Читать книгу Endzeit - S. Mayer - Страница 6
Hexenküche …
ОглавлениеEr schien eine Ewigkeit zu schlafen, und als er aufwachte, fühlte er sich frisch und erholt wie lange nicht mehr. Zumindest die ersten paar Minuten, die er dazu brauchte, um die letzte Benommenheit abzuschütteln und sich träge zu regen, dann nahm er ein Hunger- und auch Durstgefühl wahr, das ihn in seiner Intensität beinahe aufstöhnen ließ. Sein Magen war ein gähnend hohles Loch, und sein ganzer Mund war ausgetrocknet, die Kehle mit rauem Sandpapier ausgekleidet.
»Dornröschen ist aufgewacht«, hörte er Suzanns schelmische Stimme, schlug die Augen auf und machte Anstalten, sich aufzusetzen. »Schade, ich wollte dich gerade küssen.«
»Was?«, machte er mit einem nuschelnden Rest Schlaftrunkenheit, stellte fest, dass er diesmal nicht einmal mehr die Boxershorts anhatte, und griff erschrocken die dünne Decke, um sie höher zu ziehen und sich am liebsten rundherum darin einzuwickeln.
»Ziehst du immer jeden aus, der sich nicht wehren kann?«, blaffte er Suzann an, doch unter dem Ärger brachte etwas ganz anderes sein Herz zum Rasen und jagte ihm fast den Angstschweiß auf die Stirn.
Genug gespielt, Kätzchen. Er sah den erregten Ausdruck in Karls Gesicht vor sich und spürte seine gierigen Hände auf seiner Haut, als wäre es nicht Tage, sondern Sekunden her.
Panik und Verzweiflung wollten über ihn herfallen und trieben nicht nur seinen Puls, sondern auch seine Atemfrequenz in die Höhe, und er hatte Mühe, dem explodierenden, puren Fluchtinstinkt nicht zu unterliegen.
Jonas stellte ein Bein auf, stützte den Ellenbogen gegen das Knie und schwer die Stirn in die Hand, schloss die Augen und atmete bewusst tief durch. Es gelang ihm, sich zu beruhigen, und er war unglaublich froh, dass Karl und was er ihm angetan hatte ihn nicht in Alpträumen verfolgte.
Aber vielleicht kam das ja noch. Wenn sein Verstand nicht mehr von Drogen oder Blutverlust beeinträchtigt wurde.
»Kein Grund, sich so anzustellen«, meinte Suzann derweil spitz. »Ich habe dir schon nichts weggekuckt.« Sie stellte etwas auf dem Tisch neben dem Bett ab und setzte sich auf den Hocker.
Man hatte ihn zurück in den Raum gebracht, in dem er auch das erste Mal aufgewacht war, und irgendetwas in Jonas weigerte sich einen langen Moment, die Augen wieder zu öffnen. Er fühlte einen kantigen, sperrigen Widerstand in sich aufwallen, eine Art wehleidige Unlust, gemischt mit … Heimweh? Er wollte nicht hier sein – und dass Suzann sich das nächste Mal dann zu ihm ins Bett legte, oder was –, er wollte bei Clara und Yû sein. Er wollte all diese schrecklichen Geschehnisse rückgängig machen, er wollte –
»Bist du in Ordnung?«, fragte Suzann besorgt. Er konnte ihr Stirnrunzeln geradezu hören.
Jonas nahm die Hand herunter, warf ihr aber nur einen knappen Blick zu und presste schmerzhaft fest die Kiefer aufeinander, um endgültig seine Fassung zurückzugewinnen. Er hatte ein so furchtbar mieses Gefühl, Yû allein gelassen zu haben, und hoffte inständig, dass er in Ordnung war.
Seine Augen wanderten ziellos durch den Raum und blieben sofort an dem Mann hängen, der in der Tür stand, das Gesicht auf den Gang gewandt, breitbeinig und die Hände locker hinter dem Rücken – zweifellos ein Wachposten. Die dunkelgrüne, schmucklose und selbst auf die Entfernung als abgetragen erkennbare Kleidung war wohl eine Uniform, und an seiner Seite hing ein Schwert.
Der Anblick der Waffe löste eine eigenartige Mischung aus Frust und Spannung in Jonas aus, die kaum stärker hätte sein können, wäre dem Mann eine Kalaschnikow über der Schulter gebaumelt. Das wäre zwar auch nicht alltäglich gewesen, aber wenigstens irgendwie normal; das Schwert hingegen hielt ihm nur ebenso simpel wie klar vor Augen, dass er hier nicht mehr auf der Erde war.
