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Punsch am Dach

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Wenn es mir schlecht ging, sah ich

Mama immer durch die Luft segeln.

Schon das erste Weihnachten, an das ich mich erinnere, war eine Katastrophe, war es. Mit Hingabe sortierte ich meine Geschenke nach Größe, Form und Farbe. Aber auspacken? Mama machte es vor, und unversehens war ich von buntem Spielzeug, Winterkleidung und Bilderbüchern umzingelt. Meine Freude wich blanker Panik: Wie sollte ich all die fremden Gegenstände in mein Leben integrieren? Ich schrie. Mama schrie auch. Ich wollte die Sachen schnellstmöglich wieder in das Papier zurückstecken, wollte ich. Aber Mama hielt mich fest. Als ich kurz freikam, schlug ich der neuen Puppe in meiner Hand den Schädel ein. Tavi brachte mich in mein Zimmer, und Mama rief: »Schließ deine Tochter bis morgen da ein!« Aber das musste er gar nicht – ich verbrachte freiwillig die restlichen Weihnachtstage unter meinem Bett, bis ich mich langsam an den Gedanken gewöhnte, dass die sogenannten »Geschenke« nun Teil unserer Wohnung waren.

Anstatt die Schenkerei künftig zu unterlassen, machte Mama ein Weihnachten, »wie es sich in der Familie gehört«, zu ihrer persönlichen Mission. Hatte sie zuvor nur auf ein bisschen Weihnachtsschmuck gesetzt, ließ sie sich nun jedes Jahr etwas Neues einfallen. Aber auch, wenn sie die Geschenke mal in Jutesäcken, mal in übergroßen Strümpfen daherkommen ließ – am Ende spielte sich immer die gleiche Szene ab. Vor dem vierten Weihnachten, an das ich mich erinnere, nahm Tavi mich im November heimlich mit in die Rauhensteingasse. Wir betraten die Wiener Spielzeugschachtel, und er sagte: »Jetzt such dir mal selbst aus, womit du klarkommst, Lissie, und dann besuchen wir deine Geschenke noch ein paar Mal hier, bevor sie zu uns kommen, ja?« Er legte den Finger an den Mund. »Aber pssst!«

Die friedlichen Bescherungen in den Jahren danach verbuchte Mama als ihren Erfolg. Aber es war Tavi, der das Weihnachtsmahl allein mit mir in der Küche aß, wenn Oma und Opa und Onkel Franz an Heiligabend in der falschen Reihenfolge eingetroffen waren. Mama stritt sich deswegen mit ihm, doch ich beruhigte mich eben nur, wenn ich eine Auszeit von dem abgesägten Baum in der Wohnzimmerecke bekam. Außerdem konnte ich die Kaugeräusche der verdoppelten Esser nicht ertragen, konnte ich nicht.

Am sechsten Weihnachten, an das ich mich erinnere, bestand Mama auf meine Anwesenheit bei Tisch. »Wir wollen Fondue machen, und Lissie ist alt genug, sich mal zusammenzureißen!« Man drückte mir zwei seltsame Gabeln in die Hand. Was mir dazu erklärt wurde, bekam ich nicht mit, denn das Rauschen des Spiritusbrenners hypnotisierte mich und auch das große Durcheinander aus Platten, Schüsseln und Händen, die pausenlos dazwischen hin und her huschten. »Lissie sitz doch nicht so da«, hörte ich Mama, die mit einer Hand die Flamme regulierte. »Du kannst schon mal mein Fleisch aufspießen, wenn du selbst keinen Hunger hast.« Das tat ich. Aber ich erwischte ihre Pulsadern, und den Rest des Abends verbrachte Mama mit Tavi in der Notaufnahme.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte Oma, die nach dem Tumult zu mir gekrabbelt kam, um mich unter dem Tisch hervor zu zerren. »Deine Mutter hätte sterben können!« Diese Möglichkeit weckte mein Interesse, weckte sie. Schon jetzt war es viel angenehmer in der Wohnung, ohne Mama. Konnte sie wirklich verschwinden, nur weil man das mit den Rindfleischbrocken nicht kapiert hatte? Und was, wenn man dem unbemerkt etwas nachhülfe? Ein Leben nur mit Tavi wäre ruhig und friedlich. Er zwang mich nicht in die Nähe anderer Kinder, die mir mit ihren sich ständig in Bewegung befindlichen Gesichtern ein noch größeres Rätsel als die Erwachsenen waren. Er führte keinen Streit mit meinen Lehrern wegen der Sonderschule, und ließ meine »Anfälle« einfach an sich vorüberziehen. Mama dagegen schrie, gebot, weinte lautstark. Im Grunde wollte ich sie das ganze Jahr über verschwinden lassen. Aber an Weihnachten war es am schlimmsten.

