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Kapitel 2

Womit Jugendliche beschäftigt sind

«Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.»

Galileo Galilei

Jugendliche um 16 sind körperlich zwar erwachsen, aber nicht geistig-seelisch. Diese Entwicklung stellt die Jugendlichen immer noch vor die gleichen Aufgaben wie früher, aber «Jugendliche müssen sich heute mit einer Vielfalt von Möglichkeiten auseinandersetzen, die es vor wenigen Generationen noch gar nicht gab. Die persönlichen und sozialen Entwicklungsaufgaben, die Heranwachsende meistern müssen, sind komplexer geworden. Es fehlen eigentliche Rollenvorbilder oder Werte, die den Adoleszenten in dieser wichtigen Lebensphase eine Orientierungshilfe sein könnten.» (10) Sie sind damit beschäftigt, die eigene Entwicklung in Richtung Identität und Persönlichkeit voranzutreiben und sich in der Gemeinschaft mit anderen zurechtzufinden. Die Entwicklungspsychologie spricht von Entwicklungsaufgaben, die die Jugendlichen zu leisten haben. Der erste Abschnitt des Kapitels beschäftigt sich mit diesen Entwicklungsaufgaben, die im Wesentlichen die Herausbildung einer Identität und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper beinhalten und ausserdem mit Abgrenzung und Kooperation zu tun haben. Im zweiten Abschnitt geht es um das jugendliche Lernen und im dritten schliesslich um die Kooperation der Jugendlichen mit der Schule/Ausbildung.

Entwicklungsaufgaben

Mit dem Eintritt in die (Vor-)Pubertät verlieren Kinder ihre Natürlichkeit und Unbeschwertheit. Sie werden sich ihrer selbst bewusst und stellen alles infrage: den eigenen Körper, die eigene Intelligenz, die eigenen Gefühle, die eigenen Werte, die Vorlieben und Abneigungen. Bis dahin war das Kind das, was die Erwachsenen in ihm gesehen und von ihm erwartet haben. Nun wehrt es sich zunehmend gegen diese Definition von aussen.

Um ein neues, eigenes Selbst auszubilden, braucht es einen langen Prozess von Auflehnung, Reibung, Suchen und Finden. Auf dieser Suche werden die engsten Bezugspersonen harten Belastungen und Tests ausgesetzt: «Leben diese wirklich die Werte, die sie immer predigen? Sind sie echt? Lieben sie mich, weil ich brav bin, oder lieben sie mich auch, wenn ich so bin, wie ich bin? Wie weit lassen sie mich gehen? Wo ziehen sie Grenzen? Sind sie gerecht?» Ausbildende sind von diesen Tests nicht ausgenommen. In der stetigen Auseinandersetzung bilden die Jugendlichen ihre eigene Identität aus, entwickeln Selbstvertrauen und lernen, sich zu behaupten. Die Jugendlichen brauchen es dringend, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt und ihre sich formende Persönlichkeit ernst nimmt.

Die folgenden vier Entwicklungsaufgaben stehen bei Jugendlichen, die die Vorpubertät hinter sich haben und mindestens 16 Jahre alt sind, im Vordergrund:

•Die Bildung einer eigenen Identität

•Den eigenen Körper bewohnen lernen

•Einen individuellen Umgang mit der Sexualität entwickeln

•Selbst- und Sozialkompetenzen weiterentwickeln

Die Bildung einer eigenen Identität

Identität bedeutet: Ich habe ein stimmiges und zusammenhängendes Bild von mir selbst. Ich kenne meine Stärken und Schwächen. Jugendliche stellen sich folgende Fragen oder Varianten davon oft: «Wer bin ich?» – «Was werde ich sein?» – «Wie möchte ich sein?» – «Warum bin ich so?» – «Was wäre, wenn es mich nicht gäbe?» – «Für wen hält man mich?»

Zu diesen Fragen gehören natürlich die Selbstzweifel und auch die Frage, wie widersprüchlich jemand überhaupt sein kann und darf. Gefundene Bausteine einer eigenen Identität werden gerne zur Abgrenzung nach aussen demonstrativ gezeigt – in Kleidung, Frisur, Verhalten und Einstellungen. Es wird immer wieder erprobt, wie sicher diese Abgrenzung zwischen innen und aussen gelingt, welches Selbst man zur Schau tragen will und wie man auf die andern wirkt. In dieser Phase der Unklarheit über die eigene Person, ihre Stärken und Ausprägungen sind Jugendliche sehr empfindlich und verletzbar. Sie ziehen sich zurück und reagieren harsch auf Urteile von Personen, zu denen sie kein Vertrauen haben. Bei männlichen Jugendlichen kann dies zu einem aggressiven Gegenangriff führen.

Identität wird durch Interaktion, Selbstbilder und Fremdbilder, also durch die Spiegelung in anderen geformt. Indem Jugendliche sich mit Gleichaltrigen vergleichen, Gespräche mit Vertrauten pflegen und ihre Wirkung auf andere testen, bauen sie ihr Selbstbild auf. Dadurch reifen die eigene Wahrnehmung und das Bewusstsein für die eigene Ausstrahlung, aber auch der Wunsch, das eigene Selbst nach aussen zusammenhängend zu vertreten und zu verteidigen. Wenn Jugendliche motzen: «Ich bin gar nicht so, wie du denkst», dann steckt dahinter eine grosse Arbeit an sich selbst, nämlich das Entdecken der eigenen Identität und deren Verteidigung.

