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Getrennte Ligen

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Wie aus einer Zentrifuge geschleudert flog er aus der Pforte, stürzte mit einem erschrockenen Schrei ungebremst zu Boden und landete mit voller Wucht auf den Bauch, konnte sich gerade so mit den Händen abfangen, damit sein Kopf nicht auf den Boden knallte.

Vor Schmerz schossen ihm die Tränen in die Augen, im ersten Moment konnte er nicht atmen, und Bewusstlosigkeit wogte wie ein überlaufender Tümpel hinter seiner Stirn herauf, die tonnenschwer auf den kalten Stein herabsank. Er klammerte sich an das unglaublich heiße Wühlen der Verletzung und schaffte es, bei Sinnen zu bleiben, rührte sich jedoch fast eine Minute lang nicht – hätte man ihm keine Schmerzmittel gegeben, es hätte ihn zweifellos sofort ausgeknockt.

Jonas biss die Zähne zusammen und kam mühsam in eine sitzende Position auf den Knien hoch. Er keuchte beinahe, schwer und flach, weil jeder Atemzug unangenehme Bewegungsausläufer der Muskeln in seinen Bauch hinabschickte, rang einen Augenblick mit Schwindel und hob dann den Sweater hoch. Es war nicht besonders hell, irgendwo links von ihm war eine eigenartig unstete Lichtquelle, die kaum nennenswert gegen das Morgengrau ankam, aber er erkannte dennoch gut, dass sich auf dem weißen Mull kein dunkler Fleck zu bilden begann.

Verflucht, er würde J so was von zum Teufel jagen. Alle Blutergüsse, Prellungen und Hautabschürfungen der letzten drei Wochen zusammen und auch die Schnittverletzung hatten ihn nicht so mitgenommen wie diese eine, verdammte Kugel. Es dauerte bestimmt Wochen, bis die Wunde verheilt war – vorausgesetzt, er konnte sich genügend schonen und warf sich nicht noch öfter der Länge nach mit Katapultschwung hin.

Grimmig ließ er den Stoff wieder sinken, gab sich noch ein paar Sekunden, bis das brodelnde Brüllen der Wunde soweit abgeklungen war, dass es nicht sein ganzes Denken einnahm, und runzelte verwundert die Stirn.

Morgengrau? Wenn Yûs Zeitangabe richtig gewesen war, dürfte es erst in guten zwei Stunden dämmern.

Angespannt und neugierig zugleich sah er sich um. Er befand sich in einer Art Halle, weiträumig und sehr hoch, Boden wie scheinbar auch Wände aus weißem Marmor oder Granit. Mehrere mannsdicke Säulen bildeten in großem Abstand zueinander irgendeine lockere Linienform, die er nicht erfassen konnte, und gaben dem Raum jenseits von Kitsch oder Prunk Alter und eine gewisse Erhabenheit. Ein Dutzend Bänke aus ebenfalls weißem Stein verteilten sich in einem offenen Kreis um ihn herum, dazwischen, daneben und dahinter standen schlichte weiße Pflanzenkübel mit sicherlich einem Meter Durchmesser und massigen, breitblättrigen Palmen darin.

Langsam stand Jonas auf. Das unstete Licht stammte von Feuerkörben auf schlanken, hohen Ständern aus schwarzem Metall, die ihn stark an Straßenlampen aus dem neunzehnten Jahrhundert erinnerten und geschickt in der ganzen Halle verteilt, jedoch nicht alle entzündet waren. Bis auf das relativ leise Blaken und Knistern der Flammen war es totenstill.

Ein Windzug streifte ihn von hinten, und er drehte sich um. Die Pforte war längst verschwunden, und es gab keine Fenster; jedenfalls konnte er in dem begrenzten Insellicht der Feuerständer keine ausmachen. Die Tür war dafür nicht zu übersehen. Es war überhaupt keine Tür, sondern einfach ein breiter und ebenso hoher Durchlass ins Freie, wo er nicht mehr als Schatten und unklare Konturen erkennen konnte.

