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Der Hinterhalt

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Winter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Fast drei Monde nahmen die Bauarbeiten in Anspruch, dann endlich wurde der letzte Stein ins Mauerwerk des weißen Tempels gesetzt. Noch fehlten Verzierungen, Schutzsprüche und Statuen, aber allein der Anblick des weißen Gebäudes, das von weither sichtbar zwischen den anderen Häusern hervorstach, schien den vom Schicksal gebeutelten Menschen wieder ein wenig Mut zu machen. Zwanzig Nächte waren vergangen, in denen es keinen einzigen Toten gegeben hatte, und viele sahen das als Zeichen dafür, dass der Lichte wieder in die Stadt zurückgekehrt war. Tatsächlich waren wieder einige fremdländische Gesichter in Nardéz gesehen worden – Händler, von denen die meisten sich von der blutigen Mordserie hatten abschrecken lassen und trotz der winkenden Reichtümer das Weite gesucht hatten. Allzu weit schien es aber nicht gewesen zu sein, denn kaum machten die ersten positiven Gerüchte die Runde, kehrten dickbäuchige Koggen und schlanke Flussschiffe in den Hafen zurück, um aus den für den Winter dringend benötigten dicken Stoffen für die Nardézer Profit zu schlagen.

Es war kälter geworden – lange nicht so kalt, wie es in Yorenin um diese Jahreszeit war, aber kühl genug, dass die meisten Frauen ihre hauchdünnen Sommerstoffe gegen samtene Überzüge und Röcke eintauschten und die Windreiter ihre Uniformen um schwarze Waffenröcke und Handschuhe erweiterten. Kirin, der die arachinischen Krieger bisher noch nie in dieser Montur gesehen hatte, fand den Anblick irritierend – tatsächlich machten die Stadtwachen in ihren langen Ärmeln auf ihn einen beinahe harmlosen Eindruck.

»Nur zu, fordere einen von ihnen heraus, dann wirst du sehen, wie harmlos sie sind«, ermunterte ihn Rhùk, als Kirin ihm diesen Gedanken mitteilte. Der Windreiter war noch immer beleidigt, weil er die Aufforderungen zum Kampf auf Leben und Tod nicht hatte annehmen dürfen, und daher war Kirin beinahe froh, dass der Tag der Einweihung nun endlich bevorstand; die Aussicht, seine Schwerter in einen der Schwarzmagier versenken zu dürfen, würde Rhùk hoffentlich von unüberlegten Handlungen abhalten.

Die Zeremonie sollte bei Sonnenaufgang stattfinden, mit dem Gedanken dahinter, dass die Schattendiener sich einerseits noch sicher genug fühlen sollten, aus ihren Löchern hervorzukommen, andererseits aber genug Licht vorhanden sein würde, damit sie nicht einfach unbemerkt verschwinden konnten. Demzufolge stand Kirin eine Stunde vor dem Morgengrauen auf dem Balkon des Fürstenpalastes und musterte die Szenerie auf dem Hof unter ihm; Soldaten, die sich in Reih und Glied aufstellten, Karren, die mit Blumen und Bildern festlich geschmückt durch die Stadt gezogen werden sollten, und einige Höflinge, darunter auch Monzù, die prächtig gekleidet ihre Positionen neben diesen Festwagen einnahmen.

›Das gefällt mir nicht‹, dachte er bei sich, ›das gefällt mir ganz und gar nicht.‹

»Mein Herr.« Elouané war aus der Düsternis des Palastes an ihn herangetreten, die graublauen Augen ebenfalls voller Sorge.

Kirin neigte den Kopf; Elouané trug eine helle Novizinnenrobe, dazu ein Tuch über dem Kopf, wie es zu religiösen Anlässen üblich war. Im Gegensatz zu den Tüchern der vereidigten Schwestern war es jedoch nicht in ihrem Nacken zusammengebunden, sondern fiel locker über ihre Schultern, sodass man eine Andeutung ihrer langen Haare sehen konnte. Dafür hielt sie eine schlichte weiße Maske in den Händen, die sie während der Prozession zum Tempel tragen würde, zum Gedenken an ihre toten Brüder und Schwestern.