Da Identität sich durch Interaktion herausbildet und das Einnehmen von unterschiedlichen Rollen in der Gesellschaft und in Gruppen ein zentraler Lernfaktor ist, soll hier kurz auch auf die beliebten elektronischen Rollenspiele eingegangen werden. Sehr viele Jugendliche spielen sie; oft länger, als ihnen gut tut und auf Kosten von Schlaf und Bewegung. In einer aktuellen Bachelor-Arbeit kommt Bernadette Schaffner zum Schluss, «dass exzessives Spielen sich nicht nur psychisch äussert, sondern sich auch biologisch auf das Gehirn und dessen Struktur auswirkt.» (13a) Offenbar kann exzessives Spielen (mehr als 30 Stunden pro Woche) zu ungesunden Bewältigungsstrategien wie z. B. Flucht ins Spiel führen (statt reale Alltagssituationen zu bewältigen). Andererseits können die Spielenden verschiedene Rollen ausprobieren und sich so an die eigene Identität herantasten. Die Spielgemeinschaften tragen dazu bei, dass Jugendliche ein Gefühl der Zugehörigkeit erleben und kooperieren lernen.

Lob und Kritik wirken wesentlich stärker auf die Jugendlichen, als wir gemeinhin annehmen. Auch wenn sie gut gemeint sind, kommen sie nicht immer in diesem Sinne an. Da Jugendliche sehr empfindlich sind, können sie sehr gekränkt reagieren, und sie erinnern sich oft Jahrzehnte später noch daran, wie sie verletzt worden sind. Mit Lob kann ein Jugendlicher in eine Richtung gelenkt werden, ohne dass die Lehrperson das selbst merkt. Als Lehrperson sollte man sich deshalb auch der prägenden Wirkung von Lob bewusst sein und ehrlich und angemessen loben. Falsches Lob, aber auch übersteigerte Kritik oder abwertendes Verurteilen erschweren es dem Jugendlichen massiv, zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu kommen. Und eine realistische Selbsteinschätzung der eigenen Stärken und Schwächen macht eine starke Identität aus.

Selbstvertrauen

Mit der eigenen Identität wächst das Selbstvertrauen. Selbstvertrauen heisst: Ich kann mich auf mich selbst verlassen. Ich traue mir zu, mit vielen Situationen umgehen zu können. Selbstvertrauen wächst an Erfolgserlebnissen, an der Wertschätzung, am Überwinden von Problemen und am Bestehen von Abenteuern. Da, wo der Jugendliche Erfolg erntet, traut er sich immer mehr zu, egal, ob das eine positive Leistung ist (ein Instrument spielen, etwas zu lernen, im Online-Spiel einen Level weiterzukommen, eine erfolgreiche Strategie zu entwickeln) oder eine negative (andere einschüchtern, rauchen, grosse Risiken eingehen).

Selbstbehauptung

Selbstbehauptung heisst, sich selbst zu mögen und sich abgrenzen und durchsetzen zu können. In ihrem Bedürfnis nach Wertschätzung und Erfolg sind Jugendliche verführbar. Sie müssen lernen, Nein zu sagen zu dem, was nicht zu ihnen passt, und sich einzusetzen für das, was sie brauchen. Das erfordert Mut und Selbstvertrauen.

Der Druck auf die Jugendlichen ist enorm, jeder muss eine interessante Persönlichkeit sein. In einem Interview sagte eine Jugendliche: «Es ist schon ein Problem, weil man immer denkt: Die anderen sind viel schöner, gescheiter, beliebter …», und ein Jugendlicher: «Wegen dieses Leistungsstresses tauchen viele Jugendliche am Wochenende in eine andere Welt ab – weil sie die Realität nicht mehr ertragen.» Und: «Ich spüre den Perfektionsanspruch enorm» und: «Mich stresst ausserdem, dass man ständig glücklich sein muss».

Jugendliche messen sich an den idealen Bildern der Werbung und an den Influencern und Stars von Social Media und YouTube – und bekommen ständig gesagt, dass ihnen die Welt offenstehe, wenn sie bloss ebenso interessant, schön oder beliebt seien wie die Vorbilder. Aber diese Vorbilder sind unerreichbar; der berufliche Alltag mit seinen Anforderungen und die Freizeitgesellschaft halten oft mehr Misserfolge bereit als Situationen, die das Selbstvertrauen stärken. Selbstbehauptung besteht dann vordergründig darin, «abzutauchen», Drogen zu nehmen, sich die tollen Dinge auf Pump zu kaufen oder zu klauen oder andere einzuschüchtern. Dass ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen bereits an Wohlstand und Luxus teilhaben kann, ohne sich die dafür nötigen Mittel selbst erarbeiten zu müssen und zuerst selbstständig zu werden, erhöht den Druck für die Gleichaltrigen.

Echte Selbstbehauptung wächst durch liebevolle Unterstützung, durch Reflexion, durch die Pflege von Wertvorstellungen und das Respektieren der Privatsphäre. Diskussionsanstösse wie: «Du bist stark, du brauchst nicht jeden Blödsinn mitzumachen, das finde ich toll an dir» – «Du willst doch später eine Stelle bei einer Bank finden, glaubst du, dass dir eine schlechte Abschlussnote förderlich sein wird? Was hindert dich daran, zu lernen? Wie könntest du eine gute Prüfung schaffen?» und echte Gesprächsangebote helfen den Jugendlichen, sich abzugrenzen und ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, statt andern nachzueifern. Selbstbehauptung lernen Jugendliche ausschliesslich in der liebevollen, aber harten Auseinandersetzung mit Autoritätspersonen, die sich nicht entziehen, sondern Stellung beziehen und immer wieder Angriffsflächen bieten und Diskussions- und Reflexionsanstösse geben.

Den eigenen Körper bewohnen lernen

Mit 16 Jahren ist bei den meisten Jugendlichen die körperliche Entwicklung weit fortgeschritten. Sie haben jetzt die körperliche Erscheinung von Erwachsenen, aber das Verhältnis zu diesem veränderten Körper ist noch keineswegs ein versöhnliches. Und die Sorge für den eigenen Körper bezieht sich auf Äusserlichkeiten, kaum je auf die gesunde Ernährung oder genügend Schlaf oder Bewegung. Oft essen die Jugendlichen jetzt regelmässig auswärts, verpflegen sich möglichst günstig und trendig, schlafen zu wenig, treiben wenig Sport und beschäftigen sich stundenlang mit Computer und Smartphone, was zu Übergewicht und Haltungsschäden führen kann.

