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Der Plan

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Frühwinter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

In den langen Jahren seines Lebens hatte Stilicho, Ordensvorsteher von Nardéz, eines gelernt: Menschen mochten wachsame Augen haben, wenn es darum ging, den eigenen Besitz zu mehren oder ihre Nachbarn zu denunzieren – für die wirklich wichtigen Dinge jedoch waren sie blind. Das war nur gut, denn umso bereitwilliger fielen sie auf die Täuschung herein, die ihn und die Seinen bereits seit einigen Monden zuverlässig schützte.

Und das, obwohl sie mitten unter ihnen lebten und Raubzüge zu Ehren ihres Gottes veranstalteten. Der junge Großfürst hatte in einem Anfall plötzlicher – und zugegeben unerwarteter – Erleuchtung den Urheber der nächtlichen Untaten ausfindig gemacht und den schwarzen Orden geächtet … Doch auch er hatte die geheime Tür im Tempel nicht gefunden, die verborgenen Stufen unter dem Altar, die tief hinab ins Erdreich führten, wo Stilicho gemeinsam mit seinen Ordensgeschwistern ungestört seinen Dienst für den Einen Gott verrichtete. Der magische Schutzschild, den er und seine Brüder um die Eingänge gewoben hatten, verbarg sie vor feindlichen Blicken. Mit jedem Opfer, das sie darbrachten, war dieser Schutz stärker geworden, sodass sie mittlerweile für Uneingeweihte praktisch unaufspürbar waren. Und bald würde ihre Macht vollkommen sein.

Der Alte streckte die Hand aus, um die Krähe zu sich zu locken, die sich durch einen der geheimen Luftschächte hinabgeschwungen hatte. Krächzend und flatternd ließ sie sich auf seinen gebeugten alten Fingern nieder, wobei ihre Krallen tief in die papierene Haut schnitten. Davon gänzlich unbeeindruckt, streichelte Stilicho ihr Gefieder und sprach leise auf sie ein, in einer Sprache, die nur den Mitgliedern des Ordens verständlich war und jedem, der sie hörte, ein Schaudern verursachte. Das Tier hörte ihm aufmerksam zu, dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, verharrte es regungslos, eines der schwarzen Augen auf ihn gerichtet. Der Ordensvorsteher verstummte und starrte zurück, ebenso lidschlaglos wie die Krähe. Eine scheinbare Ewigkeit verharrten sie so, dann ließ Stilicho ein leises, keckerndes Lachen hören, das seinen gebrechlichen alten Körper schüttelte, sodass die Krähe bedrohlich schwankte. Sie ließ ein entrüstetes Krächzen hören und blies ihr Gefieder auf, doch der Mann ignorierte es.

»Sie ist hier«, wisperte er in die Dunkelheit des Stollens hinein. »Sie ist hier!«

Aufgeregt humpelte er los, wobei sich der Vogel zornig kreischend von seiner Hand erhob und in die Finsternis verschwand.

Ächzend kämpfte sich der Alte die Gänge entlang, bis er zu einer winzigen, versteckten Kammer gelangte. Er betrat den Raum, in dem sich nichts weiter befand als ein steinerner Opfertisch – eine kleinere Ausgabe desjenigen, der in den oberirdischen Räumlichkeiten des Tempels für die Zeremonien benutzt wurde.

Ein hoher, rechteckiger Spiegel war darauf drapiert, das einzige Zeichen von Luxus, das es in den ansonsten feuchten und heruntergekommenen Gängen gab. Unter hastigen, pfeifenden Atemzügen kniete der alte Mann sich hin und hob eine kleine, verkrustete Opferschale vom Tisch. Ächzend schüttelte er die Ärmel seiner Robe nach hinten, sodass die dürren, fleischlosen Unterarme sichtbar wurden; sie waren mit Narben übersät. Mit einem Glühen in den milchigen Augen zog er einen kurzen, gebogenen Dolch aus seinem Gürtel und drückte die scharfe Klinge in das Narbengewirr. Einen Augenblick später quoll Blut hervor, das der Alte sofort mit zittriger Hand in der Opferschale auffing. Dann begann er mit geschlossenen Augen vor und zurück zu wippen, wobei er leise Gesänge murmelte, die unheimlich in dem kleinen Raum widerhallten.

Als er die Augen wieder öffnete, war die spiegelnde Fläche vor ihm schwarz. Ein Mann blickte ihn aus dem Spiegel heraus an, der dieselben Gewänder trug wie er, dessen Gesicht jedoch etwa vierzig Jahre jünger war und im Vergleich zu Stilichos glühender Begeisterung geradezu tot wirkte.

»Oberster«, keuchte der Alte mit einer mühseligen Verbeugung, »Oberster, ein Wunder ist geschehen! Das Gefäß ist hier!«

Einen Moment lang rührte sich das Gesicht im Spiegel nicht; es sah aus, als wären seine Züge in Stein gehauen. Dann jedoch lächelte der Mann und zeigte ungewöhnlich lange Vorderzähne.

»Der Dunkle ist wahrhaftig mit uns. Ich fürchtete schon, wir hätten sie durch die Nachlässigkeit der Brüder in Uvonagh verloren. Doch wie immer leitet Er das Schicksal in die Bahnen, die uns gewogen sind. Ich werde die übrigen Ordensvorsteher informieren, dass sie die Suche abbrechen können. Sie sollen so viele unserer Brüder wie möglich in die Hauptstadt des Westens schicken.«

»Oberster, das ist äußerst gefährlich«, wandte der alte Mann vorsichtig ein. »Der Großfürst von Aracanon lässt alle Zugänge zur Stadt überwachen – er weiß von unseren Bestrebungen hier und müht sich, uns aufzuhalten. Seit Wochen sind wir gezwungen, im Untergrund zu bleiben …«

» … und das ist allein deine Schuld!«, entgegnete der andere kalt. »Wenn du die, die dir anvertraut worden sind, zu mehr Umsicht angehalten hättest, wäre unser Zweck verborgen geblieben! Nun sind die Ungläubigen gewarnt und werden auf jeden Fremdling mit Argwohn reagieren! Deshalb wirst du dafür sorgen, dass unsere Geschwister gefahrlos in die Stadt hineinkommen.«

Das Gesicht des Alten wurde eine Spur blasser, doch er neigte gehorsam den Kopf.

»Wo ist das Gefäß jetzt?«, fragte der Mann im Spiegel.

