Читать книгу Die Grauen Krieger - S. N. Stone - Страница 6
2. Dienstag
ОглавлениеNatascha war erst spät eingeschlafen, jetzt war sie todmüde. Die Bilder in ihrem Kopf hatten sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Die geschundenen Körper, die zerschlagenen Gesichter und dann die Frau in der Wohnung, life, in echt, nicht nur auf einem Bild, sondern zum Greifen nahe.
Sie war nicht die erste Leiche, die sie gesehen hatte. Als die „Kunstmörder“ ihr Unwesen getrieben hatten, hatte sie schon einmal in den Abgrund des Todes geschaut mit all seinen dreckigen Einzelheiten, aber diese Frau ließ sie nicht los. Diese brutale und willkürliche Gewalt hatte sie erschüttert. Und auch Calebs Reaktion.
Tascha saß wieder an Toms Schreibtisch, hatte einen Kaffeebecher in der Hand und die Fotos der Opfer vor sich ausgebreitet um sie einfach anzustarren. Vielleicht wurde das Grauen weniger schlimm, wenn sie nur lange genug darauf schaute. Sie hatte sich eigentlich geschworen nie wieder mit so etwas tun haben zu wollen. Sie war nur eine Beraterin und hatte genug erlebt und bis jetzt hatte ihr Vorsatz auch funktioniert, aber das Auftauchen von Cale hatte alles kaputtgemacht. Sie hatte sich verändert und er war an dieser Veränderung schuld. Aber hatte sie sich zu ihrem Nachteil verändert? Natascha hatte versucht sich das einzureden.
Als sie nach Berlin gekommen war, war sie eine junge erfolgreiche, aber farblose Person gewesen. Sie hatte nur für ihre Arbeit gelebt und war irgendwie einsam gewesen. Obwohl sie ziemlich jung war, hatte sie eine Menge erreicht, sich durch ihre harte Arbeit einen Namen gemacht. Spaß und Liebe waren auf der Strecke geblieben. Sie schaute ihr blasses Spiegelbild in dem schwarzen Computermonitor auf dem Tisch an. Sie hatte sich nach den Vorfällen optisch verändert, die Haare waren kürzer und hatten einen modernen Schnitt. Sie schminkte sich jetzt regelmäßig, nicht zu viel, aber es unterstrich ihr feines Gesicht. Sie trug nicht mehr nur die weiten Pullover und die praktischen Jeans mit Turnschuhen, sondern wagte es auch mal figurbetonte Sachen anzuziehen. Erlauben konnte sie es sich, sie war klein und zierlich. Natascha war irgendwie selbstsicherer geworden, hatte die Naivität und Unsicherheit nahezu abgelegt, nahezu weil sie doch immer wieder mal durchkam. Aber vor allem hatte sie ihre große Liebe Tom gefunden. War also alles vielleicht gut gewesen? Nein! Er hatte sie benutzt, sie manipuliert, ihr etwas vorgespielt und sie dann fallen lassen. Sie hasste ihn!
Nataschas Nackenhaare stellten sich auf und sie blickte vom Monitor hoch, Caleb stand mit verschränkten Armen am Tisch. Tascha schluckte. „Wie lange stehst du schon hier?“ Er war lautlos gewesen, wie ein Geist und ihr wurde bewusst, wie unheimlich er war. Sie stand auf.
„Ein paar Minuten“, antwortete er.
Er war so arrogant! Damals, hatte sie ihn da auch schon als so arrogant und kalt empfunden?
„Ich denke es wäre gut, wenn du mich begleitest.“
Natascha war verwirrt. „Wohin?“
„Ich habe ja schon gesagt, wir sind nicht mehr viele und es gibt auch nur noch acht Bewahrer. Ich werde mich mit einigen von ihnen treffen, willst du mit?“
Sie schaute sich um. „Wo ist dein Kollege?“
„Der hat etwas zu erledigen. Was ist nun?“ Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken noch mehr solcher Wesen zu begegnen, trotzdem würde sie mitgehen, das war klar.
Caleb fühlte sich furchtbar. Er litt erschreckenderweise unter dem tot von Sarah. Ihre Beziehung zueinander war nicht einfach gewesen. Er hatte in der vergangenen Nacht überlegt, ob er sie geliebt hatte, für ihn war diese Frage nicht so leicht zu beantworten. Gefühle waren für ihn schwer zu definieren. Darla hatte er geliebt, die Frau, die er einst geheiratet hatte und die durch die Hand ihrer eigenen Familie getötet worden war und auch Magda, die er so schwer enttäuscht hatte. Danach war er zu der Erkenntnis gekommen, dass es leichter war, sich nicht mehr mit solchen Dingen zu beschäftigen. Er konnte Gefühle ein- und ausblenden, meist ließ er sie einfach nicht zu.