Einen Moment schien sie um Worte zu ringen, dann sagte sie sehr schnell: »Mein Herr Kirin, ich habe Angst.«

Kirin machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu; selbst mit einer Armlänge Abstand zwischen ihnen meinte er die Wärme, die sie ausstrahlte, zu spüren.

»Ihr seid sicher«, beruhigte er sie. »Euch kann nichts geschehen.«

Doch Elouané schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um mich … ich habe Angst um die anderen, um Megan, um Euch … was ist, wenn Euch etwas zustößt? Wenn … wenn wieder jemand getötet wird?« Sie schürzte die Lippen, als müsste sie ihre Tränen zurückhalten.

Kirin versuchte zu lächeln.

»Wir können auf uns aufpassen. Durch Eure Warnung sind wir so gut gewappnet, wie es nur irgendwie geht. Jeder, der heute mitkommt, weiß, worauf er sich einlässt. Jeder von uns ist bereit, sein Leben zu riskieren, um den Wahnsinn dieser sogenannten Gottesdiener zu beenden.«

Lange sagte Elouané nichts; Kirin sah, wie sie unruhig mit ihrer Maske spielte. Schließlich hob sie den Kopf und sah Kirin so direkt an wie nie zuvor, und wieder war ihm, als würde ein unsichtbares Band gesponnen, zwischen ihren Augen und seinen.

»Wenn Ihr getötet werdet … Dann stirbt ein Teil der Welt, die der Lichte geschaffen hat. Alle, die ich in Eurem Umfeld sah, sind gute Menschen, das weiß ich. Aber Ihr … es ist mehr in Euch, und ich glaube, Ihr spürt es auch. Der Lichte hat Euch ausersehen. Wozu, weiß ich nicht, aber … Bitte, Ihr dürft nicht zulassen, dass Sie Euch etwas antun! Ihr müsst leben, versprecht mir das!« Sie schien nicht zu bemerken, dass sie beim Sprechen die Hände nach ihm ausgestreckt hatte, und ebenso unbewusst hob Kirin die seinen und umfasste sie.

Ihre Finger waren kalt, aber er spürte, wie seine Wärme auf sie überging.

»Ich verspreche es«, sagte er leise.

»Versprecht mir, dass Ihr nicht für mich sterben werdet«, flüsterte Elouané. »Versprecht mir, dass Ihr Euer Leben rettet, bevor Ihr meins rettet.«

Kirin spürte, wie ihre Finger die seinen drückten, und er erwiderte den Druck.

»Das kann ich nicht«, sagte er mit einem Lächeln. »Und wenn Ihr mich so kennt, wie ich es glaube, dann wisst Ihr das auch.«

Elouané erwiderte nichts, sondern sah ihn nur aus traurigen Augen an, die goldenen Punkte um ihre Pupillen wie sterbende Sonnen.

In diesem Augenblick erschallte unten auf dem Platz eine Trompete, und beide fuhren zusammen. Verlegen und auch ein wenig verwirrt lösten sie ihre Hände voneinander.

»Es ist Zeit«, sagte Kirin.

Elouané sah ihn an, als wollte sie noch etwas sagen, senkte denn aber nur den Kopf und kehrte gemeinsam mit ihm ins Innere des Palastes zurück.

Trotz der frühen Stunde waren die Straßen voller Menschen; es waren nicht so viele wie bei ihrer Heimkehr nach dem Vergeltungsschlag gegen die Ostländer, aber noch immer genug, um allfälligen Angreifern eine Deckung zu bieten. Ein weiterer Grund, warum Kirin dieser Plan nicht behagte.

Er reckte den Hals und überblickte den Festzug, dem er folgte: Ganz vorne ging eine Abteilung Windreiter, dann folgten die sechs geschmückten Wagen. In deren Mitte, für Kirin durch die ganzen Blumengirlanden gerade noch zu sehen, schritt die weißgekleidete Dienerin des Lichten, flankiert von weiteren Wachen. Danach folgte Kirin zusammen mit einigen hochrangigen Adeligen und seinen Leibwächtern. Rhùk und Larniax gingen direkt hinter Kirin, Asusza jedoch war im Palast zurückgeblieben. Ebenso fehlte die Heilerin, um die sich so viele Geschichten rankten.