Irgendetwas war seltsam hier und ließ seine Warnglocken läuten. Die Luft, die ihm von draußen entgegen blies, war kein schneidend kalter Gefährte des frühen Winters, sondern fühlte sich eher wie laue Frühlingsbrisen an. Obwohl er mit nackten Füßen und nichts weiter als dem Kapuzensweater und der Boxershorts dastand, während die Feuerständer wohl kaum einen nennenswerten Wärmeeffekt besaßen und er irgendwie nicht glaubte, dass unter dem fugenlosen Steinboden eine Fußbodenheizung versteckt lag, fror er nicht, empfand es nur als kühl.

Jonas sah sich noch einmal, genauer um, ohne dass es ihm Aufschluss gebracht hätte. Er konnte nicht einmal eine Vermutung abgeben, wo er hier war, oder besser noch: warum Laori nicht hier war. Er war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie ihn auf der anderen Seite der Pforte erwartete, und kam sich nicht nur auf unangenehme Weise allein gelassen vor, es verstärkte seine Vorsicht über die Maßen und gab ihm das fast schon greifbare, ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Von den eigenartigen, von der Jahreszeit abweichenden Umgebungsbedingungen abgesehen, machte es überhaupt keinen Sinn, dass sie nicht hier war. Sie blieb tagelang in seiner Nähe, beobachtete ihn, trat sofort zum Vorschein, als ihr klar wurde, dass er sie suchte, schoss dreimal auf J, um Jonas nicht in seine Fänge geraten zu lassen, holte ihn mit einer Pforte dorthin, wohin sie ihn schon die ganze Zeit mitnehmen wollte – und dann war sie verschwunden? Fall erledigt oder was sollte das bedeuten. Es passte hinten und vorne nicht zusammen.

Jonas fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Leichter Schweiß lag darauf und mahnte ihn, es nicht zu übertreiben. Er hatte keine Ahnung, wie tief die Kugel in seinem Körper gesteckt hatte und was sie alles angerichtet hatte, aber allein das viele Blut, das er verloren hatte, machte ihm unausweichlich zu schaffen, und darüber hinaus steckte ihm zweifellos noch die Narkose in den Knochen. Er fühlte sich schwach, schwer und müde, und es war keine gute Idee, bereits auf den Beinen zu sein.

Umsichtig ging er zu der Bank hinüber, die ihm am nächsten war, und ließ sich vorsichtig darauf sinken, legte sich nach einem Moment gar mit dem Rücken darauf, als sein Körper damit noch nicht zufrieden war. Er wusste nicht, ob ihm hier Gefahr drohte, und wollte auch nicht lange liegen bleiben, aber weder konnte er verhindern, dass ihm gleich darauf die Augen zufielen, noch bekam er mit, wie sein Bewusstsein quasi in derselben Sekunde wegsank.

Er konnte nicht sagen, ob er nur wie ein Stein geschlafen oder komplett die Besinnung verloren hatte, geschweige denn, wie viel Zeit verging, aber als er aufwachte, lag er nicht mehr auf der harten Steinbank, sondern in einem weichen Bett, und war einen langen Augenblick felsenfest davon überzeugt, im Krankenhaus zu sein und den Abschied von Yû sowie seine Ankunft in wo auch immer geträumt zu haben. Er schlug die Augen nicht sofort auf, sondern wünschte sich einen, zwei träge Herzschläge lang diesen Eindruck nicht nur zurück, sondern auch, dass er wahr war.

Aber dann lenkte ein hölzern klapperndes Geräusch nah neben ihm seine Aufmerksamkeit in die Wirklichkeit, und er registrierte die Helligkeit und Wärme von Sonnenstrahlen. Ein eigenartiger, unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase, und er hörte einen Vogel zwitschern, doch ehe er angemessen irritiert darüber sein konnte, spürte er etwas Kaltes, Feuchtes, das mit ordentlich Druck auf die Wunde gepresst wurde und keine Sekunde später grauenvoll brannte.

Jonas fuhr mit einem Schmerzenslaut halb auf und wollte sich von der Quelle dieser Marter befreien, aber seine Hand wurde unbeeindruckt abgewehrt, und dann sank er auch schon zurück und brauchte einen Moment, um sich gegen den Schmerz zu festigen. Es fühlte sich an, als würde ihm die Haut weggeätzt und das Gewebe unmittelbar unter der Naht mit kochendem Wasser durchtränkt. Sein Herz klopfte wild.