Ich übte mich in kleineren Haushaltsunfällen, meine Fortschritte hielt ich in einer Liste fest. Es war einfach auszutüfteln, was man wie sabotieren konnte. Aber nur einmal musste Mama in die Klinik, und mit einem Gipsarm kam sie schnell zurück. Um sie für die Weihnachtszeit zuverlässig auszuschalten, brauchte ich einen richtigen Plan, brauchte ich.

Doch bevor mir etwas einfiel, kam Tavi auf die Idee mit dem Museum. Weil Mama blinkende Lichterketten aufhängte und draußen das Glockengeläut nicht mehr abriss, packte er mich ins Auto. »Das Kind muss aus dem Weihnachtsrummel raus!« Das war das achte Weihnachten, an das ich mich erinnere, und es gab noch keinen Christkindlmarkt auf dem Maria-Theresien-Platz. Dort standen wir unentschieden zwischen den beiden Museumspalästen – Kunst oder Natur? Plötzlich sah ich eine Gestalt auf dem Dach der Naturhistorik, und ich hatte eine Eingebung: Mit Geschick konnte man jemanden doch bestimmt diskret da runterschubsen? Vielleicht könnte anderntags mal Mama mit mir hierherkommen. Ich zeigte auf das Gebäude, und die Entscheidung war gefallen, war sie.

Sie wurde zur einzigen Weihnachtstradition, die ich mochte. Ganze Adventswochenenden, auch Feiertage, streiften Tavi und ich durch die menschenleeren Korridore und Prunksäle. Krebse, Spinnentiere, Insekten, Wirbeltiere – Tausende von Taxidermie-Präparaten, jedes in seiner Glasvitrine. Hier veränderte sich kaum etwas, und keines der toten Augenpaare sendete je Signale, die ich nicht entziffern konnte. Nur aufs Dach durfte man als Besucher doch nicht, durfte man nicht. Trotzdem: Wenn es mir schlecht ging, sah ich Mama immer durch die Luft segeln.

Ich experimentierte damit, aber in dem Jahr, in dem Mama am Martinstag tatsächlich von der Leiter stürzte und drei geruhsame Wochen mit Tavi folgten, nahm ich widerwillig Abstand vom Ausbau meiner Pläne. Denn bevor Mama aus der Reha kam, stand Tavi eine Spur zu lange vor der Vitrine mit der Mexikanischen Zwergklapperschlange: »Weißt du was? Ich brauche deine Mutter.« Zuhause vernichtete ich die Liste.

An die drei darauffolgenden Weihnachten erinnere ich mich nicht, wahrscheinlich wegen der Medikamente, die sie mir eins nach dem anderen und ohne jeglichen Erfolg verabreichten. In der Schule ging es immer schlechter, dann ging gar nichts mehr, ging es nicht. Statt Mama verschwand ich aus unserer Wohnung. Da, wo ich hinkam, störte nichts meine einmal gefundenen Gewohnheiten, eine lange Weile nicht. Ich fühlte mich wohl, das Personal war so ruhig. Auch Tavi und Mama führten lange Gespräche mit den Ärzten. Am Ende entschuldigte sich Tavi bei mir. Mama sagte: »Na, dann ist das Kaninchen ja endlich aus dem Hut!« Ich sah mich suchend um, fand aber keins.