Ein seltsames Zucken huschte über Stilichos faltiges Gesicht. »Im Palast, mein Oberster. Der Großfürst hat sie unter seinen persönlichen Schutz gestellt – es scheint, als wäre sie zusammen mit einer anderen Frau und einem Mann in die Stadt gekommen, die mit dem Großfürsten vertraut sind …«

»Diese Leute sind mir gleichgültig«, entgegnete Skaidridt kalt. »Wenn es sich nicht vermeiden lässt, sie zu töten, bieten sie Opfergaben für den Einen Gott, ansonsten hat dich nur das Gefäß zu interessieren. Was ihren Schutz angeht«, fügte er nach einem Moment des Nachdenkens hinzu, »so wird sich dir in Kürze ein weiterer Vorsteher unseres Ordens anschließen, sodass ihr eure Kräfte bündeln und sie den Ungläubigen entreißen könnt. Nur beeilt euch – die Nacht des Rìzhar nähert sich.«

»Wie du befiehlst, Oberster«, murmelte der Alte demütig und verneigte sich. Als er wieder aufblickte, war er allein. Mit besorgt gerunzelter Stirn blieb er noch einige Herzschläge knien und dachte nach. ›Das Gefäß muss in unsere Hände fallen‹, dachte er mit einem Anflug von Verzweiflung, ›aber wie?‹ Was der Oberste über einen zusätzlichen Führer des Ordens gesagt hatte, der ihn unterstützen sollte, ermutigte ihn – er war alt, und seine Kräfte ließen nach. Dennoch beunruhigte ihn der Gedanke, den Palast zu stürmen, aus dem er selbst so unrühmlich verbannt worden war; meterdicke Mauern, und dazu die Windreiter mit ihren Schwertern … Die Macht, die sein Gott ihm und seinen Geschwistern verlieh, war groß, aber nicht unendlich, noch nicht.

»Komm her«, sprach er ins scheinbare Nichts, und einen Augenblick später war die Krähe wieder da, hockte sich auf seine verkrüppelte Schulter und starrte ihm vorwurfsvoll ins Gesicht.

»Flieg zurück in den Palast«, befahl er ihr. »Beobachte, was sich dort tut. Behalte vor allem das Gefäß im Auge – wir dürfen jetzt nicht versagen.«

Leicht drückten die scharfen Krallen in sein Fleisch, dann erhob sich der Vogel in die Lüfte und verschmolz mit den Schatten um sie herum.

»Wir dürfen nicht versagen«, wiederholte Stilicho.

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Frühwinter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Als Kirin am anderen Morgen aufwachte, war sein erster Gedanke Elouané; er hatte in der Nacht wieder geträumt, noch intensiver als sonst, und es war kein guter Traum gewesen. Wieder hatte er die Krähe gesehen und den blutroten Ozean, aus dem ein schwarzer Turm ragte. Und an der Küste dieses Ozeans hatte Elouané gestanden, die langen Haare von einem Sturmwind zerzaust, das Gesicht totenbleich und eingefallen. Sie hatte nach ihm gerufen, aber er hatte nicht gehört, was sie sagte, und während er versuchte auf sie zuzulaufen, war die Krähe auf sie herabgestürzt und hatte sie mit sich gerissen.

Schweißgebadet stieg er aus dem Bett und öffnete die Tür zu seinem Vorzimmer, wo er zu seiner Verblüffung Rhùk sitzen sah. Der Windreiter hatte sich einen Stapel Pergamente auf den Schoss gelegt und blätterte sie mäßig interessiert durch.

Als Kirin die Tür aufstieß, blickte er auf.

»Ist ja ein ganz schönes Chaos, das du hier um dich hast, Kleiner. Gibt es irgendeinen Adeligen, Politiker oder General auf diesem Kontinent, der nicht aus irgendeinem Grund stinksauer auf dich ist?«

»Gib das her!«, fauchte Kirin und riss dem Windreiter die Dokumente aus den Fingern; diese Seite an Rhùk hatte er völlig verdrängt, wie er sich jetzt schmerzlich eingestehen musste. »Das ist Privatkorrespondenz. Meine Korrespondenz.«

»Ja, und du hast sehr viel Vernünftiges damit angefangen.« Rhùk wies auf die Schreibtischplatte, wo noch eine ganze Menge weiterer Dokumente lagen, auf denen sich allmählich Staub ansammelte.

»Das liegt daran, dass ich einen mordenden Götterorden am Hals habe, der meine Stadt entvölkert«, entgegnete Kirin gereizt und legte die Blätter einigermaßen ordentlich an ihren Platz zurück.

»Ein Orden, den du in Nardéz erst wieder ins Leben gerufen hast«, nickte Rhùk weise und tätschelte ihm im Aufstehen die Schulter. »Gut gemacht, Bürschi.«

Bei diesen Worten wurden Kirins Eingeweide schwer wie Blei. »Hast du Lust, an meiner Stelle Großfürst zu sein? Ich habe nichts dagegen.«

Rhùk lachte auf und streckte sich. »Um keinen Preis der Welt, Kleiner. Ich habe schon drei Aufforderungen zum Duell bekommen, seit ich hier bin. Wenn ich versuchte, alles an mich zu reißen, käme es zum Aufstand, noch bevor mein Arsch den Thron angewärmt hätte.«

Kirins Ärger verflog. »Man fordert dich zum Duell? Wieso?«

»Zu drei Duellen«, korrigierte Rhùk und hielt die passende Anzahl Finger hoch. »Nun, weil ich ein Überläufer bin, der seinen Schwur gebrochen hat, weil ich dir geholfen habe, gegen die Windreiter zu kämpfen, weil ich die Ostländer in eine Stadt eingeschleust habe, die ich eigentlich beschützen sollte, und weil ich einen Dolch in ihren Großfürsten gerammt habe.«

Er lächelte, doch Kirin war kein bisschen nach Spaßen zumute.

»Du meinst, es sind Windreiter, die dich zum Duell herausfordern. Die dich umbringen wollen, weil du mir geholfen hast.«

Rhùk zuckte mit den Schultern. »Habe ich das nicht eben gesagt?«

Kirin musterte ihn einen Augenblick lang, dann sagte er: »Ich kann dir Wachen zu deinem Schutz mitgeben, wenn du …«

»Soldaten aus den Reihen der Windreiter, meinst du?« Wieder lachte Rhùk und winkte ab. »Vergiss es, Junge. Und wenn du mir einen deiner ostländischen Trottel aufschwatzen willst, brauchst du gar nicht erst den Mund aufzumachen. Ich kann schon auf mich selbst aufpassen. Und solange ich die Forderungen zum Duell nicht annehme, dürfen sie mir offiziell kein Härchen krümmen – schließlich bin ich ein Lieblingsfreund des Großfürsten.« Er tat so, als schickte er Kirin einen Luftkuss.