Er hob den Kopf und blickte auf seinen Bauch hinab, sah unter den schlanken, zarten Händen eines schwarzhaarigen Mädchens eine grüne, breiige Masse, die ihn an eine Mischung aus Spinat und Haferschleim denken ließ und der Ursprung des gemeinen Schmerzes und auch des komischen Geruchs war.

»Was machst du da!« Jonas war eher verärgert als besorgt. Wollte sie diesen Matsch irgendwie in ihn hineindrücken, oder was sollte das werden? »Das tut weh, verdammt!«

»Es ist gleich vorbei«, sagte sie ungerührt. »Stell dich nicht so an. Ich dachte, du bist ein Mann.«

»Was?« Jonas schielte sie giftig und verständnislos zugleich an und verzog gepeinigt das Gesicht, als sie den grünen Brei sorgsam herumwalgte. »Selbst schon angeschossen worden, oder woher nimmst du diese Binsenweisheit? Was ist das für Zeug, Dreck?« Er hob erneut die Hand danach, aber auch diesmal schob das Mädchen sie bestimmt wieder weg.

»Das ist eine Kräutermixtur«, antwortete sie besserwisserisch, ohne ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen.

Jonas besah sie sich dafür umso genauer. Sie war Asiatin, vielleicht wie Yû japanisch, mit langem, seidig glänzendem Haar, zierlichem, zerbrechlich wirkendem Körperbau und einer niedlichen Stupsnase. Passend zu ihrer östlichen Abstammung trug sie ein fein besticktes, hochgeschlossenes und nichtsdestotrotz figurbetontes Kleid mit niedrigem Kragen, kurzen Ärmeln und schräger Knopfleiste, in einem cremefarbenen Grundton, der für sich genommen nah an hässlich heranreichte, an ihr aber gut aussah. Ihr Alter konnte er nur schwer schätzen, aber er vermutete, dass sie zur selben Generation gehörte wie er.

»Sie unterstützt den Heilungsprozess und verringert das Risiko einer Infektion«, belehrte sie ihn etwas hochnäsig.

Jonas stemmte sich auf die Ellenbogen hoch und beäugte misstrauisch die Kräutermixtur. Es fiel ihm nicht ganz leicht, den Blick von dem Mädchen zu nehmen, weil sie ihn natürlich an Yû erinnerte, und wie sie an seinem Krankenbett saß, ähnelte zu sehr dem letzten Gespräch mit ihm, um Jonas nicht automatisch eine Verbindung zu ihr aufbauen zu lassen. Ob die beiden über die Rasse und den Moment hinaus überhaupt irgendetwas gemeinsam hatten, spielte dabei keine Rolle.

»Aha?«, machte er alles andere als beruhigt und empfand bezüglich dieser Wundversorgung sogar noch mehr Bedenken, als er einen flüchtigen Blick in die Runde warf.

Der Raum war groß, sehr groß, an zwei Seiten nicht durch Wände, sondern Säulen abgegrenzt, hinter denen sich die antike Architektur in weißem Stein weiter fortzusetzen schien, und bis auf das Bett, einen kleinen Beistelltisch und zwei wuchtige, planlos hingestellt wirkende, archaische Truhen vollkommen leer. Auch hier gab es an Stelle einer richtigen Tür nur einen Durchlass in der Wand, durch den ein Elefant bequem hindurchgepasst hätte.

Irgendetwas sagte Jonas, dass er hier keine Infusionen und moderne Labortechnik erwarten konnte.

»Sieht es gut aus?«, fragte er in einem hellen Ton mit deutlichem Einschlag eines Wimmerns, der ihn selbst überraschte und ihm unangenehm war. Normalerweise machte er sich nicht so ins Hemd, aber normalerweise bekam er auch keine Kugel ab und schüttelte dem Sensenmann die Hand – oder musste fürchten, wegen unzulänglicher Medizin Wundbrand zu bekommen.