Zugenommen hat in den letzten Jahren der Anteil Jugendlicher, die einen definierten Körper wollen und dafür hart und diszipliniert trainieren, bis zur Muskelsucht. (7a)

Ernährung

Etwa jeder dritte Jugendliche ist übergewichtig. Immer mehr Mädchen und auch Jungen leiden an Essstörungen. (7b) Gleichzeitig nehmen die körperlichen Aktivitäten der jungen Menschen dramatisch ab. Die Folge: Es wächst eine Generation mit gravierenden Gesundheitsproblemen heran. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen in der veränderten Ernährung in der Kindheit und dem Freizeitverhalten. Fettleibigkeit im Jugendalter hat grosse Auswirkungen auf die Gesundheit und das Selbstwertgefühl. In einer Gesellschaft, in der Schönheit Schlanksein bedeutet, ist jede dicke Person und jeder schmächtige Junge ein Verlierer. Die Stigmatisierung der Übergewichtigen führt nicht dazu, dass die schlechten Essgewohnheiten aufgegeben werden, aber das Selbstwertgefühl schrumpft mit jedem Kilo mehr, und je mehr es schrumpft, desto mehr stopft man in sich rein – ein Teufelskreis von schlechter Ernährung, Übergewicht und Minderwertigkeitsgefühlen.

Je älter Kinder werden, desto geringer ist der Einfluss der Eltern auf das Ernährungsverhalten. Die Schulzeit und die ausser Haus verbrachte Freizeit werden länger. Da Taschengeld verfügbar ist, macht es Spass, aus dem reichhaltigen Lebensmittelangebot selbst auszuwählen. Die Einstellung zum Essen wird häufig vom Umfeld sowie von der Meinung der Freundinnen und Freunde geprägt und wechselt rasch. Ausserdem haben viele Menschen keine Ahnung mehr, woher die Lebensmittel kommen und wie sie hergestellt werden. Die Diskussionen um den Klimawandel bringen aktuell vermehrt Themen wie Foodwaste, Saisonalität, Regionalität, Bio-Nahrungsmittel und Vegetarismus in die Medien, hier gibt es Anknüpfungspunkte, um den Informationsbedarf der Jugendlichen zu decken.

Schlaf

Jeder Mensch braucht eine andere Menge Schlaf, und jeder Mensch hat einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus. Während die einen besser am Morgen arbeiten und die andern besser am Abend, haben die Dritten ihr Leistungshoch am Nachmittag. Je nach Alter verändert sich dies tendenziell. Kinder stehen gerne früh auf, während der Pubertät verschiebt sich der optimale Zeitpunkt des Schlafengehens tiefer in die Nacht und die des Aufstehens immer weiter in den Tag hinein. Im Alter von ungefähr 20 Jahren ist der Höhepunkt des Daseins als «Eule» (die Eule geht spät ins Bett und steht spät auf), im Erwachsenenalter erfolgt überwiegend wieder eine Entwicklung in Richtung «Lerche» (die Lerche geht früh ins Bett und steht früh auf). Die neuesten Ergebnisse der Schlafforschung lassen die Schlussfolgerung zu, dass der tägliche Schulbeginn für Jugendliche besser später angesetzt würde.

Während man schläft, ist das Gehirn nicht ausgeschaltet, sondern verarbeitet Informationen aktiv weiter. Es konnte nachgewiesen werden, dass das Gehirn nach genügend Schlaf besser arbeitet als nach Schlafmangel. Ebenso gibt es in der Lernforschung deutliche Hinweise darauf, dass Schlafen unmittelbar nach dem Lernen die Behaltensquote signifikant erhöht. Die Bedeutung des Schlafes für die Arbeitsleistung kann also kaum unterschätzt werden. Und zwar werden während des Tiefschlafs die gelernten Inhalte (z. B. Vokabeln, Geschichten, eigene Erlebnisse) verfestigt, und während der aktiven Phasen, die auch die Traumphasen sind, werden Fertigkeiten (wie Schwimmen, Radfahren usw.) verfestigt. Das heisst: Genügend Schlaf zur richtigen Zeit und in der richtigen Qualität ermöglicht es dem Gehirn, das Gelernte zu festigen. Offenbar hilft bereits eine kurze Tiefschlafphase über Mittag, um in einem Gedächtnistest besser abzuschneiden.

Umgang mit Sexualität lernen

Jugendliche entdecken zwischen 15 und 18 die ausgelebte Sexualität mit Geschlechtsverkehr. 66 Prozent der 17-jährigen Mädchen deutscher Herkunft sind bereits sexuell erfahren, bei den Mädchen mit Migrationshintergrund sind es 44 Prozent. (15) Lehrpersonen haben es also mit jungen Menschen zu tun, die Sexualität leben – und dies meistens in treuen Beziehungen. Innerhalb einer Generation hat zwischen 1970 und 1990 eine starke Veränderung in der Einstellung zur Sexualität stattgefunden. Treue ist wichtiger geworden, die Selbstbestimmung der Mädchen gegenüber den Jungen ist gewachsen. Die Zustimmung der Eltern zu gelebter Sexualität ist in diesem Zeitraum entsprechend grösser geworden, mehr Jugendliche als früher können ihre Sexualität zu Hause leben. Rund die Hälfte der jungen Frauen und ein Drittel der jungen Männer geben an, in einer festen Partnerschaft zu leben. (15a) Der Anteil der jungen Männer, die ihren ersten Geschlechtsverkehr mit einer festen Partnerin erleben, nimmt deutlich zu. (15b)

Verändert hat sich die Thematik der sexuellen Orientierung (homosexuell, bisexuell, heterosexuell, trans, queer, pansexuell, asexuell). Darüber wird aktuell sehr viel offener und häufiger gesprochen als noch vor 10 Jahren.