Es war seltsam gewesen auf Natascha zu treffen, obwohl er gewusst hatte, dass er ihr hier begegnen würde. Da er spüren konnte, was sie fühlte und in ihre Seele schauen konnte, wusste er genau wie sehr sie ihn hasste. Gleichzeitig war da noch etwas … Menschen, er würde sie nie verstehen, aber umso leichter war es, sie zu beeinflussen und zu manipulieren.
Er spürte, dass sie enttäuscht war, dass Kean nicht mit ihnen fahren würde. Sie hatte Angst ganz alleine mit ihm zu sein. Aber Kean hatte etwas Wichtiges zu erledigen. Er hatte eine menschliche Freundin in der Stadt, von der nur Cale etwas wusste. Nach der Ermordung von Sarah hatte er Angst um sie. Er wollte dafür sorgen, dass sie irgendwo hin fuhr wo sie hoffentlich in Sicherheit war, weit weg von ihm. Feste Beziehungen zu Menschen, feste Beziehungen überhaupt, waren nicht gut für einen Bewahrer, sie machten ihn angreifbar.
Das Treffen der Bewahrer fand in einer Autolackiererei auf einem Weddinger Hinterhof statt. Drei von ihnen warteten dort auf ihre Ankunft. Den einen kannte Natascha, Damian, er war der Besitzer des Raven, ein Club in den Cale sie einmal mitgenommen hatte. Ein älterer Mann, er stellte sich ihr als Jakob vor, machte sie mit den anderen beiden bekannt.
„Frau Schiernow nun lernen wir uns kennen. Sie müssen verstehen, dass diese Situation nicht einfach für uns ist. Normalerweise ist es unser oberstes Gebot unsere Existenz und Identität geheim zu halten, aber die Vorfälle zwingen uns dazu, die Hilfe der Menschen in Anspruch zu nehmen. Wie Sie vielleicht schon erfahren haben, gibt es nicht mehr allzu viele von uns Grauen Kriegern und irgendjemand ist dabei, die Anzahl weiter zu dezimieren. Da ihre Polizei in die Sache hineingeraten ist, hielten wir es für nötig in Kontakt mit ihnen zu treten, und da Sie von uns wissen und“, er schaute zu Caleb, „noch am Leben sind, obwohl Sie in unsere Welt eingedrungen sind, schien es sinnvoll Sie als Kontaktperson zu wählen.“
Natascha war sehr wohl bewusst, dass sie es nur Caleb zu verdanken hatte, dass sie noch nicht tot war, nachdem sie von der Existenz der Anderen Wesen erfahren hatte und sich so sehr eingemischt hatte.
„Uns als Bewahrer obliegt es die Krieger zu schützen und es gestaltet sich als sehr schwierig. Derjenige oder diejenigen ...“ Jakob hielt inne und wenige Sekunden danach ging die Tür zu der Werkstatt auf und eine weitere Person kam herein. Natascha kannte auch diesen Mann, es war Nathan, Calebs Freund. Er sah heruntergekommen aus, unrasiert, ungekämmt und auch die katholische Priesterkleidung änderte nichts an seinem ungepflegten Erscheinungsbild. Ein Hauch von Alkohol wehte ihr entgegen, als der Mann an ihr vorbeiging und sich neben die anderen stellte. Jakob sprach weiter: „Nun, derjenige oder diejenigen die die Grauen Krieger abschlachten müssen sehr mächtig sein. Sie sind in der Lage uns Andere Wesen trotz unserer Fähigkeiten zu ermorden. Es scheint so, als würden sie auch nicht vor uns Bewahrern haltmachen. Ich denke der tot von Sarah“, Nathan atmete hörbar laut aus, „war ein Kollateralschaden, sie war dort, wo eigentlich einer von uns hätte sein sollen.“
„Das hat mir Caleb bereits erzählt.“ In ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme dünn und schwach, sie fühlte sich nicht wohl.
Jakob nickte. „Sie wissen eine ganze Menge, mehr als die meisten Menschen in diesen Zeiten und Sie werden sicher noch mehr erfahre. Ich bitte Sie, versuchen Sie zu verstehen, was wir sind und was wir tun. Helfen Sie uns, damit wird auch ihnen geholfen. Unsere Aufgabe ist auch für die Menschheit von großer Bedeutung. Gibt es uns nicht mehr, wird ein dunkles Zeitalter hereinbrechen. Und bitte schweigen Sie so wie Sie es bisher getan haben. Die meisten von uns Leben ein ganz normales Leben. Einige tun es nicht und diese unter Kontrolle zu halten ist unsere Aufgabe.“
„Ich habe bisher nichts gesagt und werde bemüht sein es weiterhin nicht zu tun.“ Plötzlich war die Angst verschwunden. Natascha konnte nicht sagen wieso, aber dieser Mann, der vor ihr stand und sie durch die dicken Brillengläser anschaute, hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Jakob nickte. „Wir kommen nicht mehr so häufig zusammen, es ist zu gefährlich. Halten Sie sich an Gabriel“, er schaute zu Caleb herüber, „er wird auf Sie aufpassen und helfen Sie uns als Mittlerin.“ Natascha nickte.