»Hast du Hunger?«, unterband Suzann einen weitergehenden Gedankengang, nahm eine Schüssel vom Tisch und hielt sie ihm hin.
»Bin ich jetzt ein Gefangener?«, fragte Jonas übellaunig und beachtete die Schüssel nicht wirklich. Sein leerer Magen gab ihm zwar allein beim Anblick aus dem Augenwinkel mit einem unangenehmen Krampfen zu verstehen, dass er sich dieses Essen ja nicht entgehen lassen sollte, aber die Bedeutung des Wachpostens erschien ihm erst einmal als weitaus wichtiger.
Zumal der Mann unter der Tür nicht der einzige war. Jonas entdeckte in regelmäßigem Abstand entlang der Säulen mindestens ein Dutzend weitere Männer in derselben Aufmachung und Haltung, und er konnte nicht behaupten, dass ihn das irgendwie begeisterte.
Suzann folgte seinem Blick. »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte sie leichthin. »Weißt du, wie du ausgesehen hast? Du hättest nicht aufstehen dürfen und schon gar nicht im halben Palast herumlaufen.« Sie beugte sich ein Stückchen vor und flüsterte fast: »Was hast du dir dabei gedacht, so mit Ihm zu reden?«
Jonas ignorierte ihre Frage und vor allem den Vorwurf darin. Er hätte viel darauf antworten können, aber das war es ihm nicht wert. Er wollte gar nicht allzu viel wissen, nur das, was ihn schnell wieder nach Hause brachte.
Er schob ein Bein aus dem Bett und rutschte herum an die Kante. Erst jetzt fiel ihm auf, dass da gar kein Verband mehr war, und er hatte auch keine Schmerzen, lediglich ein schwaches Ziehen im Bereich der Wunde, die –
Jonas hob die Decke von sich weg und blickte auf seinen Bauch hinab. Da war auch kein Pflaster mehr oder nur Fäden. Ungläubig starrte er die frische, saubere und durchaus schöne Narbe an, die vielleicht so lang war wie sein Daumen und ganz und gar nicht so aussah, als wäre sie erst einen oder auch zwei Tage alt, geschweige denn sich so anfühlte.
»Wie viel Zeit ist vergangen?«, wollte er beinahe fassungslos wissen und betastete ebenso zaghaft wie vorsichtig die unmittelbare Umgebung der Narbe. Suzann hatte nicht nur die Wundheilung beaufsichtigt, sondern auch darüber hinaus jeden Tropfen Jod von seiner Haut gewaschen, was sie zweifellos tiefer als nur bis zur Gürtellinie geführt hatte. Das gefiel ihm nicht gerade, aber es spielte im Moment wirklich keine Rolle. Prüfend berührte er sein Gesicht und stellte fest, dass die Schwellungen verschwunden waren und es kaum noch wehtat.
Er ließ die Decke wieder sinken, hielt sie unnötig fest und starrte nun Suzann an. Das konnte doch nicht sein, das war unmöglich! Er wusste, dass er lange geschlafen hatte, aber das –
Suzann nahm die Schüssel herunter und seufzte leicht. »Eine Woche«, sagte sie.
»Was?«, entfuhr es Jonas. »Aber das … Wie kann das …« Er machte eine hilflose Geste und ließ die Hand dann schwer aufs Bett fallen. Ergeben und eine Erklärung verlangend zugleich sah er sie an.
Eine Woche? Es war bereits eine Woche vergangen?
»Die hätten zwar zweifellos verhindert, dass du wieder herumwanderst«, meinte sie mit nicht nachvollziehbarer Fröhlichkeit und deutete auf den Wachmann unter der Tür. »Aber meine Methode sticht sie komplett aus, zumal Schlaf immer noch die beste Medizin ist. Und wie man sieht, hat es hervorragend gewirkt.« Sie griff nach der Decke und wollte sie wegziehen, linste ungeniert vor.
»Du hast mich die ganze Zeit betäubt?« Aufgebracht riss Jonas die Decke zurück und funkelte Suzann drohend an, aber die zeigte sich davon überhaupt nicht beeindruckt, sondern schien sich eher darüber zu amüsieren.