Danach durfte ich bald alleine leben, durfte ich. Am Anfang bekam ich Betreuer, die mich besuchten. Für die Schule gab es Fernangebote. Tavi besuchte mich auch, manchmal mit Mama: »Und wann wirst du mal etwas arbeiten können, Lissie?« Als ob das nicht für mich selbst das größte Rätsel gewesen wäre! Sie wohnten jetzt weiter weg, aber am Samstag vor Heiligabend kam Tavi immer allein und blieb über Nacht, damit wir bis spät im Museum wandeln konnten. Noch immer waren mir die Augenpaare der Exponate lieber als lebendige, und von mir aus hätte es ewig so weitergehen können, hätte es. Doch dann bekam Tavi einen Herzinfarkt und selbst tote Augen.

Das war vor dem sechszehnten Weihnachten, an das ich mich erinnere. Obwohl Mama am Telefon wieder schrie, gebot und weinte, ging ich nicht zur Beerdigung, deren Sinn sich mir nicht erschloss. Dafür erlaubte ich ihr, das traditionelle Weihnachtswochenende mit mir in Wien zu verbringen. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen, hätte ich nicht. Aber mit wem sonst ins Museum gehen? Dies war nicht die Zeit, um meine Weihnachtsabläufe durcheinander zu bringen.

Mama erschien mit Koffer und einer Papiertüte vor meiner Tür, fast hätte ich die wieder zugeworfen. »Grüß Gott, Lissie!«, ächzte sie. »Ich musste dem Taxler ein unmoralisches Angebot machen, sonst wär ich zu spät.« Überquellende Geschenkbänder kräuselten sich in meine Augen. Gleichzeitig fiel mich ein Bild von Mama in Strapsen an, aber nein, sie hatte dem Fahrer wohl nur eine Menge Geld geboten.

»Wieso, du bist drei Minuten über Plan, über Plan«, sagte ich und deutete auf die Tüte. »Du bringst Geschenke mit?«

»Willst du mich nicht erst mal reinlassen?«, fragte sie. Ich überlegte. Sie tat einen Schritt auf mich zu.

»Ach Kind, nur eines, ausnahmsweise! Dies Jahr ist sonst alles so trostlos ohne deinen Vater. Geht’s dir nicht auch so?«

»Deswegen bist du ja hier. Wusste nicht, dass ich auch ein Geschenk nehmen muss. Lass es draußen stehen.«

»Na gut, aber du wirst es diesmal mögen. Wir packen aus, wenn wir in Stimmung sind!«

Ich schwieg. Es war nicht einfach, das Loch im Kopf meiner Puppe von damals aus dem Sinn zu bekommen.

Als ich das Kaffeetablett in mein Wohnzimmer trug, hatten 17 Gegenstände ihre Position im Raum verändert, und meine Sonnenbrille war ruiniert. Mama hielt mir die Reste entgegen: »Das Ding ist mir nur runtergefallen und geht gleich kaputt!«

Tavi hatte nie etwas angefasst, hatte er nicht. Vom Lebkuchen und den schlechten Aussichten wurde mir übel: Ohne dunkle Brille war ich der vorweihnachtlichen Lichtverschmutzung wie früher schutzlos ausgeliefert.

»Hör doch mal auf, mit den Händen vor deinem Gesicht zu wedeln!«, hörte ich Mama. Dann klingelte der nächste Taxler, wir gingen runter.

Vor Aufregung vergaß ich meine Kopfhörer. Das wurde bei unserer Ankunft am Burgring zum Problem. Mit zugekniffenen Augen und Fingern in den Ohren ließ ich mich schließlich von Mama am tingelnden Weihnachtsdorf vorbei und ins Foyer des Naturkundemuseums führen.