Kirin schloss eine Hand um seinen Schwertgurt.

»Und du hast auch nicht vor, die Forderungen anzunehmen. Oder?«, fügte er eindringlich hinzu, weil Rhùk nicht sofort antwortete. Ein schiefes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Windreiters aus. »Nun ja, ich nehme an, wenn man schon als Überläufer und Verräter gebrandmarkt ist, macht es auch nichts aus, ein Feigling zu sein.«

Doch seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck, als er das sagte, und so spielte Kirin seine Trumpfkarte aus: »Was sagt Megan dazu?«

Wie er erwartet hatte, verblasste Rhùks Lächeln. »Wehe dir, wenn du ihr gegenüber auch nur ein Wort erwähnst.«

»Dann bring mich nicht dazu, es zu erwähnen«, erwiderte Kirin bedeutungsvoll, und gemeinsam traten sie hinaus auf den Flur.

Auf sein vorsichtiges Klopfen hin öffnete sich die Tür zu Elouanés Zimmer, und ein grobes, von kurzen schwarzen Haaren umgebenes Gesicht lugte durch den Spalt.

»Schläft sie noch?«, fragte Kirin.

Asusza nickte knapp. »Wie eine Tote«, sagte sie ausdruckslos. »Niemand hat das Zimmer betreten, alles ist ruhig geblieben, Exzellenz.«

Kirin bedankte sich bei der Windreiterin, dann machte er sich an Rhùks Seite auf den Weg in die Gartenanlagen. Auf dem Weg schloss sich ihnen Larniax an, der Rhùk noch immer mit sichtlicher Abneigung musterte.

»Keine ungewöhnlichen Vorkommnisse diese Nacht, Exzellenz«, berichtete ihm der Òrrowe-Soldat. »Keine Toten, zumindest keine, die der schwarze Orden auf dem Gewissen haben dürfte.«

Kirin nickte. »Das zumindest ist eine gute Nachricht.«

»Monzù hat sich entschuldigt, er ist heute Morgen in aller Frühe zum Haus eines Freundes im ersten Stadtring gefahren – er holt Erkundungen ein über die Versammlungen, die Tumàsz und die anderen Adeligen abhalten, und wird Euch sofort bei seiner Rückkehr aufsuchen.«

Kirin nickte müde, und Larniax zog sich mit einer Verbeugung zurück.

Nur wenig später traten sie durch eine Doppeltür und erreichten über eine weitschwingende Außentreppe die Parkanlagen des Palastes. Vor ihnen lag eine kleine Wiesenfläche, auf der in verschiedenen Abständen Zielscheiben aufgestellt worden waren. Unter den Augen eines einzelnen Wachsoldaten übte sich dort eine junge Frau im Bogenschießen. Gerade zog sie die Bogensehne auf und ließ einen Pfeil fliegen; eine Handspanne von der Mitte entfernt schlug er in die Scheibe ein.

»Gar nicht mal übel.« Ein warmes, beinahe stolzes Lächeln huschte über Rhùks Gesicht. »Sie macht Fortschritte.«

Megan, hob den Bogen noch einmal und legte einen weiteren Pfeil auf die Sehne. Dann wurde sie auf die beiden aufmerksam, legte die Waffe beiseite und kam zu ihnen.

»Du bist früh auf«, sagte sie zu Kirin und warf ihr Haar in den Nacken.

Kirin zuckte die Schultern. »Irgendwann im letzten Jahr habe ich verlernt, ruhig zu schlafen.«

»Kein Wunder, wenn dir jemand ein Nachtschwert unter die Bettdecke geschickt hat.« Rhùk zwinkerte ihm zu und legte Megan einen Arm um die Hüfte.

Diese Geste versetzte Kirin noch immer einen leichten Stich, aber er hielt den Mund. Stattdessen ging er auf das ein, was der Windreiter gerade gesagt hatte: »Ihr habt davon gehört?«

»Von dem Attentat auf dich? Allerdings.« Megan erwiderte flüchtig Rhùks Umarmung, dann wandte sie sich mit sorgenvollem Gesicht Kirin zu. »Denkst du, der schwarze Orden steckt dahinter?«

»Nein«, erwiderte Kirin und fasste rasch die Vorgänge dieser verhängnisvollen Nacht zusammen. Als er geendet hatte, sagte Megan: »Der Ordensvorsteher hat dich also beschützt, weil sie in dir einen Weg sahen, ihre Macht in Nardéz auszuweiten.«

»Ich weiß, ich laufe Gefahr, mich zu wiederholen«, warf Rhùk ein, der Megans Bogen aufgenommen hatte und nun seinerseits auf die Zielscheibe anlegte. »Trotzdem: Gut gemacht. Wirklich gut gemacht.«

»Ich hatte doch keine Ahnung, was diese Wahnsinnigen anrichten würden!«, verteidigte sich Kirin wütend, doch Rhùk lächelte nur unentwegt vor sich hin und fing an, die Zielscheibe in einer geraden Linie von oben nach unten zu durchlöchern.

»Jetzt aber wissen sie, dass du ihr Feind bist«, fuhr Megan in ihrem Gedankengang fort. »Und offensichtlich nicht nur ihrer. Du glaubst, dass es dieser Adelige namens Tumàsz war, der dir den Attentäter geschickt hat?«

»Meine Berater und ich glauben das«, nickte Kirin. »Aber abgesehen von ihm gibt es auch noch andere, die dafür in Frage kommen: Die Abtrünnigen in Sri Iliant, der Hohe Rat, Prinzessin Aszka …«

»War das nicht eine Abgesandte von Galihl?«, unterbrach Megan, während Rhùk in seinen Übungen innehielt und den Kopf drehte. »Die den Hohen Rat damals brüskiert hat? Was hat sie denn gegen dich?«

Kirin wagte nicht, einem seiner Freunde ins Gesicht zu sehen, als er von der Geschichte mit Aszka berichtete, wobei er jedoch die peinlicheren Wahrheiten ausließ.

Rhùk jedoch schien mehr zu ahnen, denn als Kirin fertig war, sagte er: »Trotzdem würde ich sagen, du hast Glück gehabt – nach allem, was ich von ihr gehört habe, hätte sie dich leicht erstechen können, nachdem du mit einem glücklichen Grinsen in deinem Milchgesicht neben ihr eingeschlafen bist.« Dabei hatte er ein Glitzern in den Augen, das wie eine seltsame Mischung aus Herablassung und Anerkennung aussah.