»Die Narbe wird dich nicht entstellen, keine Sorge«, antwortete das Mädchen flapsig, nahm endlich ihre Hände und damit den Druck weg, dass Jonas aufatmete, und wusch sie in einer Wasserschale auf dem Tisch ab. Dann nahm sie einen langen, schmalen Stoffstreifen, stand auf und begann, ihn fest um ihn herumzuwickeln. Obwohl es umständlich war, da Jonas lag und nicht mehr tun konnte, als den Rücken durchzudrücken, ging sie sehr geschickt und geradezu geübt vor.

»Bist du Krankenschwester?«, fragte er und sparte es sich, sich über ihre weitere Schnippischkeit zu ärgern. Stattdessen gab er sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihm nicht gerade gefiel, wie sie sich in einer Tour über ihn beugte und ihn quasi eng umarmte, während sie den Verband anbrachte.

Er trug den Sweater nicht, und es war keine Decke über ihn gebreitet, aber es lag weniger daran, dass die Situation ihm deshalb etwas peinlich war. Es machte ihn vielmehr die unmittelbare Körpernähe nervös, und es kam dabei nicht darauf an, dass sie ein Mädchen war, oder ob er sie attraktiv fand. Sein Puls jagte regelrecht, und er konnte nur mit einer brachialen Geistesanstrengung verhindern, dass Karls Worte in seinem Kopf widerhallten.

»Manchmal«, meinte das Mädchen mit einem angedeuteten Achselzucken, zog das Ende straff und pulte es unter die gewickelten Streifen.

»Kann das nicht Raphael machen?«, schlug Jonas vor, konzentrierte sich schon krampfhaft auf sein Gegenüber und die Gegenwart. Er war weder scharf auf Raphaels Heilungskräfte, noch darauf, in seiner Schuld zu stehen, aber die Aussicht, sich tagelang schonen zu müssen, was im Klartext herumliegen bedeutete, begeisterte ihn noch weniger. Er war nicht hierher gekommen, um sich zu erholen.

Das Mädchen maß ihn mit einem irgendwie seltsamen Blick, setzte sich wieder und strich sich mit einer Bewegung das Haar hinters Ohr, dass Jonas sich fragte, ob sie es die ganze Zeit vermied, ihm ins Gesicht zu sehen, weil sie im Grunde schüchtern war und ihre spitzen Bemerkungen nur dazu dienten, das zu verstecken.

»Du musst dich mit mir zufrieden geben«, meinte sie mehr affektiert als ehrlich beleidigt, zog in der gleichen teilweise unechten Manier gekränkt die Augenbrauen hoch und wandte sich ihrer kleinen Kräuterapotheke auf dem Tisch zu.

Neben der Wasserschüssel sah Jonas ein paar kleinere, bis auf eines allesamt leere Gefäße aus Holz, einen Stößel, teilweise oder komplett kahle Stiele von verschiedenen Pflanzen, eine geöffnete und zwei verschlossene schlanke Fläschchen ohne eine Beschriftung, saubere und braun verschmutzte Tücher und den zu einem unförmigen Ball zusammen geknautschten und in sich verklebten Pflasterverband aus dem Krankenhaus.

Er war Naturheilkunde gegenüber nicht negativ eingestellt, im Gegenteil war ihm im Gegensatz zu den meisten Menschen und seinen Altersgenossen im Besonderen durchaus bewusst, dass die moderne Medizin ihren Ursprung in der Heilkraft von Pflanzen und auch Tiersekreten hatte, aber er war nun mal weder als Höhlenmensch noch als Angehöriger eines brasilianischen Dschungelvolkes geboren und hätte sich doch viel wohler gefühlt, hätte er wenigstens ein haushaltsübliches Desinfektionsspray unter den urtümlichen Utensilien erblickt.

Sorgsam legte das Mädchen eines der ausgefransten, gut taschentuchgroßen Stoffstücke über ihre linke Handfläche und strich mit der Rechten den scheinbar restlichen Batzen Kräuterbrei aus der größten Schüssel, um ihn darauf zu geben und gleichmäßig zu verteilen.