Das Volk von Nardéz tuschelte, es handele sich um dieselbe widernatürliche Kreatur, die damals gefangen in die Stadt geführt worden war und den Untergang Galihls herbeigeführt hatte. Gerüchten zufolge hatte der Großfürst mögliche Angriffe auf sie verhindern wollen, andere wiederum behaupteten, er habe sie im Palast zurückgelassen, um das Gotteshaus nicht mit ihrer Anwesenheit zu entweihen.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie den vierten Stadtring passierten, wo der Tempel sich erhob, und Kirin war plötzlich von einer fiebrigen Erwartung erfüllt; etwas würde geschehen, da waren er und die anderen sich einig. Die große Frage war: Was?

Bevor die Prozession ihr Ziel erreichte, machte ihre Route einen kleinen Schlenker von der Hauptstraße weg, scheinbar, um den Zuschauern länger Gelegenheit zu geben, das farbenfrohe Gepränge zu bestaunen. Allerdings wurde die Straße jetzt enger, und so hatten die Menschen keine Möglichkeit, dem Zug zu folgen. Es wurde still um die Festwagen, und Kirin war, als hielte die Stadt mit ihm zusammen den Atem an. Er hob unauffällig den Blick und musterte die überhängenden Dächer ringsum.

›Nun macht schon‹, dachte er nervös, ›zeigt euch! Diese Stelle ist ideal für einen Hinterhalt!‹

Es geschah jedoch nichts, und die Gruppe kehrte nur wenig später auf die Hauptstraße zurück. Ein kleiner Platz lag vor ihnen, an den der neugebaute Tempel grenzte, und auch diesen hatte Kirin weiträumig absperren lassen. Während er hinter den quietschenden Wagen auf die freie Fläche hinausritt, versuchte er die Entfernung zu den von Soldaten zurückgehaltenen Zuschauern abzuschätzen. Zwanzig, dreißig Schritte?

›Viel zu weit‹, überlegte er finster. ›Zu viel Platz, zu wenig Deckung, um von hier aus anzugreifen.‹ Frustriert tauschte er einen Blick mit Rhùk; auch der Windreiter schien irritiert.

»Wo stecken sie denn?«, murrte Larniax ungewöhnlich laut, dennoch hörten es nur Kirin und Rhùk. »Ich hätte geschworen, sie greifen uns an!«

»Allein der Schatten weiß, was in den verdrehten Gehirnen dieser manteltragenden Fanatiker vorgeht«, erwiderte Rhùk in derselben merkwürdigen Lautstärke. Kirin kaute auf seiner Unterlippe herum und schwieg.

Mittlerweile hatten die Anführer der Prozession den Tempel erreicht und machten Platz, um die Wagen durchzulassen; in gemäßigtem Tempo scherten sie nach links und rechts aus, um den kleinen Steinbau in entgegengesetzten Kreisen zu umfahren, während die Novizin mit klarer Stimme einen Gesang anstimmte, in den nach und nach die Zuschauer einfielen.

Er sah, wie Rhùks Lippen sich bewegten und beugte sich näher zu ihm, um seine Worte zu verstehen.

»Ich sagte, sie sind religiös geworden, meine Landsleute!«, wiederholte der Windreiter lauter.

Kirin zog eine Augenbraue hoch. »Sie wissen jetzt, dass Magie noch immer existiert und dass auch die Märchen über die Gräueltaten des schwarzen Ordens keine Märchen sind – kannst du es ihnen verübeln, wenn sie glauben, dass auch noch andere Dinge wahr sein könnten?«

Er war zusammen mit seinen Begleitern stehengeblieben und sah nun zu, wie die Karren in gleichbleibendem Tempo um den Tempel gezogen wurden, während die Novizin sich langsam auf den Eingang des Baus zubewegte. Sie war die Erste, die ihn betreten würde, ansonsten hatte bis auf die Arbeiter noch niemand einen Fuß hineingesetzt. Während er ihr zusah, blendete auf einmal ein gleißendes Licht seine Augen; die Sonne ging weit hinter dem Tempel auf und stach ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Er blinzelte und hob die Hand, um sich vor dem Licht zu schützen – und in diesem Augenblick sah er es: Ein Huschen im dunklen Eingang des Tempels.