»Du brauchst mir nicht zu danken«, antwortete sie und lehnte sich zurück. »Die meiste Arbeit hast du selbst gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell heilt.«
Jonas schob mürrisch den Unterkiefer vor und verbiss sich jeglichen Kommentar – den er gehabt hätte, würde Suzanns Fopperei ihn nicht so ärgern und er das Ganze hier verstehen. Selbst wenn ihre Kräuterpaste Inhaltsstoffe besaß, die die Selbstheilungskräfte seines Körpers gehörig ankurbelten, eine Woche reichte nicht aus, eine solche Verletzung zu einem gefühlten Kratzer werden zu lassen. Die Wunde an seinem Handgelenk hatte die doppelte Zeit benötigt, um vollständig zuzuwachsen, und er spürte sie dennoch bei fast jeder Bewegung des Gelenks; außerdem bezweifelte er doch stark, dass der Messerschnitt so tief gedrungen war wie die Pistolenkugel.
Aber na ja, vielleicht besaß Suzanns Hexenküche tatsächlich magische Eigenschaften, immerhin residierte Gott in einem verlassenen Palast, mit dem Lebensstandard des Mittelalters und zudem nicht im Himmel, sondern in Eden.
Jonas schüttelte nur innerlich den Kopf und fragte sich einen Moment ernsthaft, ob er nicht doch lieber schizophren sein wollte, als dass das alles tatsächlich wahr war.
»Hier, iss.« Suzann hielt ihm erneut die Schale hin und sah ihn auffordernd an. »Du musst einen Bärenhunger haben.«
Jonas beließ es erst einmal dabei und nahm die Schüssel entgegen. Wie hatte schon Einsein gesagt: ein leerer Magen war ein schlechter Ratgeber, und er war sicher, dass im nächsten Moment ein Knurren ertönen wurde, das durch ganz Eden bis zur Erde dröhnte, wenn er dem Fordern seines Magens nicht nachgab.
»Du musst alles aufessen, sonst wird es morgen den ganzen Tag regnen«, meinte Suzann, während er zu identifizieren versuchte, was sich in der Schüssel befand. Es war zwar warm, roch aber nicht, und sah aus wie mit Pappmaschee vermischter, pampiger Milchreis.
»Ist das auch eine Kräutermixtur oder einfach nur das Ergebnis deiner mangelnden Kochkünste«, sagte er.
Suzann grinste frech. »Ich habe es dir vorgekaut«, antwortete sie, woraufhin Jonas der Brei tatsächlich wie Erbrochenes anmutete, nur ohne den Gestank.
Er zog eine angeekelte Grimasse und gab einen angewiderten, ablehnenden Laut von sich, nahm jedoch den Löffel, den Suzann ihm reichte, und schob in der Devise Augen zu und durch ohne Umschweife eine Portion in den Mund.
Es schmeckte überraschend gut, sehr mild und cremig, aber selbst wenn es so geschmeckt hätte, wie es aussah, sein Magen verwandelte sich beim ersten Bissen in ein zügelloses, gieriges Ungetüm, das ihn ungestüm loslöffeln und fast schon gierig schlingen ließ.
»Braver Junge, ich bin stolz auf dich.« Suzann streckte die Hand aus, als wollte sie seinen Kopf tätscheln, doch Jonas wich unwillig aus.
»Ey, lass den Quatsch«, wies er sie mit halbvollem Mund zurecht. Er hatte genug von ihrem Schalk und fand nicht, dass er sich das länger gefallen lassen musste. Außerdem mochte er es nun weniger denn je, einfach angegrabscht zu werden, Mädchen oder nicht und harmlose Geste hin oder her. Er hatte so wenig Toleranz für Tuchfühlung wie noch nie. »Such dir einen Freund, wenn du wen zum Schmusen brauchst.«
Suzann legte den Kopf schräg und grinste schief, jedoch nicht mehr ganz so ungezwungen. Sie wirkte auf einmal ernst und sah ihn mit einem Blick an, in dem sich mehr versteckte.
»Vielleicht arbeite ich ja daran«, meinte sie dennoch verschmitzt.
»Kein Interesse, tut mir leid«, antwortete Jonas unumwunden und in reflexartig kühlem, abschätzendem Ton. Mit Mädchen sprach er so normalerweise nicht, aber Suzann hatte etwas an sich, das ihn da ziemlich ungeniert sein ließ.
