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3. PLATZ

Detlef Seydel

Krawall im Bösendorfersaal

… ihr später Hilfeschrei wurde als

erwartbarer Schlachtruf abgetan.

Es hatte geschneit in der Nacht. Dann waren die satten Winterwolken nach Westen abgezogen und Wien leuchtete an diesem Montagmorgen des 21. Dezember 1908 wie zwischen einem blauen und einem weißen Spiegel.

Arthur spazierte die Herrengasse hinunter, ließ seinen Stock nach Dandyart rotieren und schlug mit Schwung den Schneemännern, die am Gassenrand Spalier standen, die Karottennasen weg. Aus den Schornsteinen stiegen dünne Rauchsäulen. Der Geruch von Kaminbrand verfing sich in Arthurs Schnauzbart zwischen den Eisperlen. »Abends, 8 Uhr, wird das Rosé-Quartett im Bösendorfersaal ein Abonnentenkonzert geben«, hatte auf gelben Plakaten an den Litfaßsäulen gestanden. Von Schönberg sollte das neue Streichquartett mit Gesang zur Uraufführung kommen. Arthur war kein Abonnent; aber lächelte er dem Kassenmädchen zwischen die Grübchen, bekam er trotzdem einen Platz. Arthur war nicht einmal Musikliebhaber, schon gar kein Musikkenner. Arnold Schönberg war für ihn aus ganz anderem, als einem kunstgenießerischen Grund wichtig. Arthur spekulierte wieder auf einen Tumult. Auf einen, bei dem die adligen Damen von ihren Sitzen springen, sodass ihre Perlenketten am Dekolleté hüpfen. Und sich das Kreischen ununterscheidbar zwischen die skandalös schrägen Töne, dem Quietschen und Wimmern von Geigen, Bratsche und Cello mischt. Das Skandalkonzert im vorigen Februar hatte ihm, dank Schönbergs Erster Kammersymphonie, immerhin eine schwere Gold- und fünf Perlenketten sowie zwei Diademe eingebracht.

An der Vormittagskasse des Palais Liechtenstein saß hinter dem Glas eine Matrone ganz ohne Grübchen. Arthur log, als er über ihre Augäpfel sagte, sie würden wie Porzellan schimmern. Er bekam darauf einen Platz, sogar ziemlich vorn, unweit der roten Samtfauteuils, den Stammsitzen der Damen und Herren der kaiserlichen Familie.

Nachdem Arthur fröhlich pfeifend wieder in die Kälte hinausgetreten war, stellte die Matrone an der Hebelvorrichtung des Telephons eine Rufnummer ein, hob den Hörer von der Gabel, drückte den Rufknopf und drehte die Kurbel. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie etwas wie »Ist dort Weihnachten?«, in die Muschel.

Diesmal brachte das Skandalkonzert – und es wurde noch turbulenter als das erste – Arthur nur Unglück.

Am Abend, gegen 7 Uhr, gab er seiner jungen Frau einen Kuss auf die Stirn.

»Bleib nicht so lang’«, bat sie ihn.

»Ich sammle Eindrücke und komm’ heim«, versprach er.

»Ach geh, das Central lässt du doch nicht aus, wo’s grad vis à vis vom Bösendorfer ist«, erwiderte sie mit wehmütigem Lächeln. Sie musste, um sich zu beruhigen, die List der fürsorglichen Gattin anwenden. Sie bat ihn, keinen Schlüssel mitzunehmen. Sie sei gewiss noch wach, um ihm zu öffnen.

Dann sah er ins Zimmer seiner 6-jährigen Tochter, ob sie schliefe. Sie schlief nicht. Sie fieberte seit Tagen dem Weihnachtsfest entgegen, malte sich die brennenden Kerzen am geschmückten Baum aus und verschob gedanklich auf ihrem Wunschzettel Puppen und Stuben auf und ab. Auf dem Nachtschränkchen lag aufgeschlagen das Buch vom Prinzen Amgiad.

Es hatte heftig zu schneien begonnen, als Arthur aus der Wickenburggasse Nummer 26 trat und sich auf den Weg machte. Im Licht der Gaslaternen stoben lustige Wirbel.

Schon war es mehr ein Stapfen als ein Schreiten. Der Spazierstock stach tief in das weiße Fell, das sich über die Stadt legte. An der langen Nummer 18 bis 20, der Justizanstalt Josefstadt, beschleunigte Arthur seinen Schritt. Er hasste dieses Gebäude, an dem er fast täglich vorbeimusste. Vor allem die Bestimmung dieser Anstalt, die dem Haus etwas Graues gab, das selbst der Schnee nicht aufhellte. Er schwor sich, es nie wieder zu betreten. Im letzten März hatte man ihn dort stundenlang verhört, weil man ihn für das Verschwinden der Gold- und der fünf Perlenketten sowie der beiden Diademe verantwortlich gemacht hatte. Man hatte ihn mit Lampen geblendet, ihn angeschrien und den vergifteten Augen mehrerer Zeugen ausgesetzt. Aber man musste ihn doch gehen lassen.