Eine Bewegung, nur einen Schritt von der weißgekleideten Gestalt entfernt, die sich ein letztes Mal vor dem Tempel und damit auch vor ihrem Gott verbeugte, ehe sie den Fuß über die Schwelle setzte.

»ACHTUNG!«, brüllte Kirin, doch das war alles, was er tun konnte; im nächsten Augenblick fegte ein Brausen wie ein Sturmwind über sie alle hinweg, und dann brach das Chaos los: Kirin sah verschwommen, wie schwarzgekleidete Gestalten aus dem Tempel strömten, während gleichzeitig aus allen Richtungen Geschosse geflogen kamen und auf dem Platz und in der Mitte der Prozession einschlugen; sie schienen direkt aus der Menschenmenge um den Platz herum zu kommen. Wieder waren entsetzte Schreie zu hören, und von einem Herzschlag auf den nächsten verwandelten sich die Zuschauer in eine panische Masse aus hirnlosen Tieren, die haltlos in alle Richtungen davonstürmten.

Hinter sich hörte er etwas zischen und warf sich instinktiv auf den Boden; das magische Geschoss sirrte über ihn hinweg und traf einen Zeremonienwagen, der von der Wucht regelrecht in Fetzen gerissen wurde. Die zwei Männer, die ihn gezogen hatten, wurden nach vorne geworfen und knallten hart auf den Stein. Rasch atmend drehte sich Kirin auf den Rücken und sah, wie die Windreiter, die die Menschenmassen zurückgehalten hatten, von Flüchtenden niedergetrampelt wurden, und noch immer gingen von überallher Geschosse auf sie nieder, die Löcher in den Boden rissen und jene, die sie trafen, durchbohrten.

»Da vorne!«, schrie Rhùk, der sich neben Kirin auf den Boden geschmissen hatte, und deutete mit einem seiner Schwerter auf den Tempel. Kirin sah hin und erkannte, dass die Schwarzmagier vor dem Gebäude auf dem Platz Stellung bezogen. Die meisten gestikulierten wie wild mit den Händen. Die Luft um sie her begann zu flirren, dann jagten unzählige unsichtbare Magiepfeile davon und schlugen Krater in die Masse aus fliehenden Menschen.

Hinter dieser Wand aus Ordensmitgliedern jedoch erkannte Kirin, wie eine einzelne weiße Gestalt von einem der Männer ins Innere des Tempels gezerrt wurde.

»Nein!«, brüllte Rhùk und sprang hoch; im Zickzackkurs lief er auf die Magier zu, und Kirin folgte ihm. So gut er konnte, wich er Geschossen, fliehenden Menschen und am Boden liegenden Körpern aus und zog im Laufen seine Schwerter; er hielt sich in Rhùks Windschatten und sah mit einer Mischung aus Schock und Bewunderung, wie der Windreiter Magiegeschosse von sich ablenkte, indem er sie mit der flachen Seite seiner Klinge abwehrte.

Als Kirin eines der flirrenden Dinger auf sich zukommen sah, zögerte er nicht und schlug danach als wäre es ein Ball, den er treffen wollte. Das schimmernde Etwas prallte mit der Wucht eines zweihändigen Schwerthiebes von der Klinge ab und sauste lebensgefährlich trudelnd davon, wobei es einen weiteren Karren in Stücke riss.

Mittlerweile hatten Kirin und Rhùk die Hälfte des Weges zum Tempel hinter sich gebracht; die Schattenjünger standen noch immer geschlossen davor und feuerten auf Windreiter ebenso wie auf Unbeteiligte.

Einer der Ordensjünger schien es besonders auf Kirin abgesehen zu haben; immer wieder sammelte er Kraft und schleuderte ein magisches Geschoss nach dem anderen gegen ihn, wobei Kirin oft nur im letzten Moment ausweichen konnte. Schließlich jedoch, als er auf etwa zehn Schritte an den Mann herangekommen war, reichte seine Schnelligkeit nicht mehr aus; statt die Magiekugel ganz abzulenken, streifte er sie nur mit seinem Schwert, woraufhin sie ihn zwar nicht mehr mit voller Wucht im Gesicht traf, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, dafür aber gegen seine Schulterpanzerung donnerte.