»Nur keine Scham wegen der Narben«, sagte sie scheinbar ungetrübt. »Das macht sexy. Was hältst du von meiner?«
Sie zog ihr Kleid bis über die Knie hoch und streckte das rechte Bein aufs Bett, drehte die Außenseite nach oben. Vom Knöchel bis fast zum Knie hinauf verlief eine helle, schmale Linie.
Jonas war überrascht – fand Suzann deswegen aber nicht plötzlich so scharf, dass er sich die Finger nach ihr geleckt hätte. Trotzdem bereute er seine fast beleidigende Abfuhr gerade eben ein wenig. Suzann war keck und offenbar genauso schlagfertig wie er, die große Narbe bewies außerdem, dass sie etwas vom Leben kannte und nicht nur floskelhaft daherredete. Vermutlich ließ sich jeder von ihrem zarten Aussehen täuschen – genau wie von ihm nichts weiter erwartet wurde als früher oder später Schwierigkeiten.
»Mein Bruder wollte mir skateboarden wie die Profis beibringen, der Idiot«, erklärte sie flapsig und zuckte halbwegs mit den Schultern. »Der halbe Knochen war zersplittert. Vater hat ihm den Kopf abgerissen, und Mutter gar nicht mehr aufgehört, zu weinen. Dabei war es ein Unfall.« Ein Schatten erschien auf ihrem Gesicht, doch sie schüttelte ihn unmittelbar ab, indem sie Jonas breit anlächelte. »Du siehst also, netten Menschen passieren die gemeinsten Dinge.«
Jonas verzog nun seinerseits den Mund zu einem schiefen Grinsen, verspürte allerdings keinerlei Humor dabei. »Nett hat mich noch keiner genannt«, meinte er und fragte sich, ob er das jetzt als Kompliment verbuchen sollte.
Suzann sah ihn mit einem Blick an, der ihn an Mona erinnerte und ihm dadurch doppelt unangenehm war, nahm dann ihr Bein vom Bett und zuckte erneut mit den Schultern.
»Ich durfte dich tagelang ungehindert betatschen«, sagte sie. »Da denke ich schon, dass du nett bist. Ein Weichei zwar, aber durch und durch nett.« Ihr Lächeln bekam einen überdeutlichen, gewitzten Einschlag, und sie musterte ihn genau.
Jonas verschluckte sich fast am Essen und blitzte sie sowohl zornig als auch peinlich berührt an, aber Suzann freute sich nur darüber, so dass er nicht wusste, ob sie durch und durch nur so sagte, um ihn wieder zu ärgern, oder ob sie ihn tatsächlich ungehindert betatscht hatte. Erneut schlug ihm das Herz hektisch bis zum Hals.
»Zieh mich ja nie wieder aus, wenn ich mich nicht wehren kann.« Er zog es vor, nicht auf ihre Andeutung einzugehen.
»Spielverderber.« Suzann zog eine beleidigte Schnute.
»Ich meine das todernst«, fügte Jonas dunkel hinzu und stellte die Schüssel weg; sie war ohnehin leer. Durchdringend sah er Suzann an, damit sie es auch wirklich verstand.
»Okay, okay«, gab sie abwehrend nach, sah ihn noch einen Moment mit Monas Psychologieblick an und stand dann auf. Sie schenkte aus einem bauchigen Krug in einen schlichten Becher und warf ihm dann zwei Kleidungsstücke in den Schoß – noch ein Punkt für Yû.
»Zieh dich an, heute geht es los.«
»Was geht los?«, wollte Jonas wissen und besah sich die Kleidung; ein grauweißes Oberteil und eine erdfarbene Hose aus grobem Leinen, beides in einfachstem Schnitt und ohne den Luxus von Knöpfen oder einem Reißverschluss.
Säuerlich ließ er die Schultern hängen. Das war ja noch schlimmer als in Wiegenmoor-Haus.
»Wo ist mein Pullover?«
»Du wurdest eingezogen, da gibt es keine individuelle Mode mehr«, antwortete Suzann leichthin.
Jonas sparte sich nachhakende Fragen und streifte sich das Hemd über. Es war ihm mindestens zwei Nummern zu groß und roch zwar sauber, aber nicht gerade frisch; allerdings überwog die leise Erleichterung, nicht mehr nackt dasitzen zu müssen, so dass er nicht viel darauf gab.
