesten, Rituale und Symboliken dringend notwendige interkulturelle Brücken bauen können und zur längst überfälligen Versöhnung beitragen können.

Neben Uwe Timms Morenga werden eine Reihe anderer Romane untersucht, um über den historisierenden diskursanalytischen Ansatz hinaus eine neue affekttheoretische Methodik zu erproben: angefangen mit Dietmar Beetz’ Flucht vom Waterberg (1989) über Giselher W. Hoffmanns Die schweigenden Feuer (1994), Gerhard Seyfrieds Herero (2003), Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003), Andrea Paluchs und Robert Habecks Der Schrei der Hyänen (2004) bis hin zu Hellmut Lemmers Der Sand der Namib (2014) und Bernhard Jaumanns Der lange Schatten (2015).

Sowohl der kritische, distanzierende, ideologieentlarvende als auch der konstruktive, zusammenbringende Ansatz gehören zur Ausstattung der progressiven Literaturkritik. Nicht zuletzt, weil beide Aspekte immer bereits von der Belletristik selbst mobilisiert werden. Einerseits entfremdet der Text die Realität und dementsprechend das Selbstverständliche an der Realität, um soziopolitische Transformationen zu ermöglichen und voranzutreiben. Andererseits kommuniziert die Literatur gleichwohl mit der Leserschaft anhand emotioneller Identifikation, Empathie und Teilhabe sowie anderer nicht-kognitiver ästhetischer Reaktionen zwecks Transformation der Wahrnehmung, Subjektivität und Handlungsfähigkeiten der Leserschaft. Eine solche Doppelausstattung der Literaturkritik kann wiederum als Teil einer kritisch-konstruktiven Kulturpolitik verstanden werden, die ferner im Rahmen der allgemeinen Verständigung zwischen den Kulturen eingebettet werden und diese tatkräftig unterstützen soll.

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