Megan wandte sich mit gerunzelter Stirn zu ihrem Gefährten um. »Kirin und sich mit Galihls Cousine einlassen, die unter seiner Herrschaft die Hälfte des arachinischen Adels umgebracht hat? Sei nicht albern, er wäre niemals so dumm …« Ihr Blick fiel auf Kirin, und ihre Gesichtszüge entgleisten. »Die Drei behüten uns.«

»Tja, selbst kleine Helden in weißen Rüstungen sind nicht sicher vor ihrem Schwanz und dem, was er so will.« Rhùk tätschelte Kirin grob den Kopf, dann hob er blitzschnell den Bogen und schoss den letzten Pfeil ab, der neben dem von Megan in der Mitte der Scheibe einschlug.

Megan schien einige Herzschläge lang sprachlos zu sein; voll gerechter Verachtung musterte sie Kirin, dem unter ihrem Blick heiß wurde vor Scham.

Nach einem langen Augenblick schließlich fuhr sie in noch immer sehr kühlem Tonfall fort: »Was ist mit dem Heiler, den ich dir als Berater empfohlen habe? Ich dachte, er wäre umsichtig – es wundert mich, dass er dich nicht von diesem Blödsinn abgehalten hat.«

Kirin holte tief Luft. »Er hat es versucht, aber ich habe nicht auf ihn gehört. Das ist jetzt aber gleichgültig, denn er gehört im Moment nicht mehr zu meinem Kreis von Vertrauten.«

Megan runzelte die Stirn. »Warum nicht?«

Kirin erzählte ihr von Aderuz‹ heftigem Drängen, die Ordensverbände zu unterstützen, und von seinem Verdacht ihm gegenüber.

»Also denkst du, er steckt mit dem schwarzen Orden unter einer Decke?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Kirin einigermaßen hilflos. »Er hat mir nie einen direkten Grund gegeben, ihn zu verdächtigen … nur die Tatsache, dass er manchmal verschwunden ist, ohne dass ich wusste, wohin … und er war fasziniert von der Vorstellung, dass die Macht des schwarzen Ordens meinen Thron beschützen kann … aber ich habe keine konkreten Beweise. Der einzige Mensch, der einen Angriff des schwarzen Ordens überlebt hat, konnte mir dabei nicht weiterhelfen. Lûth hat seinen Angreifer nur ganz kurz gesehen, weniger lang als ich selbst. Er wusste nicht, dass er zum schwarzen Orden gehört, und von Aderuz oder sonstigen Verschwörungen erst recht nicht. Die Heiler des Palastes haben ihn gesund gepflegt und ihn dann in einer der Armensammelstellen der Stadt untergebracht. Ich glaube nicht, dass er in größerer Gefahr ist als irgendjemand sonst in Nardéz. Und sicher weniger als Elouané.«

Ein kleines Lächeln huschte bei diesen Worten über Megans Gesicht. »Du magst sie, nicht wahr?«

»Du nicht?«, hielt Kirin sofort dagegen.

Aus dem Augenwinkel sah er Rhùk grinsen.

»Doch«, erwiderte Megan ernst. »Und ich weiß, dass sie in großer Gefahr ist. Aber sie ist auch die einzige sichere Verbindung, die wir zum schwarzen Orden haben. Wir wissen, dass sie aus irgendeinem Grund an ihr interessiert sind und alles daran setzen, sie in ihre Gewalt zu bekommen. Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, den Anhängern des Schattens eine Falle zu stellen, dann durch sie.«

»Es sei denn, du willst, dass ich mir mal deinen Heiler vorknöpfe«, meinte Rhùk leichthin. »Ich schätze, du hast ihn bisher mit Samthandschuhen angefasst. Wenn er Gefahr läuft, seinen Kopf oder andere Körperteile zu verlieren, wird er vielleicht gesprächiger, was seine Kontakte zu den Schwarzmänteln angeht.«

»Ich glaube nicht, dass Aderuz in die Morde eingeweiht war, selbst wenn mein Verdacht stimmt«, erklärte Kirin rasch. »Ich habe lange darüber nachgedacht: Die Übergriffe auf die Stadtbevölkerung schaden dem Bild, das die Arachinen von mir haben, sehr. Hätte er davon gewusst, hätte er sich von den Schattendienern distanziert.«

»Und dennoch hast du ihn nicht in deinen Beraterkreis zurückgeholt«, erwiderte Megan.

Kirin ballte die Fäuste. »Irgendetwas geht um mich herum vor, und bis ich nicht alle Beteiligten kenne und offen gegen den Feind vorgehen kann, vertraue ich niemandem mehr.«

»Auch uns nicht?«, spottete Rhùk, der den Bogen in seiner Hand wog, als ob er überlegte, ihn mitgehen zu lassen.

»Dir ganz bestimmt nicht«, gab Kirin trocken zurück.

Megan hingegen musterte Kirin nachdenklich, als ob sie ahnte, dass er ihnen nicht alles erzählte; Kirin hatte kurz überlegt, seinen Freunden von den Träumen zu berichten, die ihn heimsuchten, doch Rhùk zumindest würde damit nicht viel mehr anzufangen wissen als Larniax. Wahrscheinlich würde er ihn nur auslachen.

»Gesunde Vorsicht ist nicht schlecht«, gab die Heilerin schließlich zu bedenken, »solange sie nicht dazu führt, dass du dich vor deinem eigenen Schatten fürchtest.«

»Es gibt zu viele Schatten in dieser Stadt«, sagte Kirin düster und sah hoch in die langsam dünner werdenden Baumkronen, wo er eine allzu bekannte Silhouette sitzen sah. »Es wäre ein Fehler, sich nicht vor ihnen zu fürchten.«

An diesem Abend aßen sie gemeinsam auf der Terrasse vor Kirins Gemächern, zusammen mit Monzù, Larniax und Elouané, die fast den halben Tag geschlafen hatte und, obwohl noch sehr blass, ein wenig entspannter wirkte als am vergangenen Tag. Ihr langes rotblondes Haar schimmerte im Licht der untergehenden Sonne, und Kirin fiel auf, dass selbst die sonst so gleichgültigen Palastwachen ihr hin und wieder Blicke zuwarfen. Sie sprach nicht viel und entschuldigte sich früher als alle anderen Gäste, um ihre Abendgebete vorzubereiten, bevor sie schlafen ging.