Was sich nicht verändert hat: Jugendliche reden über ihre Sexualität nicht so gerne mit Erwachsenen. Sie orientieren sich im Internet und in Jugendzeitschriften. Barbara Sichtermann (16) schreibt dazu: «Es gehört zu den unglücklichsten Missverständnissen im Verhältnis der Generationen, Eltern unter den Verdacht mangelnder Aufklärung und Anleitung zu stellen, sobald die heranwachsenden Kinder mit ihrer Sexualität in Konflikte geraten. In Wahrheit sind die Eltern auf diesem Felde weitgehend einflusslos.» Und persönlich würde ich anfügen: «Ebenso die Lehrpersonen.»

Denn Sexualität ist ein Thema, das Jugendliche für sich selbst und untereinander entdecken wollen und müssen. Im Rahmen der immer wieder geforderten sexuellen Aufklärung sollten wohlmeinende und unverkrampfte Erwachsene Themen rund um Sexualität ansprechen: Verhütung, Krankheiten und die Legalität (Pädophilie, Gewaltdarstellungen, vor allem auch im Zusammenhang mit dem Internet). Moralische und ethische Fragen liessen sich wohl, falls gleichberechtigt möglich, am ehesten im Zusammenhang mit ethischen und moralischen Fragen ganz allgemein diskutieren – aber Fragen zur Sexualpraktik und Einstellung zur Sexualität an sich gehören ganz klar den Jugendlichen unter sich und haben im Schulzimmer nichts zu suchen. Ausser natürlich in Form von Informationsmaterialien, die frei zugänglich sein sollten, damit die Jugendlichen sich bei Bedarf und unbeobachtet informieren können. Wichtige Webseiten in diesem Zusammenhang sind: www.feel-ok.ch und www.147.ch.

Sozial- und Selbstkompetenzen entwickeln

Die Eltern-Kind-Beziehung ändert sich im Laufe der Entwicklung ständig. Von der vollständigen Abhängigkeit als Säugling bis zur Selbstverantwortung des Erwachsenen führt ein weiter und schwieriger Weg, der sich aus der Sicht des Kindes als Selbstwerdungsprozess und aus der Sicht der Eltern als Prozess des Los- und Überlassens und des Zutrauens präsentiert. Im Idealfall wird dieser Weg in kontinuierlichem Aufeinanderbezogensein und in kleinen, ebenmässigen Schritten begangen. Kommt es zu unterschiedlich grossen Schritten, zu massiven Verzögerungen oder Beschleunigungen auf der einen oder anderen Seite, führen diese zu Spannungen und eventuell zu grösseren Entladungen.

Aus diesem Prozess der Ablösung und des emotionalen Rückzugs aus der elterlichen Familie ergibt sich notwendigerweise die Hinwendung zu Gleichaltrigen. Während die Familie eine nicht selbst gewählte Zwangsgemeinschaft darstellt, bieten die Cliquen und Gruppen, in denen sich Jugendliche so gerne bewegen, freiwillige Kontakte. Hier können sie Beziehungen unter ihresgleichen pflegen und ihre Wirkung auf andere immer wieder testen. Dabei ist das Zusammensein wichtiger, als gemeinsam etwas zu unternehmen. Auch einfach nur rumzuhängen und zu chillen ist beliebt, leider finden sich dafür an vielen Orten wenige öffentliche Räume ohne Konsumzwang. Meistens ist die Clique das Übergangsstadium zwischen der familiären Beziehung und der Paarbeziehung. Die Gleichaltrigen bilden ein wichtiges Lernfeld, um soziale Beziehungen einzuüben. Hier werden Freundschaften gepflegt, Rücksichtnahme und Toleranz geübt. Aber auch Isolation, Ausgrenzung und Konkurrenz oder Intrigen gehören zum sozialen Leben, sie sind inzwischen auch in den Social Media angekommen und führen im Extrem zu Cybermobbing. Erwachsene sollten sich in dieses Gruppenleben nicht einmischen. Hingegen kann ein Gespräch darüber, was die Gruppe (analog oder digital als Community) so wichtig macht und warum gewisse Individuen darin eine stärkere oder schwächere Stellung einnehmen, die Jugendlichen dabei unterstützen, dass sie ihren eigenen Platz finden.

Werte wie Freundschaft, Partnerschaft und Familie stehen bei Jugendlichen an erster Stelle. 89 Prozent finden es besonders wichtig, gute Freunde zu haben, 85 Prozent, einen Partner zu haben, dem sie vertrauen können, und 72 Prozent, ein gutes Familienleben zu führen.

Fast zwei Drittel der Jugendlichen legen großen Wert auf den Respekt vor Gesetz und Ordnung, und viele wollen fleißig und ehrgeizig sein. Wichtiger als in den vorigen Studien ist ihnen die Bereitschaft zum umwelt- und gesundheitsbewussten Verhalten. Dagegen haben materielle Dinge wie Macht oder ein hoher Lebensstandard eher an Bedeutung verloren. Sehr viele Jugendliche finden es wichtig, «die Vielfalt der Menschen anzuerkennen und zu respektieren». (17a) Während junge Männer eher lockere Freundschaftsnetze pflegen und bei ihnen die gemeinsamen Aktivitäten (auch Gamen) im Vordergrund stehen, suchen sich junge Frauen Gesellschaft zum Reden, Shoppen und Chatten. Zu einer stärkeren Verweigerungshaltung gegenüber der Erwachsenenwelt führen die Kontakte mit Gleichaltrigen nur dann, wenn die Eltern für die Jugendlichen bedeutungslos geworden sind. (18a) Jugendliche können demnach erst dann von Gleichaltrigen negativ beeinflusst werden, wenn ihr Verhältnis zu den Eltern beschädigt ist. Dieser empirische Befund dünkt mich äusserst wichtig für Lehrpersonen. Er bedeutet, dass Jugendliche, die sich von einer Gleichaltrigengruppe zu kriminellem oder gewalttätigem Handeln verleiten lassen, ein Vakuum in der Beziehung zu vertrauenswürdigen Erwachsenen haben. Und dies bedeutet für die Lehrpersonen, dass sie möglicherweise die Einzigen sind, die imstande wären, diese Leerstelle zu füllen, wenn sie eine Vertrauensbeziehung aufbauen könnten.