»Für einen Kerl bist du eine ganz schöne Memme«, sagte sie frech. »Aber keine Angst, wenn du dich schonst und brav deine Medizin nimmst, bist du in ein paar Tagen wieder auf der Höhe.«

Mit dem grünen Brei in der Hand drehte sie sich ihm zu, musterte mit bedeutsamem Blick seine geschwollene Wange und die Veilchen an Auge und Kiefer und grinste zuckersüß.

»Auf keinen Fall schmier ich mir diese stinkende Pampe ins Gesicht«, wehrte Jonas bestimmt ab, deutete ein Kopfschütteln an und verspürte darüber hinaus den starken Impuls, von ihr und ihrem Kräutermatsch wegzurutschen.

»Wer schön sein will, muss leiden«, sang sie geradezu, beugte sich vor und drückte ihm das Zeug auch schon an die Backe, ehe er zu einem weiteren Widerspruch auch nur ansetzen konnte. Er drehte zwar den Kopf weg, aber dadurch bot er ihr die Blessuren sogar noch an, anstatt ihrer Reichweite zu entgehen.

Angewidert verzog er das Gesicht, biss die Zähne zusammen, um ihr nicht auch noch die Genugtuung eines Schmerzenslautes zu geben, und strafte sie mit einem stechenden, finsteren Blick. Unausweichliches Zusammentreffen schien sie auf jeden Fall mit Yû gemein zu haben.

»Nun hab dich nicht so, nur ein paar Minuten«, sagte sie auf einmal mild, sah ihm nun unerwartet direkt in die Augen und betrachtete ihn unverhohlen neugierig – schüchtern, ja, klar. »Mein Name ist Suzann, und deiner?«

»Jonas«, antwortete der, verlagerte sein Gewicht auf einen Arm und hob die Hand nach der Kräuterkompresse, um sie selbst festzuhalten und ihr damit den Grund zu nehmen, ihm länger wortwörtlich an der Pelle zu hängen. Er hätte es ihr gegenüber nie zugegeben, aber zumindest die Kälte und die Feuchtigkeit ihres Kräuterbreis entfalteten augenblicklich eine mehr als angenehme Wirkung. »Wo bin ich hier?«

»Wo wärst du denn gerne?«, erwiderte Suzann und nahm ihre Hand weg, machte aber keine Anstalten, auch mit ihrem Blick von ihm abzurücken – noch etwas, dass sie mit Yû gemein hatte, aufdringliches, unhöfliches und durchdringendes Starren.

Jonas sah sie unwillig an, teils weil ihm nicht gefiel, wie sie ihn gleich einem spannenden Studienobjekt ansah, teils weil sie auf seine Frage mit einer Gegenfrage antwortete, und teils wegen jener Gegenfrage selbst. Wo er gerne sein würde?

Auch wenn es nur Smalltalk war – davon abgesehen, dass er Smalltalk hasste und lieber die Klappe hielt, als offensichtlichen, oberflächlichen Nonsens von sich zu geben, war ihm die ehrliche Antwort darauf zu persönlich für jemanden, den er seit nicht einmal fünf Minuten kannte, und, was weitaus wichtiger war, mit viel zu vielen Widerhaken versehen. Deshalb kam ihm auch kein sarkastischer Spruch über die Lippen, oder nur eine zynische, zurückweisende Bemerkung, sondern er presste stumm die Kiefer aufeinander und unterbrach den Blickkontakt zu Suzann.

Wo er gerne sein würde war nur ein Bruchstück, viel bedeutender war, was er dort tun wollte. Er wollte Dinge ungeschehen machen.

»Ich sehe schon, du bist ein Kandidat fürs Fegefeuer«, meinte Suzann und machte ein mitleidvolles Gesicht, das eindeutig echt war. »Tja, vorerst bist du im Palast des Herrn, und ich kümmere mich um dich rohes Ei, also entspann dich.«

Jonas schielte sie nur verständnislos von der Seite her an. Wovon, verflucht, redete sie da?

Suzann legte den Kopf leicht schräg. »Wie ist es denn dazu gekommen?«, wollte sie wissen.