Kirin schrie auf und strauchelte; gerade noch rechtzeitig schaffte er eine Rolle über die andere Schulter und verhinderte so, dass er mit dem Kopf gegen den Steinboden knallte. Seine Schulter pulsierte in furchtbarem Schmerz, als stünde sie in Flammen, aber zu seiner Verwunderung lebte er noch. Als er wieder klar sehen konnte, sprang er hoch, um sich erneut auf seinen Feind zu stürzen. Der jedoch lag am Boden, eine fürchterliche Wunde am Kopf. In einem Herzschlag, in dem die Welt stillzustehen schien, berührte Kirin die silbernen Ornamentplatten an seiner Rüstung, die sich vom Zusammenprall mit der Magie glühend heiß anfühlten.

›Geschliffenes Metall‹, dachte er; die Panzerung hatte den magischen Strahl nicht nur abgemildert, sondern ihn auch abgelenkt und zu seinem Urheber zurückgeschossen. Ein grimmiges Lächeln auf dem Gesicht, schwang er die Schwerter.

Stilichos Herz jubelte vor Freude, als er seine knöchrigen Finger um den Arm des Mädchens schlang und sie ins Innere des Tempels zerrte. Sie wehrte sich nicht, sondern schrie nur spitz und fiel durch die Wucht der Attacke nach vorne; ehe Stilicho es verhindern konnte, schlug sie der Länge nach hin und blieb schwer atmend im Mittelgang des Tempels liegen. Stilicho warf einen raschen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass seine Mitbrüder einen Wall vor dem Eingang zogen, damit der Großfürst und seine Getreuen dem Gefäß nicht zu Hilfe eilen konnten. Lächelnd beobachtete er, wie einer der Männer einen Magiestoß in die Menge aus kreischenden und schreienden Menschen schickte, woraufhin die Menschen wie ein Fischschwarm auseinanderstoben und dabei einige Wachen des Großfürsten mitrissen.

Langsam wandte er sich wieder dem Mädchen zu, das sich jetzt schwer auf die Ellbogen stützte und sich aufzurichten versuchte. Aus dem Gestühl des Tempels kamen drei weitere seiner Brüder, die sich ihr mit beinahe andächtigen Gesichtern näherten, als wollten sie vor ihr niederknien. Stilicho trat näher und beugte sich über das Gefäß, von demselben Gefühl der Macht durchströmt wie damals, als er den Ordensführer des Lichten getötet hatte. Die Rechtschaffenheit ihres Tuns kam ihm wieder in den Sinn, und im Bewusstsein des absoluten Triumphes griff er durch das Tuch über ihrem Kopf ins Haar des Mädchens und zog sie hoch.

Mit einem leisen Klappern fiel ihre Maske zu Boden und offenbarte ihr bleiches, schmales Gesicht.

»Hallo«, sagte die junge Frau mit einem boshaften Grinsen.

Ehe Stilicho auch nur Zeit hatte zu begreifen, dass irgendetwas schiefgelaufen war, glühten die Augen der Frau grellgrün auf, und im nächsten Augenblick existierte nichts mehr außer Grauen und Schmerz.

Kirin spürte das vielsagende Kribbeln auf seiner Haut, und er brauchte nicht erst Rhùk, der ihm eine Warnung zurief, um zu wissen, dass Megan ihre Kräfte einsetzte. In einer fließenden Bewegung wich er einem weiteren Magiegeschoss aus und rollte über den Boden, in dem Moment, als die Macht der Westlichen die Magier vor der Tempeltür erfasste. Von Grauen gepackt, rissen einige von ihnen die Arme über den Kopf, Kirin hingegen zögerte keinen Herzschlag: Er griff in seine Ohrmuscheln und drückte die dort versteckten Wachskügelchen fest, sodass die Geräusche der Welt nicht mehr nur dumpf, sondern praktisch überhaupt nicht mehr zu ihm durchdrangen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Larniax und ein anderer Krieger, der unweit von ihm am Boden kauerte, die Geste imitierten. Rhùk hatte er aus den Augen verloren, doch er wusste sehr genau, wo der Windreiter abgeblieben war; mit kochendem Blut in seinen Adern sprang Kirin auf und rannte auf die für einen Moment orientierungslosen Magier los, von denen einige sich krümmten und sich verzweifelt die Ohren zuhielten. Mit einem stummen Stoßgebet auf den Lippen schwang er seine Schwerter und rammte sie dem nächsten von ihnen in den Rücken; der Mann bäumte sich auf, einen stummen Schrei auf den Lippen, und brach zusammen, als Kirin die Klingen zurückzog; dunkles Blut schimmerte auf den Scheiden. Rhùk für seinen Teil hatte einem anderen Ordensmann, der weinend am Boden kauerte, umstandslos den Kopf abgetrennt und stürmte nun auf den Tempeleingang los.