Suzann sah ihm ungeniert zu und drehte sich erst um, als er mit dem Finger auffordernd eine kreiselnde Bewegung machte. Sie ging zu einer der Truhen hinüber, stemmte den offenbar schweren Deckel auf und kramte zwei Laken sowie ein weiteres, kleineres Stück Stoff daraus hervor. Ob sie dabei das Gesäß noch extra in seine Richtung streckte oder es in dem schmalen Kleid eben einfach nur besonders gut zur Geltung kam, konnte er nur schwer abschätzen.
Es interessierte ihn auch nur am Rande – klar sah er hin und war einigermaßen angetan, doch Jonas gehörte nicht zu den unkontrollierten Kerlen, die anstandslos gafften, nach Tangas suchten und ständig auf einen Nippelblitzer hofften. Er holte sich auch keinen in der Schultoilette runter, weil das eine oder andere Mädchen die ganze Unterrichtsstunde lang mit ihren offenen Reizen seine Triebe entfachte, dass er bald das Sabbern anfing. Natürlich blieb er nicht unberührt, aber wenn sein Interesse nicht unter die Oberfläche reichte, hielt sich auch seine Lust in Grenzen.
Erst recht, wenn er nur noch Augen für Eine hatte.
Darüber hinaus war er nicht sicher, wie umfangreich der Schaden war, den Karl ihm zugefügt hatte. Der Gedanke, Suzann hätte ihn unsittlich berührt oder stundenlang lasziv betrachtet, löste vielmehr dieses schreckliche Gefühl des verzweifelt hilflosen und abstoßenden Widerwillens in ihm aus als kindische Scham. Er würde diese Sekunden, diese ganze Nacht, niemals vergessen.
Obwohl Suzann ihm den Rücken zuwandte, schlug er die Decke erst vollkommen beiseite, als er die Hose ganz hochgezogen hatte. Schon unangenehm eng zog er die Bundschnur zu und verknotete sie doppelt, obwohl es ihm selbst total übertrieben vorkam.
Mit einem schweren, inneren Seufzer stand er auf und reckte prüfend die Schultern. Eine Woche, und davor bereits eine Unzufriedenheit hervorrufend lange Zeit ohne richtiges Training oder nur leichten Bewegungssport. Diesbezüglich war er wirklich weit davon entfernt, sich über die Schnellheilung im Schlaf zu beschweren, denn er fühlte sich zwar etwas ungelenk und misste ein wenig die gewohnte Muskelgeschmeidigkeit, aber er war ausgeruht und frisch wie der Morgen.
Nur der tierische Durst trübte dieses Wohlbefinden ein wenig, und Jonas nahm den Becher und trank ihn fast leer, bevor ihm die Zunge noch am Gaumen festtrocknete. Es war pures, relativ geschmackloses Wasser wie aus dem Küchenhahn, aber das war im Grunde auch zu erwarten gewesen und machte ihm nichts aus.
Er schielte einen Augenblick begierig den beinahe leuchtend grünen Apfel an, der noch auf dem Tisch lag. Die Portion Brei hatte seinen Hunger soweit gestillt, dass sein Magen nicht mehr zu implodieren drohte, aber da war noch einiger Platz für mehr – er hatte eine Woche aufzuholen, ein Wunder, dass er nicht abgebaut hatte, sondern sich so kräftig fühlte. Er ließ den Apfel jedoch unberührt und schenkte sich lieber den Becher wieder voll.
Suzann spähte flüchtig zu ihm herüber, richtete sich dann mit ihrer Beute aus der Truhe auf und kam zurück ans Bett, um den Kissenbezug und das Laken zu wechseln. Jonas sah ihr dabei zu und nahm immer wieder einen gemäßigten Schluck. Als sie fertig war, langte sie an ihm vorbei und drückte ihm Krug und Apfel in die Hand, dann raffte sie die gebrauchte Wäsche sowie die Decke an sich und wandte sich um.
»Komm mit.« Sie machte eine auffordernde Kopfbewegung und ging voraus auf den Gang. Den Wachposten beachtete sie dabei gar nicht, als wäre er überhaupt nicht da, und der Mann schien sich auch nicht daran zu stören, dass Jonas ihr in wenigen Schritten Abstand folgte.
Der jonglierte Krug, Becher und Apfel umher, damit er von dem knackigen Obst abbeißen konnte, und nahm sein dadurch langsames Vorbeigehen als Möglichkeit, den Mann unauffällig aus der Nähe zu betrachten.