Kirin sah ihr nach, wie sie an der Seite von Asusza in der Dunkelheit der Gärten verschwand, und fühlte sich alles andere als wohl dabei. Monzù für seinen Teil berichtete, dass Tumàsz die übrigen Adeligen unablässig aufstachelte und sie von Kirins Unfähigkeit als Regent zu überzeugen suchte. »Mein Abgesandter tut, was er kann, um dem entgegenzuwirken«, erklärte der alte Adelige mit Sorgenfalten auf der Stirn, »aber er muss sehr vorsichtig dabei sein, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.«

»Dieser Tumàsz klingt nach einem ziemlichen Problem«, warf Rhùk ein, der dem Bericht des anderen Mannes aufmerksam gelauscht hatte. »Du solltest ihn aus dem Weg räumen, ehe er nicht mehr aufzuhalten ist.«

Kirin sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich gehe nicht einfach hin und bringe Leute um, weil sie mir unbequem sind. Das war Galihls Art, Probleme zu lösen, nicht meine.«

Rhùk zog eine Augenbraue hoch. »Und hat es ihm nicht den Thron gesichert?«

»Du selbst hast mir damals gesagt, dass du desertiert bist, weil du mit Galihls Tyrannei nicht einverstanden warst!«

Der Windreiter beugte sich auf seiner Liege vor und sah Kirin für einmal ausnahmslos ernst in die Augen. »Sicher, und es rät dir auch niemand, wahllos allen, denen deine Nase nicht passt, die Haut abzuziehen. Aber wenn eine so deutlich erkennbare Gefahr vor deinen Augen immer größer wird, kannst du nicht die Hände in den Schoss legen und nichts tun.«

»Ich stimme diesen Worten zu, Exzellenz, so hart es sein mag«, sagte Monzù und neigte den Kopf.

Einen Moment sprachlos, blickte Kirin von einem zum anderen, dann fragte er: »Sehe ich das also richtig, dass ihr mit allen Mitteln einen Mörder aus mir machen wollt? Ich habe schon genug Leben auf dem Gewissen, ohne dass ich bezahlte Attentäter losschicke!«

»So wie es Tumàsz gemacht hat?«, hielt Monzù vorsichtig dagegen.

Kirin stand auf. »Ich kann ihm nichts beweisen, und solange das so ist, kann ich laut Gesetz nichts gegen ihn unternehmen. Ich werde mich nicht über das Recht hinwegsetzen. Außerdem sind die Schutzmaßnahmen hier im Palast so verstärkt worden, dass niemand mehr ungesehen hineinkommt. Im Moment haben wir ein anderes, sehr viel ernsteres Problem zu lösen, denn es gehen wahnsinnige Mörder in meiner Stadt um, die ich aufhalten muss. Mein oberstes Ziel ist es, Leben zu retten, nicht, eines zu nehmen.«

»Es gibt Leben und Leben«, meinte Rhùk herablassend, doch Kirin ging nicht darauf ein; in diesem Augenblick war ihm aufgefallen, dass auch Megan den Tisch verlassen hatte. Unbeweglich stand sie am oberen Ende der Treppe und starrte hinab in die Gartenanlagen unter ihr.

Kirin ging zu ihr und stellte sich hinter sie. »Woran denkst du?«

Megan rieb sich die Arme. »Daran, dass ich schon einmal durch diese Gärten gegangen bin – und daran, was damals sonst noch alles passiert ist.«

Kirin gab keine Antwort; sie hatte das Gesicht abgewandt, aber er ahnte, was in ihr vorging.

»Wollen wir ein paar Schritte gehen?«, fragte er, und vollkommen gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung.

Sobald sie außer Hörweite waren, wechselte Megan in die Gemeinsprache. »Wie geht es dir?«, fragte sie leise.

Kirin wusste, was sie meinte, ohne dass sie ihren Gedanken weiter ausführen musste. »Ich bin dermaßen damit beschäftigt, den Thron zu halten, dass ich oft vergesse, wie ich ihn bekommen habe. Manchmal beunruhigt mich das.«

»Umso besser«, sagte Megan ohne Begeisterung. »Je natürlicher du bist, desto weniger Fragen werden gestellt.«

Kirin gab ein leises Schnauben von sich. »Wenn du es so sagst, komme ich mir sofort wieder wie ein Betrüger vor. Was ich auch bin, aber trotzdem. Es ist irgendwie weniger schlimm, wenn ich es nur mit mir selbst ausmachen muss.«

»Wenn du die Wahrheit gesagt hättest, was wäre dann gewesen?«, fragte Megan traurig, und Kirin nickte.

»Wahrscheinlich hätte Tumàsz die Macht an sich gerissen. Oder Aszka.« Er schauderte. »Aber zumindest bei ihr hätte der schwarze Orden keine Chance gehabt, wieder so mächtig zu werden.« Er blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. »Ich habe das Gefühl, dass ich, seit ich auf dem Thron sitze, nichts anderes tue, als die Brände zu löschen, die ich selbst gelegt habe.«

Megan stellte sich vor ihm auf, ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht. »Ist das nicht genau das, was Herrscher so tun?«

Mit ein wenig Mühe erwiderte er ihr Lächeln. Dabei sah er an ihr vorbei und bemerkte, dass er sie wie von selbst zu dem kleinen Altar geführt hatte, den er für die Waagepriesterinnen hatte aufstellen lassen. Obwohl sie von Säulen vor seinen Blicken abgeschirmt war, meinte er, Elouané vor dem Götterbild knien zu sehen.

»Du hast ein ziemliches Talent, dir Frauen auszusuchen«, sagte Megan, die seinem Blick folgte. »Erst ein Halbblut, dann eine Priesterin … von der Sache mit dieser heimtückischen Hexe wollen wir gar nicht erst reden.«

Kirin spürte, wie er rot anlief; hastig wandte er den Blick von dem Götterschrein ab und schlug wahllos einen Weg zwischen die Hecken ein.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, log er.

Megan folgte ihm, unentwegt leise lächelnd. »Für einen Politiker lügst du ziemlich schlecht. Du hast selbst zugegeben, dass du sie magst, und ich verstehe dich: Sie ist sehr hübsch …«

»Das hat damit nichts zu tun«, wehrte Kirin ab; wieder blieb er stehen, sorgsam durch die Büsche vor allfälligen Augen verborgen, und fuhr leiser fort: »Da ist … irgendetwas. Ich fühle mich … verbunden mit ihr, auf eine Art, die nichts mit ihrem Aussehen oder was auch immer zu tun hat. Es ist, als wäre ich ihr schon einmal begegnet. Ich … kenne sie. Wenn ich ihr in die Augen sehe, dann ist das, als sähe ich einen Teil von mir, den ich vor langer Zeit verloren habe und schon gar nicht mehr wusste, dass es ihn gibt. Verstehst du, was ich meine?«, endete er ein wenig kläglich, sicher, dass sie nicht verstand. Megan jedoch sah ihn nur mit einem Ausdruck von Wärme in den Augen an, der ihm gänzlich fremd war.