In der Ausbildung und im Berufsleben werden die Jugendlichen intensiv mit dem Thema Teamarbeit und Zusammenarbeit konfrontiert. Häufig stehen sie zum ersten Mal vor der Aufgabe, mit Erwachsenen und anderen Jugendlichen verbindlich und professionell zusammenzuarbeiten. Da das berufliche Selbstvertrauen oft noch klein und das Bedürfnis nach Abgrenzung und Unabhängigkeit gross ist, gelingt das nicht auf Anhieb. Um das nötige Selbstvertrauen zu entwickeln, brauchen Jugendliche wiederholt das Erlebnis, dass sie zu einem gemeinsamen Werk einen wesentlichen Beitrag leisten und einer Sache zum Erfolg verhelfen können. Rückschläge und Fehlverhalten müssen dabei in Kauf genommen werden. Die Aufgabe der Lehrperson ist es, die Jugendlichen im Bereich Sozial- und Selbstkompetenzen zu fördern.

Sozial- und Selbstkompetenzen

Zu den Sozial- und Selbstkompetenzen werden diejenigen Fähigkeiten gezählt, die es Menschen ermöglichen, den Umgang mit sich selbst und mit anderen positiv zu gestalten. Je nach Kontext werden in diesem Zusammenhang häufig und primär Kommunikations-, Konflikt- oder Teamfähigkeit oder Belastbarkeit genannt.

Um aufzuzeigen, welche Bandbreite Sozial- und Selbstkompetenzen umfassen, habe ich sie in meinem Buch «Soft Skills fördern» (19) in sechs Bereiche unterteilt (1 Entwicklungsfähigkeit, 2 Emotionale Kompetenz, 3 Wirkung, 4 Kommunikative Kompetenz, 5 Beziehungskompetenz und 6 Gruppenkompetenz). Aus diesen 6 Bereichen sind im Zusammenhang mit den Entwicklungsaufgaben Jugendlicher die folgenden acht Soft Skills besonders relevant.

Identität (2.1 aus dem Kapitel emotionale Kompetenz)

•Sich selbst kennen mit den eigenen Stärken und Schwächen

•Sich realistisch einschätzen

•Selbstvertrauen haben

•Sich eine eigene Meinung bilden und diese vertreten

•Sich durchsetzen können

Selbstständigkeit (2.3 aus dem Kapitel emotionale Kompetenz)

•Eigene Entscheide treffen

•Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen

•Eine Arbeit ohne fremde Hilfe planen und durchführen

•Sich eigene, realistische Ziele setzen

•Falls nötig, geeignete Hilfe heranziehen

•Naheliegendes erkennen

Selbstdisziplin (2.2 und 2.4 aus dem Kapitel emotionale Kompetenz)

•Leistungsbereitschaft zeigen

•Verpflichtungen eingehen und Regeln einhalten

•Frustrationstoleranz

•Belastungsfähigkeit

•Aufgaben zuverlässig erfüllen

Flexibilität (aus Kapitel 1 Entwicklungskompetenz)

•Sich auf neue Situationen einstellen

•Gewohntes hinterfragen

•Umdenken

•Verschiedenes nebeneinander erledigen

•Offen sein für neue oder ungewohnte Ideen

•Von einer Aufgabe zur andern wechseln

Kreativität (aus Kapitel 1 Entwicklungskompetenz)

•Lösungen für Probleme finden

•Neue Möglichkeiten ausprobieren

•Improvisieren können

•Fantasievolle Ideen haben

•Mut zeigen für Ungewohntes

•Mit wenig viel bewirken können

Kommunikationsfähigkeit (aus Kapitel 4 Kommunikationskompetenz)

•Sich verständlich ausdrücken

•Nicht vorschnell werten und interpretieren

•Komplimente akzeptieren

•Emotionen zum richtigen Zeitpunkt einbringen

•Nachfragen, falls etwas nicht verständlich ist

•Zuhören können

Teamfähigkeit (aus Kapitel 5 Gruppenkompetenz)

•Sich öffnen für einen toleranten, vielseitigen Umgang mit Andersdenkenden, Benachteiligten und Menschen aus andern Kulturen

•Zuhören können

•Getroffene Entscheide akzeptieren

•Mit anderen zusammen Lösungen erarbeiten

•Schwächen oder Fehler eingestehen können

•In einer Gruppe zurückstehen können

•Rücksicht nehmen

•Sich als aktives Mitglied der Gemeinschaft verstehen

Konfliktfähigkeit (aus Kapitel 3 Wirkungskompetenz und Kapitel 5 Beziehungskompetenz)

•Nein sagen können

•Andere Meinungen akzeptieren

•Auf Kritik angemessen reagieren

•Spannungen erkennen und ansprechen

•Unerwünschte Kontakte unterbinden

•Seine eigene Meinung vertreten

•Verbale und nonverbale Verletzungen wahrnehmen

Diese Soft Skills können nicht in separaten Lektionen als Pflichtfächer eingeübt werden. Sie müssen vielmehr während des Unterrichts zugetraut und gefördert werden, indem der ganze Unterricht so gestaltet wird, dass immer auch Soft Skills mitgefördert werden. (20a) Wesentlich ist dabei, die Merkmale eines aufbauenden Entwicklungsklimas zu beherzigen. Detailliertere Informationen zu diesen Merkmalen finden Sie in den Zusatzmaterialien auf www.hep-verlag.ch.