»Wie ist es wozu gekommen«, erwiderte er unfreundlich. Wollte sie etwa den ganzen Tag da sitzen und ihn anstarren? Er hätte gelogen, hätte er behauptet, sie wäre ihm nicht sympathisch, aber sie fing irgendwie an, ihm auf die Nerven zu gehen – da kam allmählich Frust in ihm auf, und er projizierte wider besseren Wissens. Warum war Laori noch immer nicht hier und wo, zum Kuckuck, war der Rest des Begrüßungskomitees? Jemanden, den man als Retter der Welt verpflichten wollte, den ließ man doch nicht einfach links liegen, kaum dass er der dringlichen Einladung endlich gefolgt war.

Er verwandelte einen Teil des Ärgers in Bewegungsenergie und schob und rutschte umständlich ein Stück nach oben, um sich mit dem Rücken am Kopfteil des Bettes anzulehnen. Ein fieses, nachhallendes Ziehen in der Naht ließ ihn schmerzhaft das Gesicht verziehen, so dass Suzann ihm helfend das Kissen zurechtstopfte, bevor sie nachdrücklich den Kopf wiegte und die Lippen breit zog.

»Wieso bist du gestorben«, erläuterte sie mit unverkennbar neugieriger Ungeduld, aber ebenso großer Nachsicht in der Stimme.

»Ich bin nicht gestorben«, antwortete Jonas beinahe pampig und zog nichtsdestotrotz stutzig die Augenbrauen zusammen.

»Schon mal von den fünf Stufen der Todesverarbeitung gehört?«, meinte Suzann und sah ihn schief an. »Die erste ist leugnen.«

»Wenn ich tot wäre, täte das hier nicht so beschissen weh«, entgegnete er, deutete auf den sich allmählich bildenden, dunkelgrünen Fleck auf dem Verband und damit die Verletzung und entschied zudem, die Matschkompresse lange genug auf die Blessuren in seinem Gesicht eingewirkt gelassen zu haben. Mit einem bezeichnenden Blick hielt er sie Suzann hin. »Was aber die Toten betrifft, sie sind sich nicht des Geringsten bewusst, oder irre ich mich da?«

Auf Suzanns Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, von dem er nicht sagen konnte, ob es nur amüsiert war oder auch hämisch, und ob es sich darauf bezog, dass er diese Bibelstelle aus dem FF zitieren konnte, oder vielmehr den Inhalt selbst. Wenigstens nahm sie ihm ohne eine weitere Bemerkung zu seiner mangelnden Mannhaftigkeit die Kompresse ab, gab sie in eine der leeren Schüsseln und nahm ein frisches Tuch, um es ins Wasser zu tauchen, auszuwringen und sich ihm damit wieder zuzuwenden.

»Jede Religion hat ihre eigene Version«, meinte sie dabei. »Der Kern ist überall derselbe: es heißt Leben nach dem Tod, nicht Tod nach dem Tod.« Sie beugte sich vor und begann unerwartet vorsichtig, sein Gesicht von den Resten der Kräuterpaste zu säubern.

»Die Pforte war nicht in meinem Kopf.« Jonas wusste nicht, warum er es nicht einfach so stehen ließ, sondern regelrecht darauf beharrte, dass J ihn nicht umgebracht hatte. Natürlich gab es immer wieder Beschreibungen von Nahtoderlebnissen, von gestaltlosem Schweben über dem eigenen Körper, von Stimmen geliebter Personen, die einem aus dem Jenseits zuriefen, dass es noch nicht Zeit sei, und dem Klassiker, dem langen, dunklen Tunnel mit dem heilvollen Licht am Ende.

Aber er hatte sich das nicht eingebildet, die Pforte war keine Illusion, die seine erlöschenden Hirnfunktionen produziert hatten, um es seinem Geist leichter zu machen, loszulassen. Jeder Quadratzentimeter seiner Haut hatte den Windstrom in ihrem Inneren gespürt, der ihn mit der Gewalt eines Tornados ergriffen und doch irgendwie sanft geleitet hatte – bis er ihn wie einen Kirschkern wieder ausgespuckt hatte –, und da war garantiert kein herzerwärmendes Gefühl von Ruhe und allumfassender Gnade in ihm gewesen.

