Читать книгу AfrikAffekt - Russell West-Pavlov - Страница 8
1.2 Thesen der Studie
ОглавлениеDie Witbooi-Bibel veranschaulicht im Kontext der kulturpolitischen Bestrebungen und Transformationen, die zur Rückgabe führten, die drei Hauptthesen der vorliegenden Studie zur Rolle des „Affekts“ im deutschsprachigen Roman der Gegenwart zum Thema Herero- bzw. Nama-Genozid 1904 bis 1908:
Metahistorische Romane sind Texte, die gezwungenermaßen die Spannung zwischen Fakt und Fiktion besetzen. Und zwar nicht unbedingt ausschließlich mit dem Ziel, eine historische Wahrheit zu Tage zu fördern oder aufzuarbeiten, sondern eher, um die Verbindung zwischen einem bzw. einer Leser*in einer fiktiven Geschichte und einer „wahren“ Geschichte zu überprüfen. D. h. letztendlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu forschen. In den hier untersuchten Textbeispielen geht es darum, in welchem Verhältnis der bzw. die Leser*in mittels des Texts zum Deutsch-Namibischen Krieg und zum Genozid der Herero- bzw. Nama-Völker in Deutsch-Südwestafrika vor über hundert Jahren steht.
Metahistorische Romane arbeiten auf den kognitiven Ebenen der Repräsentation, d.h. wie ein historischer Inhalt textuell dargestellt wird, und der Hermeneutik, d.h. wie der Rezipient der Darstellung diese Darstellung entschlüsselt bzw. interpretiert. Diese Ebenen entsprechen den Disziplinen der Diskursanalyse (Zima 1989) und der Rezeptionsästhetik (Jauß 1970). Allerdings arbeiten solche metahistorischen Romane nicht nur auf diesen zwei Ebenen. Sie wirken gleichzeitig auch auf der „affektiven“ Ebene, d.h. mit der Art und Weise, wie die Verbindung zwischen Text und Leser, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Romanfigur und interpretierendem Subjekt inszeniert und transformiert wird. Die Verbindung gilt dabei nicht als eine vorgegebene Größe, sondern stellt ein dynamisches Wirkungsfeld dar und bleibt als solches stets beweglich und unstabil. Der „Affekt“ meint hier, laut Spinoza (1972: 157), „die Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erregungen“; solche Änderungen des Tätigkeitsvermögens des Körpers werden durch die Tätigkeiten eines anderen Körpers erregt, so dass der „Affekt“ zwangsläufig die transformative Beziehung zwischen mindestens zwei Körpern bezeichnet. Im Rahmen dieser Studie wird ein erweiterter Affektbegriff vorausgesetzt und verwendet. Der „Affekt“ bezeichnet nicht nur Emotionen („Gefühle“) zwischen Menschen, sondern auch anderes „Gefühltes“: Solches, das nicht bewusst wahrgenommen wird, und ebenfalls solches, das zwischen nicht-menschlichen Körpern, auch nicht-lebendigen Körpern verkehrt, so dass jenes „Gefühltes“ nur anhand seiner Konsequenzen abgelesen werden kann. Der „Affekt“ ist überall wirksam als grundlegender Baustein der materiellen Realität in ihrer Dynamik (West-Pavlov 2019); er wirkt dank der räumlichen Nähe bzw. der materiellen Kausalität und bewirkt die Komplexität der „Emergenz“ der natürlichen Welt (Prigogine / Stengers 1980). Er ist wirksam auch im, um und durch den literarischen Text. Der literarische Text kann Affekte im engeren Sinne erwecken und daher im breiteren Sinne, im Rahmen anderer „Affektnetzwerke“, Effekte bewirken. Im Kontext der vorliegenden Studie geht es zum einen um eine radikal erneuerte Beziehung zur Kolonialvergangenheit. Einerseits zu Deutsch-Südwestafrika, der Kolonie, in der der Genozid stattgefunden hat, aber auch ganz konkret zum heutigen Namibia im Sinne einer Bewusstmachung der bestehenden Verhältnisse und Annäherung zwischen den Ländern im Zuge des aufkommenden Globalen Südens.
In dieser Hinsicht bezeichnet der literarische „Affekt“ nicht nur die „Gefühle“, die anhand literarischer Figuren registriert oder beschrieben werden, oder die Gefühle, die vom Leser bzw. der Leserin bei der Lektüre empfunden werden, sondern primär die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen sowie die daraus entstehenden Transformationen eines jeglichen Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dementsprechend beschreibt der literarische „Affekt“ ferner die wirkungsgeschichtlichen Verbindungen zwischen Subjekten in der Vergangenheit und Subjekten in der Gegenwart und schließlich die unergründlichen Innovationen, die in der Zukunft dadurch hervorgebracht werden können. Der „Affekt“ birgt daher das Potenzial für eine Veränderung der durch geschichtliche Ereignisse scheinbar vorbestimmten Verhältnisse. Der „Affekt“ beantwortet letztlich die Frage Bhabhas (1994: 212), „wie das Neue in die Welt kommt“. Er bildet eine Basis für einen textanalytischen und kulturpolitischen Ansatz, der die Geisteswissenschaften aus der Sackgasse der trotzdem nach wie vor unabdingbaren Diskursanalyse und der damit einhergehenden Ideologiekritik (vgl. z.B. Felski 2015; McDonald 2018) bringen kann, und welcher sich mit einem positiven Ausgangspunkt der grundsätzlichen Vernetzung und deren transformativer Wirkung verbindet.