Kirin folgte ihm, während er am Rande registrierte, wie eine Handvoll Windreiter es ihm nachtat und sich auf die Schwarzmagier stürzte.

Noch ehe er jedoch einen Fuß auf die Schwelle des Tempels gesetzt hatte, sauste ein weiteres Magiegeschoss um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei und schlug ein faustgroßes Loch in den Türsturz. Er fuhr herum und sah, wie Larniax erbittert auf einen weiteren Magier eindrosch, der sich offenbar bereits wieder von seinem Schock erholt und eine Art unsichtbaren Schutzschild um sich gewoben hatte, den der Òrrowesoldat auch mit seinem Schwert nicht durchdringen konnte. Immer und immer wieder feuerte der Mann kleinere Geschosse auf Larniax ab, die jedoch von der dicken, blank polierten Stahlrüstung abprallten und kleine Blitze erzeugten, wenn sie in den Schild ihres Erzeugers einschlugen.

›Die Kraft ihrer Geschosse lässt nach, wenn sie gleichzeitig Magie anwenden müssen, um sich zu schützen‹, dachte Kirin.

In diesem Augenblick erreichte ihn eine weitere Welle von Megans Kräften, und trotz der Ohrenschützer war ihm zumute, als würde sich die Haut von seinem Körper lösen. Er schloss die Augen, als sich in seinem ganzen Körper die Muskeln zusammenzogen, und öffnete sie gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Magier in sich zusammensackte, während Larniax die Klinge aus seinem Hals zog.

›Gut gemacht, Megan‹, dachte Kirin bei sich, dann wandte er sich ab und rannte mit gezogenen Schwertern in den Tempel.

Megan bekam nur vage mit, wie zwei der Schattenanbeter schreiend vor ihr zurückwichen und durch irgendeine Hintertür aus dem Tempel flohen. Der alte Mann jedoch und der, der ihm am nächsten gestanden hatte, wurden mit voller Wucht von ihren Kräften erfasst und lagen jetzt zuckend und sich krümmend am Boden. Sie zog sich an einer der Bänke hoch, und als sie die Hand wegnahm, war das Holz faulig und morsch.

Schwer schleppte sie sich auf die Tür des Tempels zu: Wie durch einen Schleier sah sie, wie draußen ein paar Windreiter auf die Schwarzgekleideten losstürmten. Die Magier wirkten irritiert, aber sie wusste, dass es damit nicht getan war; mehr als einer schüttelte seinen Schrecken allzu schnell ab und feuerte daraufhin mit neuer Entschlossenheit Energiebälle auf seine Gegner und in die wuselnden Leiber aus Flüchtenden. Sie zwang sich, einen tiefen Atemzug zu nehmen und spürte dabei, wie die Säure in ihrem Inneren kochte.