Er blickte Jonas einigermaßen grimmig entgegen, verzog jedoch keine Miene und machte auf ihn den Eindruck eines erfahrenen, trainierten Soldaten, der vorbildlich seinen Dienst tat und Befehle ausführte, ohne zu fragen. In seinen Augen lag keinerlei Neugier auf den Gegenstand seiner Bewachungsmission, die immerhin knapp zwanzig Männer erforderte, und sein Gesicht rührte sich zweifellos genauso selten wie seine Pflichtdisziplin.
Jonas’ Augenmerk lag jedoch mehr auf seiner Uniform als auf dem Mann selbst, und am längsten richtete sich sein Blick auf das Schwert. Die Kleidung war genauso einfach geschnitten wie seine eigene neue Kluft, aber durchaus mit modischen Aspekten versehen, wenn auch die farbigen Absetzungen des Jacketts abgenutzt ausgebleicht waren, als trüge der Mann die Uniform, seit er hineinpasste. Sie hatte trotz der starken Abgetragenheit und dem einen oder anderen bleibenden Fleck einen untrüglichen, elitären und natürlich militärischen Flair, der durch die schneiderische Schlichtheit sogar noch mehr zur Geltung kam, als wären Finessen wie Kordeln, Nieten oder gar Riemen eingearbeitet gewesen.
Das Schwert war im Grunde auch nicht besonders, zumal die Klinge in der Scheide verborgen war, und styletechnisch war der breite, schwarze Gürtel sogar das Ansprechendste daran. Knauf und Parierstange wiesen keinerlei Verzierungen oder sonstige kunstvolle Schmiededetails auf, das Metall war zwar poliert, aber dennoch stumpf, und das helle Lederband, mit dem der Griff umwickelt war, war nicht nur abgewetzt und irgendwie speckig, sondern auch locker. Entweder wurde die Waffe noch öfter benutzt, als die Uniform getragen wurde, oder der Mann pflegte sie nicht ordentlich.
Jonas blieb jedoch nicht wegen der Exklusivität seines Designs mit den Augen regelrecht an dem Schwert hängen, bis er an dem Wachposten vorbeigegangen war, sondern weil es eben ein Schwert war.
Sein Kampfsportlehrer hatte einmal erklärt, dass Messer eine viel größere Gefahr ausstrahlten als Pistolen und damit auch einschüchternder wirkten, denn etwas Scharfes implizierte unterbewusst eine ungleich höhere Verletzungsgefahr als ein abgerundetes Projektil, das man nicht einmal dann sehen konnte, wenn es auf einen zuflog. Darüber hinaus wusste jeder, wie sich ein Schnitt anfühlte, sei er auch noch so klein, doch wie oft wurde man angeschossen oder bekam eine Pistole nur wahrhaftig zu Gesicht.
Jonas hatte das zweifelhafte Glück, nun beides erlebt zu haben, und konnte diese Theorie nicht unbedingt bestätigen. Er hatte sich beide Male ohne Zögern zum Ziel gemacht, und beide Male war er lebensgefährlich verletzt worden. Vielleicht hätte es anders ausgesehen, wäre es um ihn allein gegangen, aber so konnte er für sich keinen Unterschied zwischen dem Gefahrenpotential einer Klinge und dem einer Schusswaffe feststellen.
Das war nicht der Grund für seinen langen Blick, auch nicht schlicht die Tatsache, dass das Schwert ihm wie das Sinnbild dafür stand, dass er sich in einer anderen Welt befand, in Eden, oder dass er das noch gar nicht wirklich begriff, sondern ein absolut widersinniges Gefühl der Vertrautheit. Nicht als alltäglicher, normaler Anblick, nein, als innere … Verbindung. Es war fast wie im Park, als er Js Schwertgriff umschlossen gehalten hatte.
Der Mann bewegte sich und drehte sich ihm ruppig ein Stück zu, so dass Jonas ihn noch einmal direkt ansah, bevor er sich selbst zur Seite umwandte. Er hatte seinen doch ausführlichen Blick auf das Schwert wohl ganz anders verstanden.
Jonas lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Suzann und beeilte sich, ihr den Gang entlang, nach rechts um drei, vier Ecken, durch eine Halle und weitere zwei Abbiegungen in eine Art Waschküche zu folgen. Er blieb vor der Tür stehen und nutzte die Gelegenheit, um erneut zu jonglieren und aus dem Becher zu trinken.