»Du bist in sie verliebt«, sagte sie einfach.

Es verging ein langer Augenblick, in dem Kirin über die Bedeutung dieser Worte nachdachte. Ohne dass er es wollte, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus, das jedoch fast sofort wieder verblasste.

Sein Blick klärte sich, und mit einer Festigkeit, die selbst ihn überraschte, sagte er: »Das spielt keine Rolle. Sie ist eine Novizin und nur ihrem Gott versprochen. Daran kann kein Mensch etwas ändern. Außerdem«, fuhr er lauter fort, als Megan ihn unterbrechen wollte, »außerdem ist es meine Aufgabe, sie zu beschützen. Du hast gesagt, der schwarze Orden ist hinter ihr her. Ich werde nicht zulassen, dass sie sie in die Finger kriegen und ihr die Kehle aufzuschlitzen wie all den anderen, die nichts verbrochen haben. Ich bin für sie verantwortlich und kann es mir nicht leisten, mich von irgendwelchen Schwärmereien ablenken zu lassen. Nicht noch einmal.«

Wieder schwiegen sie, dann erwiderte Megan völlig ruhig: »Dann solltest du auch den Mut haben, einen ungetrübten Blick auf das Ganze zu haben: Du willst sie beschützen, sagst du. Aber indem du sie hier im Palast einsperrst, setzt du der Bedrohung, der wir alle ausgesetzt sind, kein Ende. Wenn du den schwarzen Orden treffen willst, musst du bereit sein, etwas zu riskieren.«

Kirin wusste, dass sie Recht hatte.

Offenbar sah Megan diese Erkenntnis in seinen Augen, denn sie kam einen Schritt näher und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich nicht bereit bin, etwas Unüberlegtes zu tun. Wir müssen sehr genau durchdenken, wie wir vorgehen, und immer damit rechnen, dass etwas schiefgehen kann.« Einen Moment hielt sie inne, und als sie Kirin wieder offen ansah, lag ein entschlossener Ausdruck in ihren Augen. »Ich glaube, ich habe eine Idee.«

Megan hob den Messbecher vor die Augen und schüttelte ihn leicht. Ja, es war genug Petersilie drin, jetzt musste sie den Sud nur noch etwas ziehen lassen. Sie stellte den Becher weg und nahm stattdessen einen kleinen hölzernen Kasten hervor, in dem sie aufsaugende Tücher aufbewahrte. Ein scharfer Duft nach Zitrone und anderen Ölen stieg ihr in die Nase, als sie ihn öffnete, und sie lächelte zufrieden. Sie verschloss den Kasten wieder und prüfte stattdessen als Letztes nach, ob ihr Vorrat an Steinsalzkristallen noch nicht erschöpft war – war er nicht. Eines nach dem anderen ließ sie die Gegenstände zurück in ihre Reisetasche gleiten.

Rhùk und sie waren von Kirin im Gästetrakt einquartiert worden, in einem Gemach, das größer war als der Lesesaal der Bibliothek von Aléh und einen wundervollen Blick auf die Stadt bot. Sie sah hinaus, während sie arbeitete, und wunderte sich, wie scheinbar friedlich sie dalag. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, war sie ein Bild von Tod und Zerstörung gewesen. Jetzt, im sanften Licht eines frühen Wintermondes, erinnerte nichts mehr daran. Sie hatte Kirin gestern ihre Idee unterbreitet, und obwohl sie sah, dass sie ihm nicht gefiel, musste er einsehen, dass sie einen Versuch wert war. Er hatte seine engsten Berater darin eingeweiht, und auch sie waren davon angetan gewesen. Wenigstens würde es ihnen das Gefühl geben, irgendetwas getan zu haben.

Leise öffnete sich die Tür hinter ihr, und ein kühler Luftzug streifte ihre Haut. Sie lächelte versteckt, als sich ihr die vertrauten Schritte näherten und dann eine Hand ihren Nacken berührte.

»Was machst du da?«, fragte Rhùk neugierig.

»Ich stocke meine Arzneien auf«, erklärte sie nebenher und deckte den Becher mit dem Petersiliensud zu.

»Hast du schon wieder ein ganzes Rudel an zukünftigen Patienten ausgemacht?«, neckte Rhùk zärtlich und massierte ihren Hals mit seinen kräftigen Fingern.

»Persönliche Arzneien. Für mich«, sagte Megan so beiläufig wie möglich und warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, von dem sie wusste, wie schuldbewusst es aussah.

Rhùk ließ die Hand sinken und sah sie aus seinen dunklen Augen an. »Wann hörst du damit auf?«, fragte er; er sprach ohne Vorwurf, aber trotzdem biss sich Megan auf die Lippen.

»Was meinst du damit?«, fragte sie und stand auf; dieses Thema war ihr mehr als unangenehm, und sie wünschte nicht zum ersten Mal, sie könnten es einfach beide vergessen und nie mehr darüber reden.

»Wir sind jetzt verheiratet«, sagte Rhùk ruhig, »es ist nicht mehr nötig, dass du das machst.«

Megan presste den Mund fest zusammen und sagte nichts.

Rhùk kam näher und berührte sie sachte an den Armen. »Es ist nichts Schlimmes dabei. Eigentlich ist es das Natürlichste für ein Ehepaar, oder nicht?«

Megan drehte sich von ihm weg, ein widerliches Brennen in der Kehle; sie hasste es, und er sollte sie nicht so sehen.

»Megan, die meisten Menschen haben irgendwann Kinder.«

Sie flüchtete ans Fenster.

Als sie damals mit Rhùk aus Nardéz aufgebrochen war, war ihr klar gewesen, dass sie sich auf etwas Unvorhersehbares einließ, doch für einmal hatte sie ihre Zweifel zum Schweigen gebracht. Obwohl sie gespürt hatte, dass ihre Zuneigung stärker war als die seine, hatte sie sich auf ihn eingelassen, und er hatte ihr bisher nie einen Grund gegeben, das zu bereuen.