›Mach schon‹, schien sie ihr zu sagen, ›los, mach! Du weißt, dass du es tun musst! Tun willst!‹

Megan hatte Angst, aber eine Wahl blieb ihr nicht; unter Aufbietung all ihrer Willenskraft ließ sie das Übel los, aber in dem Moment, in dem sie es tat, merkte sie, dass sie die Kontrolle verlor; wie eine schäumende Woge stürzte das Übel über ihr zusammen, raste durch ihre Venen, ihre Hände und Finger, durch ihren Mund und ihre Augen nach draußen und verschlang alles, was es erreichen konnte. Megan keuchte und stürzte in die Knie, die Arme um sich geschlungen, den Mund zu einem Schrei geöffnet, den sie unter keinen Umständen ausstoßen durfte. Sie kauerte im Mittelgang des Tempels wie eine Kreißende, die versuchte, die ungeborene Frucht in sich zurückzuhalten, ebenso gequält und ebenso ohne jede Hoffnung auf Erfolg. Ihr Leib glühte und brodelte, und es hätte sie nicht überrascht, wenn die Steine, auf denen sie kniete, geschmolzen wären.

Das geschah jedoch nicht, und als die Schmerzen allmählich nachließen, erschien ein vertrautes Gesicht in ihrem Blickfeld.

»He Kleine«, sagte Rhùk besorgt und streckte die Hand nach ihr aus.

»Fass mich nicht an!«, schrie sie und wich vor ihm zurück. »Geh weg von mir! Niemand darf mir zu nahe kommen!«

Rhùk gehorchte und trat einen Schritt zurück, eine tiefe Falte auf der Stirn. »Kannst du es zurückhalten?«, fragte er.

Megan nickte, ohne zu antworten; langsam klärte sich ihre Sicht, und das letzte Aufbegehren ihrer Kräfte erstarb. Dennoch würde es eine Weile dauern, bis sie gefahrlos wieder jemanden berühren konnte. Es war keine gute Idee, das Übel zweimal hintereinander einzusetzen, erkannte sie. In den vergangenen Monden hatte sie zu oft und zu großzügig davon Gebrauch gemacht; sie hätte es wissen müssen.

»Was ist mit den anderen?«, fragte Megan, »mit den Magiern? Sind sie tot?«

»Die meisten«, erwiderte Rhùk ruhig, in dem Moment, in dem Kirin in den Tempel gestürmt kam, dicht gefolgt von seinem Freund von den Òrrowe-Inseln. »Auch wenn ich glaube, dass einige dieser Bastarde irgendwo zwischen den Leuten versteckt gehockt und von dort aus ihre Magiegeschosse geschleudert haben, um Panik zu verbreiten. Weiß der Schatten, wo die hin sind.« Rhùk wandte sich zum Tempeleingang um und spähte nach draußen.

»Die Stadtwache muss sofort alarmiert werden, damit sie die Menschen beruhigen und noch mehr Tote und Plünderungen verhindern.«

Der junge Mann namens Larniax atmete schwer; er wies einige Schürfungen und Prellungen im Gesicht auf, schien ansonsten jedoch unverletzt zu sein.

»Veranlasst das«, nickte Kirin. »Sofort. Und schickt auch Boten zur Windreiterkaserne, wir brauchen jeden Einzelnen, für den Fall, dass die übriggebliebenen Schattenjünger weitere Übergriffe auf die Leute planen.«

Larniax salutierte und eilte nach draußen.

Mittlerweile hatte Megan sich soweit erholt, dass sie aufstehen konnte; Rhùk und Kirin wichen vor ihr zurück, und erst in diesem Moment erinnerte sie sich wieder an die beiden Ordensjünger, die von ihrer Attacke überrascht worden und zu Boden gestürzt waren. Sie lagen beide am Ende des Mittelganges beim Gottesaltar, und noch ehe sie sie erreicht hatte, war ihr klar, dass einer von ihnen tot war. Es war der Jüngere, und so wie es aussah, war irgendetwas in seinem Kopf geplatzt, als Megan ihn angegriffen hatte; Blut strömte aus seinen Ohren, seinen Augenhöhlen, Mund und Nase, und die Hände hatte er in einer letzten abwehrenden Geste um seinen Schädel geschlungen.

Der andere hingegen, der, der Megan bei den Haaren gepackt hatte, schien zu leben; in dem Moment, in dem Megan und die beiden anderen sich ihm näherten, zuckte er und schlug nur einen Moment später die Augen auf; das Weiße darin war blutunterlaufen, und auch aus seiner Nase floss ein dünnes rotes Rinnsal, doch noch in dem Augenblick, in dem er sie bemerkte, hob er die Hände, wie um einen magischen Angriff vorzubereiten.