Suzann warf das Bettzeug auf einen der unordentlichen Wäschestapel, fischte ein paar Kleidungsstücke aus einem der vier großen, Wasser gefüllten Holzzuber und warf sie in einen anderen, um sie mit einem langen Stab einmal darin herumzuwalgen.
Sie drehte sich zu ihm um, machte einen Fingerzeig, als hätte sie beinahe etwas vergessen und sein Anblick das verhindert, und verschwand aus seinem Blickfeld in eine Ecke. Jonas hörte sie etwas herumschieben – anscheinend suchte sie etwas Bestimmtes –, dann tauchte sie unmittelbar an der Tür wieder auf und drückte ihm ein Paar Schuhe in die Hand, dass er beinahe alles fallen ließ.
»Na los, du kommst zu spät«, meinte sie und schob ihn ungeduldig herum, bevor er sich die klobigen Teile näher besehen konnte.
»Zu spät wofür?«, wollte er wissen, doch Suzann drängte ihn nur weiter, trat nach ein paar Schritten an ihm vorbei und eilte wie zuvor voraus. Jonas schnaubte unzufrieden und folgte ihr wohl oder übel erneut.
Sie führte ihn durch den halben Palast und zwar die Hälfte, die er nicht erkundet hatte, denn nichts kam ihm auch nur im Ansatz bekannt vor. Als sie einen zum idyllischen Garten gestalteten Innenhof von der Größe eines Fußballfeldes durchquerten, der zu zwei Dritteln in voller Morgensonne lag, fielen ihm wieder die angenehmen Temperaturen auf, und er sah in den Himmel hinauf – Erde oder Eden, Himmel oder nicht, es erstreckte sich dasselbe klare Blau eines wolkenlosen, sonnigen Tages über ihm.
»Starr keine Löcher in die Luft, komm weiter«, forderte Suzann ihn auf und blickte leicht genervt zu ihm zurück. Der Garten grenzte mit einer Querseite an eine sicherlich zehn Meter hohe Mauer, an der eine steile Treppe seitlich hinaufführte. Suzann hatte bereits die ersten Stufen erklommen und machte nun Anstalten, sie wieder herunterzukommen, um sicherlich an ihm zu ziehen.
»Es ist so warm«, wunderte Jonas sich und blieb entgegen ihrer Ungeduld ganz stehen.
»Natürlich ist es warm«, antwortete Suzann und verzog das Gesicht, als wollte sie die Augen verdrehen, tat es aber nicht. »Der Sommer kommt.«
»Sommer?«, wiederholte Jonas irritiert und sah sie schief an. »Verlaufen die Jahreszeiten in Eden anders?«
Suzann zog die Lippen breit, blieb auf der untersten Stufe stehen und stemmte eine Hand in die Hüfte. Mit einem milden, nachsichtigen Ausdruck legte sie den Kopf schräg.
»Ein wenig«, sagte sie jedoch nur. »Eden ist eine Scheibe, weißt du.« Sie grinste frech.
Jonas schenkte ihr einen unzufriedenen, säuerlichen Blick, biss vom Apfel ab und kaute unnötig kräftig, während Suzann ihn noch einen Moment amüsiert musterte und dann zügig die Stufen wieder nach oben stieg. Er erklomm seinerseits die Treppe, in leichtem Laufschritt und mit aufmerksamer Wahrnehmung seines Körpers, wie Muskeln und auch Kreislauf auf die Beanspruchung reagierten. Das Ergebnis, als er oben auf der Mauer ankam, war gar nicht einmal so schlecht, auch wenn er kurz davor war, lautstark und ungleichmäßig zu schnaufen.
Die Mauer war viel breiter, als er erwartet hatte, mindestens drei Meter, und wies auf der anderen Seite eine hohe Brüstung auf. Lärm drang zu ihm, bei dessen Lautstärke es ihn wunderte, dass er ihn nicht schon unterhalb der Treppe vernommen hatte, und der unverhohlene Neugier in ihm weckte.
Er hörte jede Menge dumpfe Geräusche, die im Einzelnen unmöglich zu identifizieren waren, und ein Durcheinander an zahllosen Stimmen, aus dem hier und da unartikulierte Laute der Anstrengung oder des Schmerzes und häufig ein befehlendes Brüllen herausdrangen, das jedoch nicht deutlich genug war, als dass er die Worte hätte verstehen können.
Gespannt trat Jonas an die Brüstung und stockte nicht nur verblüfft mitten im Schritt, sondern hätte beinahe mit offenem Mund dämlich geglotzt.