Diese Fähigkeiten können nicht in separaten Lektionen als Pflichtfächer eingeübt werden. Sie müssen vielmehr während des Unterrichts zugetraut und gefördert werden, indem der ganze Unterricht so gestaltet wird, dass er ohne diese Fähigkeiten nicht funktioniert. (20a)

Lernen

Das Lernen verändert sich im Verlaufe des Lebens. Während das Kind unvoreingenommen und neugierig auf Unbekanntes zugeht, sind Erwachsene oft sehr vorbelastet und geprägt von negativen Lernerfahrungen. Jugendliche in der Pubertät (zwischen 13 und 16) sind nach den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologen kaum schulbar. Sie sollten eigentlich gemäss ihrem Entwicklungsstand eher ausserhalb einer schulischen Umgebung in Projektwochen, auf Abenteuerreisen, im Kontakt mit der Erwachsenenwelt gebildet werden. Stattdessen verlieren sich gerade sozial und intellektuell Schwächere beim Gamen und in den Social Media und verpassen dabei neben dem Lernen auch wichtige Erfahrungen im sozialen Umgang mit andern. Lehrpersonen berichten bei der heutigen Generation von 16-Jährigen häufig von mit sich selbst schnell zufriedenen Jugendlichen, die erwarten, dass sich Erfolg sofort einstellt, und die nicht bereit sind, dranzubleiben und zu üben. Warten und Passivität ertragen sie schlecht, sie sind sich Zappen und permanente Berieselung gewohnt. Wenn sie dann in die Berufsausbildung oder in die Mittelstufe des Gymnasiums kommen, haben sie oft den totalen Schulverleider und wollen so schnell wie möglich raus aus dieser für sie einengenden Welt. Aber zum Glück für uns Lehrpersonen verbessert sich die Lernleistung wieder, und 16-Jährige sind zunehmend bereit, ihr eigenes Lernen zu organisieren und Verantwortung zu übernehmen.

Die neuere Forschung im Bereich Lerntheorien und Lernphysiologie zeigt, wie unterschiedlich Menschen lernen. Demnach ist das Lebensalter ein wichtiger Faktor beim Lernen. Und zwar keineswegs gemäss dem Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr»; vielmehr hat jedes Alter seine eigenen Stärken beim Lernen. Detailliertere Informationen zum Lernen von Kindern und Erwachsenen finden Sie bei den Zusatzmaterialien auf www.hep-verlag.ch.

Jugendliche zwischen 16 und 18 stehen, was das Lernen angeht, zwischen dem Lernen als Kind und dem Lernen als Erwachsenen. Sie haben verschiedene Fähigkeiten des Erwachsenen noch nicht und bringen doch bereits Lernerfahrungen mit, die sich verfestigt haben. Sie haben üblicherweise noch kaum Verantwortung für ihr Lernen und ihr Leben übernommen, sondern sind auf der Suche nach ihrer eigenen Identität und ihrem eigenen Lebenssinn. Ihr Gehirn befindet sich in einer Umbauphase. Sie können überraschend schnell etwas lernen, wenn sie ganz davon begeistert sind (ob Sport oder Hobby, Computer oder Handwerk). Und ihr Gehirn reagiert ebenso schnell auf die entsprechenden Impulse. Unstimulierte Bereiche dagegen entwickeln sich kaum. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass Jugendliche positive Gefühle und Erfolgserlebnisse beim Lernen haben, um die Entwicklung des Gehirns zu fördern.

Lernen von andern

Jugendliche sind empfänglich und sehr beeinflussbar. Die Meinung anderer hat höchste Wichtigkeit für das Selbstkonzept. Die Familie wird als soziales Lernfeld genutzt (was Eltern oft ziemlich fordert), und in der Schule und unter Gleichaltrigen werden Abgrenzungsmerkmale (zum Beispiel Kleidung, bevorzugte Musikrichtung) bedeutsam. Die Medien bekommen mehr Gewicht, und es steigt das Interesse an geselligem Zusammensein. Anerkennung, Dazugehören, Ausgrenzung und Herabsetzung spielen eine wichtige Rolle. Jugendliche nutzen digitale Medien völlig selbstverständlich. «Jugendliche, insbesondere aus bildungsnahen Lebenswelten, sind überzeugt, dass der ‹richtige› Umgang mit digitalen Medien Kompetenzen erfordert und dass man diese lernen muss – dazu gehört nicht nur die Nutzung von Geräten, sondern auch die Souveränität, sie ausschalten zu können.» (3b)

Kognitive Leistung

Die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit nimmt im Laufe des Jugendalters zu, Kinder verarbeiten noch lange nicht so schnell wie Erwachsene. Die neueste Gehirnforschung zeigt, dass die Höchstleistung in einem regelmässig geübten Gebiet (ob Schach oder Bogenschiessen) nach etwa 20 Jahren regelmässigen Übens auftritt. Jugendliche haben viel Übung darin, sich auf ihr Umfeld einzustellen, es zu entschlüsseln und einzufordern, was sie für ihr Überleben brauchen. Deshalb sind sie neugierig und lieben es, zu knobeln und zu rätseln. Noch fehlen aber vielfältige Erfahrungen und Kenntnisse, um komplexe Zusammenhänge zu verstehen und Fakten in ihrer Bedeutung zu erkennen. Kindern fehlt weitgehend die Möglichkeit, Hypothesen zu formulieren und über abstrakte Bereiche und Konzepte nachzudenken. Erst ab dem zwölften Lebensjahr ist ein Mensch in der Lage, neues Wissen ohne ständigen Rückgriff auf konkrete Erfahrung logisch abzuleiten. Die Fähigkeit zur Vernetzung und zur Entschlüsselung komplexer Situationen steigt, kann deshalb aber noch lange nicht einfach vorausgesetzt, sondern muss vielfach geübt werden. Dass Jugendliche das können, zeigen sie beim Gamen, wo sie oft sehr konzentriert probieren und üben, um einen höheren Spiellevel oder verbesserte Fähigkeiten für ihren Avatar zu erlangen. Allerdings erfolgt hier das Feedback auf den Übungsversuch unmittelbar, sachlich und eindeutig. Daraus könnten Lehrpersonen folgern, dass das Ermöglichen von schnellen Erfolgs- und Misserfolgserlebnissen mittels bewältigbaren Aufgabenstellungen erfolgsversprechend sein könnte, um die Jugendlichen zum Üben zu veranlassen.