Vielleicht musste er es einfach laut aussprechen, damit dieses kleine, leise Stimmchen in ihm wieder verschwand, das furchtbare Angst hatte, dass er doch nicht noch einmal davon gekommen, sondern verblutet war. Dass nach all den übersinnlichen Attacken auf sein Leben ihn eine banale Pistolenkugel getötet hatte, und der flüchtige Eindruck, den er vorhin beim Aufwachen gehabt und sogar hatte festhalten wollen, womöglich die Wahrheit war.

Suzann hielt inne und sah ihn überrascht, fast schon erschrocken, an. »Du bist durch eine Pforte hergekommen?«

»Und ich bin davon ausgegangen, dass Laori mich auf der anderen Seite erwartet«, fügte Jonas eindringlich hinzu, ohne auf ihre Reaktion besonders viel zu geben. Er nahm nicht an, dass Engelspforten hier das übliche Transportmittel darstellten, und er hatte auch so schon genug Fragen. »Wo ist sie?«

»Sie ist die letzte ihrer Art, denkst du, sie hat nichts Besseres zu tun, als dir bei deiner Genesung Händchen zu halten?« Suzanns Ton war spitzfindig wie zuvor, dennoch klang es wie eine Ausrede, und sie konzentrierte sich ein wenig zu sehr darauf, weiter seine Wange abzuwischen, als dass es Jonas nicht so schien, als würde sie ihm ausweichen.

Vielmehr irritierten ihn jedoch ihre Worte. Die letzte ihrer Art? Was sollte das bedeuten?

Seine Neugier und auch die Verwirrung hielten sich allerdings in Grenzen, dafür verstärkte sich der Frust in ihm geradezu exponentiell. Es war töricht, anzunehmen, die Bahn zwischen Laori und ihm wäre geebnet, nur weil die Verwechslung, der er aufgesessen war, aufgedeckt worden war und sie gesagt hatte, dass sie ihn mochte – er war in sie verliebt, aber er wusste überhaupt nichts über sie.

Außerdem … Sie war ein Engel und noch dazu die letzte ihrer Art? Jonas kam sich auf einmal irgendwie primitiv und unwürdig vor. Dabei war es nicht so, dass er darauf aufmerksam wurde, dass sie unterschiedliche Rassen waren – oder gar Spezies; wie auch immer man Himmelswesen kategorisieren konnte –, sondern es beschlich ihn das unangenehme Gefühl, dass sie in getrennten Ligen spielten.

Er hob die Hand und hinderte Suzann an ihrem Tun. »Ich glaube, das reicht«, sagte er, wollte eigentlich nüchtern klingen, aber stattdessen war seine Stimme kühl und fast schon hart. Er schnaubte innerlich und schalt sich, sich zusammenzureißen.

Suzann wirkte ein wenig vor den Kopf gestoßen, sah ihn mit demselben seltsamen Blick an, als er nach Raphael gefragt hatte, und wich dann irgendwie betroffen von ihm ab. Sie legte das Tuch zu den anderen und räumte ordentlich zusammen.

»Es dauert seine Zeit, bis man es versteht«, meinte sie sanft, dass sich nun auch noch Jonas’ schlechtes Gewissen meldete, weil er sich nicht gerade höflich benahm. »Aber davon haben wir hier mehr als genug.«

Sie strich sich abermals das Haar hinters Ohr und warf ihm einen flüchtigen, eindeutig scheuen Blick zu, verschloss sorgsam das offene Fläschchen und stellte die anderen beiden an die Tischkante direkt vor ihn.

»Das hilft gegen die Schmerzen«, erklärte sie. »Nimm einen kleinen Schluck, wenn sie zu stark werden.« Bis auf die Wasserschüssel und die sauberen Tücher raffte sie alles Übrige geschickt an sich und stand auf. »Ich komme später wieder und bringe dir etwas zu essen. Lass dir nicht einfallen, herumzulaufen.«

Sie hob mahnend den Zeigefinger, wandte sich ab und verließ den Raum; alles, ohne ihn noch einmal anzusehen.

Jonas schnaubte abermals und lehnte den Kopf zurück. Er hoffte nur, dass er, was auch immer nötig war, um J loszuwerden, schnell erledigen und wieder nach Hause konnte.

Endzeit

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