In der Gasse war er der einzige Passant. Einmal kam ihm ein Zweispänner, aus der Florianigasse einbiegend, entgegen. Die Pferde dampften. Sie hatten ihre Mühe mit dem glatten Pflaster. Nein, einen Fiaker brauchte er nicht. Das Gehen nahm ihm das Lampenfieber, das er immer bei Vorfreude spürte. Bald hatte er die Josephstädter Straße erreicht. Am Rathaus vorbei. Der Volksgarten lag da, wie die gemalte Lautlosigkeit. Beinahe schämte er sich, das Bild durch seine Spuren zu zerstören. In der Schauflergasse ging es reger zu. »Ja, strömt nur alle zu dieser verrückten Musik«, dachte Arthur und dabei ließ er den Blechfuß seines Stocks schräg über die Lücken im Schnee aufs Pflaster sausen, dass es funkte und ein Geräusch machte, das er für atonale Musik hielt.

Im Saal vorn hatte sich Wiens beste Gesellschaft eingefunden, hohe und höchste Herrschaften – Silber, Gold, edle Steine und Perlen. Auf den Stehplätzen drängte sich ordinäre Jugend.

Das Rosé-Quartett stimmte seine Instrumente und die Sängerin, eine recht ansehnlich zu nennende Dame von Mitte dreißig, mit streng nach hinten frisierten Haaren, tippelte etwas nervös am Fleck.

Dann fegten die ersten Tonfetzen durch den Saal. Zunächst war dem Publikum nichts anzumerken. Es blieb still. Auch jemand, der sich die Stirn aufschlägt, brüllt nicht sofort los.

Dann lachte jemand. Andere stimmten ein. Die armen Musiker fiedelten, die Sängerin krähte bald gegen einen wahren Lachsturm an. Doch erst im letzten Satz traten für Arthur die nötigen Arbeitsbedingungen ein. Man sprang, unabhängig von Stand und Ansehen, von den Sitzen, schrie außer sich: »Aufhören! Schluss! Wir lassen uns nicht narren!«

Ein Tumult brach los, Handgemenge, die man mit den wenigen Befürwortern austrug, die das alles für Kunst hielten und den Ignoranten vorwarfen, nicht einmal die Beschaffenheit der Sonatenform zu kennen. Das konnte Frau Baronin nicht auf sich sitzen lassen. Taschen flogen auf Köpfe. Es schien, als bewahre Arthur allein die Ruhe. Kein Zittern in den Fingern, gleichmäßiger Atem, ein klarer Blick. Kam ihm ein Hals mit Kette nahe, die er für wertvoll erachtete, trennte er sie so geschickt von der Besitzerin, dass diese den Verlust erst spürte, wenn Arthur schon über drei Sitzreihen gestiegen war. Und ihr später Hilfeschrei wurde als erwartbarer Schlachtruf abgetan.

Es gab genügend hochgerissene Hälse. Die Ernte war reich. Arthur wusste schon kaum noch, wohin mit all den Schmuckstücken, die er den Empörten abgenommen hatte. »Nun ist genug«, dachte er – und hörte es zugleich von einer ihm fremden Stimme ganz nahe und ganz bestimmt sagen. Auch packten ihn kräftige Hände, sodass er ohnehin den nächsten Hals ungenutzt lassen musste. Ein Stück mit selten reichen Perlen.

Man schob ihn grob zum Saal hinaus. Erst an der Garderobe war es ihm möglich, sich nach dem umzusehen, der ihn so gemein überlistet hatte. Ein um einen Kopf größerer, stämmiger Mensch mit ernsthaft glühendem Blick. Draußen wartete ein Automobil, in das man ihn drängte. Aus dem Central vis à vis taumelte eine Gesellschaft Betrunkener. Die Gassen, durch die der Wagen mit Arthur rüttelte, waren, in umgekehrter Reihenfolge, dieselben die er Stunden zuvor noch in seliger Vorfreude gegangen war.

Im Scheinwerferlicht wirbelten, unbeeindruckt von seinem Schicksal, nach wie vor die Schneeflocken. Die Fahrt endete dort, wo Arthur sich geschworen hatte, nie wieder einzukehren. Nur wenige Eingänge von seinem Hauseingang entfernt. Er wurde in ein Verhörzimmer gebracht. Diesmal richtete man keine Lampe auf sein Gesicht, diesmal hatte man ihn ja frisch erwischt. Nicht einmal nach seinem Namen fragte man ihn. Auf dem Schreibtisch vor ihm las er auf dem Namensschild »Bezirksinspektor Rudolf Weihnachten«. Nun glaubte Arthur beinahe an einen Scherz. Eine Art Krippenspiel für Räuber und Gendarm. Doch dafür glühten die Augen des Inspektors zu ernsthaft.

Es sei ein Leichtes gewesen, ihn dingfest zu machen. Die Dame an der Konzertkasse sei angewiesen worden, ihm bei seinem Auftauchen einen attraktiven Platz zu geben. In Reihen der oberen Gesellschaft. Wo zudem die großzügigere Beinfreiheit zwischen den Sitzen ein Zupacken erleichtere.

Man nahm ihm alles ab und führte ihn in eine Arrestzelle. Seiner Familie werde er, der Bezirksinspektor persönlich, noch heute von seinem Verbleib Nachricht geben.

Arthurs Frau hatte sich bereits fürs Bett fertiggemacht. Sie stand im Nachthemd, als es an der Wohnungstür forsch klopfte. Obwohl ihr der Klang ganz unbekannt war, hoffte sie, es sei doch Arthur. Er war es aber nicht. Weihnachten stand vor der Tür.

Weihnachtlich glänzet der Wald

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