Rhùk war so schnell, dass sie es von bloßem Auge kaum mitbekam; wie ein Sturmwind fegte er an ihr vorbei und versetzte dem Mann mit der flachen Seite seiner Klinge einen Schlag auf die Finger, dass sie Knochen brechen hörte.

Der Mann heulte auf, verstummte jedoch einen Herzschlag später, als Rhùk ihm seine Waffe an die Kehle setzte. Kirin kam von der anderen Seite her auf ihn zu und hielt ihm seinerseits beide Schwerter vor die Augen.

»Du wirst uns einiges erzählen«, erklärte er mit schneidender Kälte in der Stimme. »Wir haben Fragen, die du uns beantworten wirst. Tote, für die du dich zu rechtfertigen hast. Wir drei«, er beschrieb mit der Klinge einen Bogen, der ihn selbst, Rhùk und Megan einschloss, »werden dich in den Palast eskortieren. Überleg dir gut, ob du uns Schwierigkeiten machen willst. Wir wissen, womit wir es zu tun haben, und ich hoffe für dich, dass du es jetzt auch weißt.«

Eine der Klingen berührte die Stirn des Alten und hinterließ einen winzigen Blutstropfen. Seine Brust hob und senkte sich rasch unter seinen pfeifenden Atemzügen. Er blickte von einem zum anderen, dann nickte er.

Zum Palast zurückzukommen, war schwierig; überall wimmelte es von panischen, schreienden Menschen, obwohl Larniax seinen Auftrag sehr schnell ausgeführt und die Stadtwache mobilgemacht hatte, die die Leute zusammentrieb und zur Ordnung rief. Während sie gingen, ließen Rhùk und Megan den Ordensvorsteher keinen Augenblick aus den Augen, und auch Kirin nahm sein Schwert nicht von dessen Kehle. Dennoch breitete sich in seinem Magen ein altbekanntes Gefühl aus, ein Gefühl der Vorahnung, das den Sieg, den sie gerade errungen hatten, bitter schmecken ließ.

Etwas war falsch an dieser Sache.

Sicher, die List war lange geplant gewesen; dass Megan sich als Elouané verkleiden und die Schwarzmagier anlocken würde, damit sie sie im entscheidenden Moment angreifen und die anderen einen von ihnen gefangen nehmen konnten. Aber irgendwie hatte er damit gerechnet, dass die Hexer mehr Widerstand leisten würden. Das war vielleicht zynisch, denn die Verluste, die es unter den Windreitern gegeben hatte, waren schlimm, ganz zu schweigen von der übrigen Bevölkerung. Trotzdem …

Sie passierten die Tore des ersten Stadtrings, die wegen der Unruhen hinter ihnen geschlossen wurden, und in dem Moment, als der Riegel zuschnappte, jagte ein Stich durch Kirin, der ihn nach Luft schnappen ließ.

»Was ist?«, fragte Megan, als Kirin abrupt stehenblieb. Rhùk legte seine beiden Schwerter um den Hals des Ordensmannes wie eine Schere, damit dieser nicht auf dumme Gedanken kam, und fixierte nur das alte, runzlige Gesicht, als er fragte: »Stimmt was nicht, Kleiner?«

Kirin konnte nicht antworten; auf der Ringmauer hinter ihm saß eine Schneeeule, und die Art, wie sie ihn ansah, ließ ihm das Herz gefrieren.

›Ein Fehler‹, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, ›du hast einen Fehler gemacht!‹

Die Eule beobachtete ihn.

Doch nicht nur sie.

Die Eule hatte ihm Hinweise gegeben, hatte den schwarzen Orden verraten. Woher wollte er wissen, dass andere Vögel nicht genauso viel wussten? Und woher wollte er wissen, dass andere Vögel nicht ebenfalls Verräter waren?

»Ich muss sofort in den Palast zurück!«, rief er und rannte los, so schnell wie nie zuvor in seinem Leben. Er achtete nicht auf die Rufe seiner Gefährten hinter ihm, denn ihre Stimmen wurden verdrängt von der einen, die in seinem Kopf war und die nur noch einen Gedanken zuließ:

Elouané.

Die Chroniken der drei Kriege

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