Je mehr Zeit sie miteinander verbracht hatten, desto tiefer war die Verbundenheit zwischen ihnen geworden, und mittlerweile gab es für sie keinen Zweifel mehr an seinen Gefühlen. Wenngleich sie sich in vielen Dingen so sehr voneinander unterschieden – die Dinge, in denen sie sich ähnelten, waren wichtiger, und in der Zwischenzeit genügte oft ein Blick oder eine Geste, damit der eine wusste, was der andere dachte.

Diese eine Sache jedoch war eine unüberbrückbare Mauer, und so sehr sie auch versuchte, sie zu umgehen, er kam immer wieder darauf zurück, mit einer Beharrlichkeit, die sie überraschte und verärgerte.

»Ich wusste nicht, dass du plötzlich so versessen darauf bist, häuslich zu werden.« Ihre Stimme hätte bissig klingen sollen, zitterte aber verdächtig.

Lange Zeit sagte Rhùk nichts, und ihr war klar, dass sie ihm wieder einmal wehgetan hatte.

»Ich frage mich nur, warum du unter keinen Umständen ein Kind von mir willst.«

Diese Ruhe, diese fürchterliche Ruhe in seiner Stimme.

Megans Gesicht verzerrte sich, und langsam drehte sie sich zu ihm um. Sie sah seine Miene im Halbdunkel und musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen.

»Wenn wir … wenn ich ein Kind hätte«, begann sie schließlich, »was wäre dann?«

Ein Anflug des üblichen ironischen Glitzerns stahl sich in seine Augen.

»Nun, vermutlich hätten wir ein pummeliges kleines rosa Ding, mit dem wir uns plötzlich herumschlagen müssten. Es würde schreien und quengeln und ich würde sehr schnell darauf zu reden kommen, dass du von Anfang an Recht hattest und wir es lieber hätten bleiben lassen sollen.«

Megan zwang ihren Atem zur Ruhe.

»Wenn wir … wenn ich ein Kind gebären würde, dann wäre es … es wäre wie ich. Ich habe keinen Feind auf der Welt, dem ich so etwas wünschen würde, wie kannst du verlangen, dass ich es meinem eigenen Kind antue?«

Lange Zeit herrschte Schweigen in dem kleinen Raum, durchbrochen nur vom Geräusch des Windes draußen.

Dann sagte Rhùk: »Du weißt, dass es mir egal ist. Dass ich dich so will, wie du bist. Und dass ich auch unser Kind wollen würde.«

Megan zwang sich zu einem Lächeln. »Aber allen anderen Menschen wäre es nicht egal. Es mag für dich einfach sein, aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem etwas vorfällt, und dann würden sie Jagd auf uns machen. Auf unseren Sohn oder unsere Tochter. Er oder sie würde nie normal sein und sich immer verstecken müssen. Unser Kind wäre ein Flüchtling und ausgestoßen, sein ganzes Leben.«

»Du vergisst, dass ich auch noch da bin«, bemerkte Rhùk mit einem halben Grinsen und trat auf sie zu. »Immerhin hätte das Kind sicher ganz viel von seinem großen starken Vater. Es würde einfach alle verdreschen, die ihm zu nahe kommen, und jeder würde vor Angst zittern, wenn auch nur sein Name fallen würde.« Er küsste ihre Stirn, und für einen Augenblick erlosch jede Ironie in seinem Blick. »Ich würde es beschützen. Du würdest es beschützen. Es wäre nie ausgestoßen, denn es hätte uns.«

In diesem Moment liebte sie ihn so sehr wie noch nie zuvor, so sehr, dass es keine Worte gab, es auszudrücken. Stattdessen schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn an sich, und er erwiderte stumm ihre Umarmung. Lange hielten sie sich so fest, bis der Mond hinter einer Wolke verschwand.

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Winter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Seine Kleider stanken vom Unrat und der scheußlichen Brühe in der Kanalisation, aber Narvek war es gleich; endlich hatte er sein Ziel erreicht, und dieses Wissen gab ihm Antrieb genug. Er hatte sich dem Grenzfluss Thoyga bereits bis auf wenige Tagesmärsche genähert, als ihn der Befehl seines Obersten erreichte, sich nach Westen zu wenden. Das Gefäß war in der Hauptstadt Aracanons gesehen worden, ein Segen, der ihn dazu veranlasst hatte, mitten in der Wildnis auf die Knie zu fallen und ein Dankesgebet für seinen Gott zu sprechen. Dass es Stilicho und seiner Bande von Idioten überlassen blieb, das Mädchen einzufangen – diese Vorstellung hingegen war unerträglich, also hatte er sich über Menschenkraft hinaus beeilt, seine wertvollen Reserven an Magie aufgebraucht, nicht gegessen und geschlafen, um rechtzeitig in der Stadt einzutreffen. Es war nicht gerade einfach gewesen, sich ungesehen Zutritt zu den Abwassergräben zu verschaffen, da es auch dort vor Wachen wimmelte, aber unter Aufwendung all seines jahrelang erworbenen Könnens war es ihm gelungen.

Jetzt stand er in einem heruntergekommenen Stollensystem, das von unkundiger Hand ins Erdreich gegraben worden war, und sah dem anderen Ordensvorsteher ins Gesicht. Stilicho war kaum mehr als ein wandelnder Leichnam, aber seine Jünger hielten respektvoll Abstand zu ihm, und auch Narvek spürte die Kraft, die noch immer in ihm pulsierte.

»Du bist also gekommen«, krächzte der Alte und deutete eine Verbeugung an. »Wir sind höchst erfreut über dieses Glück. Der Oberste hat vorausgesagt, dass mit deiner Hilfe die Ergreifung des Gefäßes möglich sein würde.«

»Und damit hatte er Recht«, erwiderte Narvek. »Wir können uns nicht erlauben, sie noch einmal zu verlieren. Ich hoffe, du hast alle Maßnahmen getroffen, um sie zu überwachen?«

Stilicho schielte von unten her zu Narvek hoch. »Seit dem … bedauerlichen Vorfall, der den jungen Großfürsten auf unsere Spur führte, habe ich meinen Späher Tag und Nacht in der Nähe des Palastes postiert. Er berichtet mir, dass das Mädchen sich noch immer dort aufhält. Sie erhält besondere Bewachung, wird nie aus den Augen gelassen. Daher war es uns bisher noch nicht möglich, direkt etwas zu unternehmen.«

»Das ist unerfreulich«, entgegnete Narvek barsch, »aber besser, als wenn es irgendein weiteres tölpelhaftes, überstürztes Eingreifen gegeben hätte, das die Wachsamkeit des Jungen noch mehr wecken könnte.«

Bei diesen Worten warfen ihm einige der umstehenden Ordensbrüder finstere Blicke zu, doch Narvek scherte sich nicht darum.