»Immer noch so ein Theater!«, sagte sie und zeigte auf die Tafeln mit den Eintrittspreisen. »Dafür könntest du jetzt mit mir diese Führung hier machen. Da steht, in der Adventszeit servieren sie am Ende Punsch am Dach.«

»Was?«, fragte ich. Taumelnd.

»Na hier, Über den Dächern von Wien! Klingt doch viel netter als die Naturaliensammlung. Die Gruppe da vorn geht gleich los!«

Ich konnte mich nicht bewegen, alles drehte sich. Mama ließ mich stehen.

»Wenn du nicht willst oder kannst oder was weiß ich, dann warte eben hier auf mich!«

Leute glitten an mir vorbei. Ich sah ihnen auf die Absätze. Absätze hatten Formen, die Formen waberten vor mir, ich wiegte mich hin und her.

»Ich brauche deine Mutter«, hörte ich Tavi wieder sagen, schaute auf und merkte, dass ich mich in Bewegung gesetzt hatte. Aber die Führung war Nebel. Erst am Ende, oben angekommen, hob sich der Schleier. Ich stellte fest: Genau an dieser Stelle auf der Dachterrasse hatte ich damals die Gestalt gesehen! Jetzt verschmolzen Lichter, Gebäude, Graupel, Straßen, Gesang, Plätze und weihnachtliche Gerüche zu einem großen Ganzen, ergaben ein Muster, in dem mir kein einziger Reiz mehr störend oder zu viel vorkam. Zwischen uns und dem grafisch wirkenden Panorama rund um den Rathausmann war nur diese steinerne Balustrade da, breit wie eine Bank und sehr flach. Ich atmete tief durch.

»Siehst du, es geht doch!« Mama ließ sich mit mir hinter den anderen zurückfallen. Mit ihrem Punschbecher prostete sie mir zu. »Dann kann ich ja jetzt auch beruhigt bis Silvester bleiben!« Das Muster fiel in sich zusammen. Einzelteile prasselten auf mich ein, lauter Einzelteile!

»Das geht nicht!«, stöhnte ich. »Das geht nicht.« Und: »Ich muss hier runter!« Aber Mama hielt mich am Handgelenk fest.

»Jetzt bleib mal hier, Fräulein! Du kannst nicht immer vor allem weglaufen. Immer nur ich, ich, ich! Hast du vielleicht mal an mich gedacht? Da wartet doch nichts auf mich, daheim!« Ich riss mich los.

»Tavi ist nie über Weihnachten geblieben!«

»Du und dein Tavi! Vati ist tot! Und jetzt hocke ich da auf dem Land, weil du ja in der teuren Stadt wohnen musstest mit deinen Therapeuten!«

Plötzlich sah ich nur noch Mamas Gesicht, Wasser darin, das floss auf ihre Wangen und auf mich ein, floss das. Ich würde darin ertrinken.

»Aber weißt du was? Ich kann das alles allein nicht länger bezahlen. Wir müssen sowieso bald wieder zusammenwohnen!«

»Niemals!« Vor meinen Augen bohrten sich Fonduegabeln in Mamas Adern. Warum war mir das nicht gleich eingefallen? Ich warf mich mit aller Kraft gegen ihren Körper – fast das gleiche Gefühl wie an jenem Heiligabend. Es stand auch der gleiche Ausdruck auf ihrem Gesicht, nur dass ich inzwischen die Bedeutung analysieren konnte: Sie war überrascht. Das Überraschungsmoment half mir – die Sache dauerte nicht lang. Halb mit ihr auf der Balustrade hängend, stieß ich noch einmal nach, dann fiel Mama. Bis zum Aufschlag sah ich ihr hinterher. Dann war die Ordnung wiederhergestellt. Wenn Tavi sie brauchte, sollte er sie haben, sollte er.

Weihnachtlich glänzet der Wald

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