Emotionale Leistung

Bei Jugendlichen ist der Einfluss des Frontallappens im Gehirn, der für die Hemmung und Steuerung von Gefühlen zuständig ist, vorübergehend eingeschränkt. (21) Deshalb reagieren Jugendliche oft impulsiv, ohne die Konsequenzen ihres Handelns richtig zu durchdenken. Auch nimmt bei pubertierenden Jugendlichen die Fähigkeit ab, Emotionen bei andern zu erkennen. Die Entwicklung des Frontallappens ist erst nach dem 20. Lebensjahr abgeschlossen, und erst voll entwickelte Gehirne erkennen Stimmungen und Gefühle aus Mimik und Gestik. Das bedeutet, dass Jugendliche egozentrisch und gefühllos handeln können, weil sie schlicht keine Empathie aufbringen können. Die Fähigkeit zur Empathie kommt im Verlaufe der Zeit wieder, sobald die Gehirnentwicklung einen gewissen Reifezustand erreicht hat. Dies heisst aber auch, dass Empathie und Einfühlung trainiert werden müssen, damit sich die entsprechenden Gehirnstrukturen entwickeln. Auch haben Jugendliche noch wenig Erfahrungen mit Identitäten und wissen wenig vom Werdegang grosser Persönlichkeiten. Sie fangen erst an, sich dafür zu interessieren, wie aus einem Menschen im Verlaufe seiner Biografie ein einmaliges Individuum entsteht. Das Verständnis für Schwächen anderer ist wenig ausgebildet, und Jugendliche sind fest davon überzeugt, es einmal besser zu machen als diese unvollkommenen Vorbilder, die wir Erwachsenen für sie sind.

Lernen als Herausforderung und Spiel

Positives Klima

Das Gehirn speichert die Gefühle beim Lernen mit dem Lerninhalt gemeinsam ab. Wird in schäbigen Klassenzimmern, in einer konfliktträchtigen Umgebung gelernt, sind die Lehrpersonen lustlos und abwertend, kann der Lernstoff kaum dauerhaft im Gedächtnis verankert werden. Was unter Angst gelernt wird, bleibt oft lebenslang mit Angstgefühlen verbunden. Spass am Lernen fördert also eher die Motivation, weiterzulernen, was wiederum zu Erfolgserlebnissen führt und Spass macht. Eine positive Lernspirale kommt in Gang. Die Lernforscher konnten überdies beweisen, dass Lernen am besten gelingt, wenn Druck und Stress wegfallen. Jugendliche müssen also (wie alle, die etwas lernen sollen oder wollen), positiv angesprochen werden, damit ein Lerneffekt erreicht wird. Erfolgserlebnisse spielen dabei eine wichtige Rolle, da sie das Belohnungszentrum im Gehirn aktivieren und wie Lerndoping wirken.

Aktiv lernen

Lernprozesse sind umso nachhaltiger, je mehr die Lerninhalte mit konkreten Tätigkeiten verbunden werden. Indem Lernende selbst aktiv werden, durch aktives Denken und Formulieren, werden im Gehirn neue Nervenschaltungen gebildet. Selbsttun ist also notwendige Voraussetzung für das Lernen. Aktiv lernen heisst auch: aktiv mitdenken, kritisch hinterfragen, mit Interesse bei der Sache sein. Wenn Sie diesen Text mit Interesse lesen, gleichzeitig innerlich Beispiele suchen für die gelesenen Sachverhalte und Behauptungen und mit der Autorin in einen inneren Diskurs treten, verändert sich Ihr Gehirn physisch. Das, was in diesem Augenblick in Ihrem Gehirn angelegt wird, wird reaktiviert und erweitert, sobald Sie sich in Zukunft wieder an das Gelesene erinnern.

Spielend lernen

Daraus ergibt sich eine interessante Schlussfolgerung: Lernen als lustvolle Aktivität ist Spiel, Spielen ist Lernen. Kinder machen es uns vor, wie das geht, lustvoll und entspannt handelnd zu lernen – und wir Erwachsenen bezeichnen das als «nur spielen». Könnten wir Lernende dazu bewegen, wieder einmal zu spielen, dann wäre lebenslanges Lernen keine Drohung mit Büffeln und Pauken mehr, sondern eine Einladung zur lustvollen Weiterentwicklung.

Denn Lernen ist die natürliche Lieblingsbeschäftigung unseres Gehirns. Um lustvoll und spielerisch zu lernen, müssen wir Interesse entwickeln, eine Beziehung zum Lernstoff aufbauen. Diese Beziehung, dieses Interesse führt uns dann vom Aufnehmen zum Lernen, indem wir das Gehörte oder Gelesene mit anderen Erkenntnissen in Zusammenhang setzen und damit eine innere Vorstellung vom Stoff aufbauen. Und erst wenn wir in unserer Begeisterung für den Lernstoff unsere Erkenntnisse mit jemand anderem geteilt haben, unsere Zusammenfassung also weitergegeben haben, ist aus dem «Mal-gelesen- oder Mal-gehört-Haben» etwas Gelerntes geworden.

Die Ergebnisse der modernen Lernforschung belegen diese Aussagen klar. Die Gestaltung einer stressfreien Lernumgebung, die Bereitstellung lernförderlicher Rahmenbedingungen, die Aktivierung der Lernenden sind wesentlich bedeutsamer und lernwirksamer als perfekte Präsentationstechniken der Lehrpersonen. Die folgenden sieben Merkmale ermöglichen ein aufbauendes Entwicklungsklima:

•Anerkennend

•Ressourcenorientiert

•Beziehungsorientiert

•Ohne Druck

•Wertebasiert

•Involvierend

•Selbstständigkeit fördernd (20b)

Mit der Schule kooperieren

Eine spezifische Schwierigkeit beim Lernen von Jugendlichen besteht darin, dass sich die Erwartungen der Schule üblicherweise weit von den Eigenheiten des jugendlichen Lernens wegbewegen. Diese Diskrepanz ist der Anlass, um in Kapitel 3 grundsätzlich über Unterrichtsgestaltung nachzudenken und im zweiten Teil dieses Buches die Lernformen genauer unter die Lupe zu nehmen.