»Wart ihr wenigstens in der Lage, irgendeine Schwachstelle in der Befestigung des Palastes auszumachen?«

Stilicho räusperte sich, auch er zunehmend verärgert. »Es gibt ein Tunnelsystem unterhalb des Palastes, in dem sich auch die Kerker befinden, doch die Pläne dazu sind längst verschollen. Selbst wenn wir einen Weg hinein fänden, bräuchten wir eine Ewigkeit, um uns durch dieses Labyrinth zu kämpfen, und auch dann stünde uns noch immer eine ganze Armee von Palastwachen gegenüber.«

Narvek tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. »Ich erinnere mich nicht, dich gebeten zu haben, mir zu sagen, was nicht funktioniert«, sagte er kalt. »Versuch nicht, dich herauszuwinden. Gibt es für uns einen Weg in den Palast hinein oder nicht?«

Stilicho richtete sich auf. »Die hinteren Palastgärten sind schwächer bewacht als der Rest des Komplexes«, sagte er, »aber solange die Aufmerksamkeit des Großfürsten sich voll darauf konzentriert, das Gefäß innerhalb dieser Mauern in Sicherheit zu behalten, wäre auch ein Versuch, dort einzusteigen, fruchtlos.«

Als Narvek sich entnervt abwenden wollte, fügte er hinzu: »Dennoch glauben wir, dass sich uns in Kürze die Möglichkeit für einen Angriff bieten könnte.«

Abwartend breitete Narvek die Arme aus und wandte sich dem Alten wieder zur Gänze zu. »Ich höre?«

»Auf Drängen der Stadtbevölkerung hat der Großfürst angeordnet, den Tempel des weißen Götzen wieder aufbauen zu lassen«, krächzte Stilicho, ein Glitzern in den trüben Augen. »Der Rohbau sollte in den nächsten Tagen fertiggestellt sein. Da es uns gelungen ist, die verbliebenen Ketzer zu töten, ist das Gefäß das einzige Mitglied dieses Konvents, das sich in der Stadt oder der näheren Umgebung aufhält. Du hast gehört, dass die wenigen, die dem Weißen geblieben sind, die Westlande verlassen …«

»Ja, habe ich«, unterbrach Narvek ungeduldig. »Erzähl weiter!«

»Nun, um den Tempel zumindest der Form nach einzuweihen, ist geplant, das Gefäß dorthin zu bringen, damit sie eine entsprechende Zeremonie abhalten kann«, erklärte der Alte mit einem wissenden Grinsen. »Zu diesem Zeitpunkt wird sie nur wenige Windreiter um sich haben – und es wird viel Volk auf der Straße unterwegs sein, um der Zeremonie beizuwohnen. Viele Gesichter, unter denen einige mehr oder weniger nicht auffallen.«

Narvek erlaubte sich ebenfalls ein Lächeln. »Ausgezeichnet. Dann wird dies der Tag sein, an dem wir uns dem Einen beweisen. Bis dahin wählt einige unter euch aus, die Augen und Ohren offenhalten für alles, was mit den Vorbereitungen für diese Zeremonie zu tun hat. Lass deinen Späher stets auf seinem Posten – nur zum Rapportieren kehrt er hierher zurück. Der Rest von euch geht in sich und ruht sich aus. Es wird ein schwerer Kampf, den wir zu bestehen haben.«

Der Alte lachte leise und rasselnd, und einige seiner Jünger stimmten mit ein.

»Die Windreiter sind nicht zu unterschätzen, das stimmt. Mit dem Metall, das sie tragen, können sie unsere Angriffe abwehren – aber wenn wir alle zusammen auf einen Schlag angreifen … Unser Vorhaben kann nur gelingen.«

Narvek fixierte sein Gegenüber. »Das ist nicht alles. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass sich unter den Gefährten des Gefäßes ein Halbblut befindet.«

Für einen Moment herrschte schockierte Stille, dann brachen alle Umstehenden in hektisches Gemurmel aus; Narvek sah, wie Köpfe geschüttelt wurden.

»Ein Halbblut?«, raspelte Stilicho, »bist du sicher?«

»Mir wurden Berichte zugetragen, dass eine solche Kreatur den ersten Angriff unserer Mitbrüder zurückgeschlagen hat, als sie das Gefäß zu ergreifen suchten. Das Halbblut und ein menschlicher Krieger sollen sie auf ihrem Weg hierher begleitet haben.«

Stilicho dachte einen Augenblick nach, dann hob er die Hand, um die aufgeregten Brüder verstummen zu lassen.

»Es ist wahr, mein Späher berichtete von einem Windreiter und einer anderen Frau, die mit dem Gefäß im Palast eingetroffen sind. Wenn sie ein Halbblut ist … Über die Kräfte dieser Ungeheuer ist kaum etwas bekannt, und die wenigen Berichte, die es gibt, weichen stark voneinander ab.« Der Alte hielt inne und sah Narvek offen an. »Wir müssen den Obersten davon in Kenntnis setzen.«

»Unter gar keinen Umständen!«, hielt Narvek scharf dagegen. »Skaidridt ist mit den Vorbereitungen für das allerheiligste Ritual beschäftigt. Es ist nicht nötig, ihn mit solchen Dingen zu behelligen. Vergiss nicht, Bruder, es ist nur eine dieser Kreaturen – wir sind viele. Gemeinsam werden wir sie erdrücken, sollte sie es wagen, ihr Gesicht in der Stadt zu zeigen. Und ob das wahrscheinlich ist, wage ich zu bezweifeln – vergiss nicht, wie verhasst diese Kreaturen sind, in Aracanon noch mehr als sonst überall.«

Stilicho nickte nachdenklich. »Als die Stadt in die Hände des jungen Großfürsten fiel, hörte ich Gerüchte … Gerüchte über eine solche Bestie, die sich in den Reihen der Ostländer befinden sollte … möglicherweise ist es dasselbe Halbblut. Wenn dem so ist, dann wird sie sich hüten, sich erneut dem Hass der Stadtbevölkerung auszusetzen.«

»Bleibt auf alle Fälle aufmerksam. Wir können uns keine Fehler mehr leisten. Lasst uns jetzt gemeinsam beten«, fügte Narvek hinzu und ließ sich langsam auf die Knie nieder. »Betet für den Erfolg unserer Mission – und das Kommen des Einen.«

Die Chroniken der drei Kriege

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