Übertriebene Erwartungen der Schule

Die Erwartungen, die an einen idealen Lernenden gestellt werden, hat Rolf Göppel (18, S. 179 f.) sehr anschaulich und vollständig ausgeführt. Ich lehne mich eng an seine Darstellung an.

Eine Ausbildungsinstitution erwartet von einem idealen Lernenden:

1.Wohlwollen und grundsätzliches Interesse gegenüber Bildung im Allgemeinen und der Schule im Speziellen

2.Respekt und Anstand, Freundlichkeit und konstruktive Zusammenarbeit gegenüber Lehrpersonen

3.Fragloses Akzeptieren der Rolle als Lernender und Lernbedürftiger

4.Aufmerksame und konzentrierte Mitarbeit im Unterricht

5.Bereitschaft, sich auf alle Unterrichtsinhalte einzulassen

6.Argumentative Fähigkeiten und kritisches Bewusstsein gegenüber dem Stoff

7.Hilfsbereitschaft innerhalb der Klasse

8.Effektive Lern- und Arbeitstechniken

9.Fähigkeit zum Auftreten und Präsentieren vor der Klasse

10.Engagement auch ausserhalb der Unterrichtszeit bei Hausaufgaben

11.Beharrungsvermögen und Zielstrebigkeit, um auch langfristige Lernziele zu erreichen

12.Akzeptieren der Zielsetzungen und Prioritäten, die die Lehrperson im Rahmen des Lehrplans setzt

13.Bereitschaft, es hinzunehmen, dass alle Lernleistungen beständig kontrolliert, verglichen, bewertet und benotet werden

14.Bereitschaft zur ständigen Verbesserung der Lernleistung

15.Realistische Selbsteinschätzung

Um diesen idealen Erwartungen zu entsprechen, müssten die Jugendlichen ihre Entwicklungsaufgaben bereits gelöst und die Sozial- und Selbstkompetenzen vollumfänglich zur Verfügung haben. Das kann aber niemals von 16-Jährigen erwartet werden. Nach der obligatorischen Schulpflicht ist es höchstens möglich, die Jugendlichen nach und nach mit diesen Erwartungen zu konfrontieren und sie bei der Erfüllung zu unterstützen. Die Aufgabe von Lehrpersonen ist es, dabei wirklich schrittweise zu verfahren und wohlwollend mit Rückschlägen und Misserfolgen umzugehen.

Disziplinprobleme als Folge

Disziplinprobleme entstehen vor allem aus der Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Schule an die Jugendlichen und deren tatsächlichen Fähigkeiten. Die Ursachen für Arbeits- und Motivationsstörungen, die sich dann in Disziplinlosigkeit und Störung des Unterrichts auswirken, sind im Wesentlichen

•Mangelndes Selbstvertrauen

•Mangelnde Sozialkompetenz

•Unrealistische Ziele und Vorstellungen

•Ungünstige Arbeitsstile und Lerndefizite

•Hohe Ablenkbarkeit

•Unrealistische Selbsteinschätzung

Gegen diese Ursachen kommen Lehrpersonen bloss an, wenn sie

•ehrlich und kontinuierlich Wertschätzung zeigen,

•Erfolgserlebnisse ermöglichen,

•Hilfestellungen bieten bei der Lern- und Arbeitstechnik (Zielsetzungen, Lernplanung, Zeitplanung, Prioritätensetzung, Lernorganisation, Lernen auf Prüfungen),

•Sozialkompetenzen einüben lassen (Kommunikation, Konfliktfähigkeit, Kooperation),

•regelmässig Rückmeldung und Bestätigung geben,

•da anknüpfen, wo Jugendliche interessiert sind (Social Media, Games, Peer-group, Fragen der Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit, Bezug zur eigenen Lebensrealität).

Aufgrund ihres Entwicklungsstandes sind Jugendliche nicht in der Lage, objektiv und sachlich am Unterricht teilzunehmen und ihre persönlichen Probleme aussen vor zu lassen. Sie sind beschäftigt mit ihrer Sexualität und dem Einfluss der Gleichaltrigen. Sie haben oft zu wenig geschlafen und sind schlecht ernährt, sind durch Medien und Werbung abgelenkt und können selbst nicht erkennen, dass sie noch nicht erwachsen sind.

Jugendliche Lernende weichen dem Lernen in der schulischen Umgebung gerne aus. Sie versuchen, die Erwachsenen zu ignorieren oder auszutricksen. Es sei denn, sie treffen ein erwachsenes Gegenüber, das wohlwollend, fachkundig, authentisch und engagiert das Gleichgewicht wahren kann zwischen Fach, Klassenklima und den beteiligten Persönlichkeiten. Weder Gleichgültigkeit (die sich in fehlendem Feedback und unpersönlicher Interaktion äussert) noch emotionslose Fachlichkeit noch überhebliche Anspruchshaltung können die Jugendlichen aktivieren.

Deshalb müssen ihnen die Lehrpersonen hier entgegenkommen und immer wieder Einfluss nehmen, indem sie Lerngelegenheiten und Gesprächsmöglichkeiten bieten, auf dem Einhalten von Vereinbarungen bestehen und Fehlern wohlwollend begegnen. Und aus genau diesem Grund ist Erziehung aus dem Unterricht mit Jugendlichen nicht wegzudenken, sondern gehört noch dazu. Erziehung, verstanden als gezielte Einwirkung auf die Jugendlichen, um sie in ihrem Erwachsenwerden zu fördern. Darüber mehr im nächsten Kapitel.

Wenn die Lehrperson sowohl die persönliche wie auch die fachliche Entwicklung fördert, dann sind Jugendliche realistischerweise in der Lage,

•Interesse am Lernstoff aufzubringen,

•Regeln zur Zusammenarbeit mitzubestimmen und einzuhalten,

•mit andern kooperativ zusammenzuarbeiten,

•das eigene Lernen zu lernen,

•die eigene Leistung zu reflektieren,

•zunehmend Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen.

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