Das Treffen war bald beendet. Die Bewahrer hatten keine Spur, es war, als würde eine undurchdringliche Mauer von diesen Mördern ausgehen. Tascha rief sich ins Gedächtnis, dass auch die Bewahrer und die Grauen Krieger erbarmungslose Mörder waren. Auch, wenn es dafür einen guten Grund gab, so war das alles doch sehr beängstigend für sie.
„Wer ist Gabriel?“ Caleb und Natascha liefen gerade über den Hof.
„Ich, es ist einer meiner alten Namen und Jakob kennt mich, seit dem ich Gabriel war, darum benutzt er ihn manchmal.“
Sie liefen schweigend ein paar Schritte. „Wie viele Namen hattest du? “
„Drei.“
Bedeutete das, dass er dreimal gestorben war?
„Nein!“
Die Antwort überraschte sie, sie hatte ihren Gedanken nicht ausgesprochen. „Hör auf damit! Wie machst du das? Ich dachte, du könntest nur Gefühle von anderen empfinden.“
„Kann ich auch nur, aber Gefühle sind beinahe genauso verräterisch wie Gedanken.“
Natascha musste schlucken, das konnte ja heiter werden.
Nathan, der nach ihnen die Lackiererei verlassen hatte, hatte sie nun eingeholt und drängelte sich vorbei. Er rempelte Caleb absichtlich und äußerst unsanft an.
„Du hast sie auf dem Gewissen, das werde ich dir nie verzeihen!“, zischte er Cale hasserfüllt im Vorbeigehen zu. Natascha schaute zu Caleb, der stehen geblieben war.
„Meinst du es war meine Absicht, dass ihr etwas passiert?“, rief er Nathan hinterher.
„Du hast versprochen auf sie aufzupassen und du hast es nicht getan.“ Nathan hatte sich zu ihnen umgedreht und war nun auch stehen geblieben. „Und sie ist gerade vierundzwanzig Stunden tot, da hast du schon die nächste Schlampe an deiner Seite.“
Nathans Stimme war laut geworden und die Worte trieben Natascha die Röte ins Gesicht, hatte er sie eben wirklich Schlampe genannt? Bevor sie etwas dazu sagen konnte, sprach der Priester weiter: „Was hatte sie hier eigentlich zu suchen? “
„Nenn sie nie wieder Schlampe!“ Caleb war wütend, seine Stimme kalt wie Eis. Im Bruchteil eines Augenblicks stand Nathan so dicht vor Tascha, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten, sie merkte, wie ihr schlecht wurde vor Angst.
„Nimm dich in acht vor ihm, er bringt den Tod!“ Er wandte sich Caleb zu. „Du hast es nicht verloren, weißt du? Es steckt immer noch in dir drin. All die unendlich lange Zeit hast du es nie verloren! Das Böse steckt in deiner Seele und es ist dir bewusst. Du kannst es leugnen, aber du weißt es. Du versuchst es nur zu verbergen, aber es wird dir immer schwerer fallen. Du bist ein Heuchler, du spielst allen nur etwas vor. Du hast dich nicht geändert, im Gegenteil, in dir ist die Finsternis. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Richard vielleicht gar nicht so unrecht getan hat, als er versuchte deine wahre Natur zu unterdrücken? Er weiß, was du bist. Ich hätte dir niemals helfen sollen! Ich habe sie geliebt, verstehst du? Ich habe sie geliebt und du hast sie mir weggenommen und du hast nicht auf sie aufgepasst.“
„Ich habe sie dir nicht weggenommen, sie gehörte niemandem, schon gar nicht mir!“
Nathan und ihn hatte in diesem Leben nicht so eine tiefe Freundschaft verbunden wie in den Vorherigen, das hatte er im Laufe der Zeit eingesehen. Auch war Sarah immer ein Punkt gewesen, der ihre Freundschaft auf die Probe gestellt hatte, aber, dass Nath so dachte, hatte er nicht vermutet.
„Du bist genauso wie ich Nath!“
„Nein, das bin ich nicht. Das was wir einmal gemeinsam hatten habe ich schon lange nicht mehr. Ich habe etwas gefunden, das mir Frieden gibt, den Glauben. Meinen Drang zu töten und schlecht zu sein den habe ich nicht mehr, ich habe Frieden in mir!“
Calebs Augen funkelten bedrohlich. „Du kannst glauben an was du willst, aber du solltest nie vergessen was sie uns angetan haben und du solltest nie vergessen, dass du ein Grauer Krieger bist, ein Bewahrer und, dass du in unserem Team mitspielst. Vergiss nie wer du warst!“
Der Priester baute sich vor ihm auf und nahm eine Drohgebärde ein. Er kniff seine Augen zusammen und sprach langsam und deutlich: „Unterstelle mir niemals wieder ich würde nicht wissen, wo ich hingehöre das weiß ich sehr genau. Ich weiß aber auch, dass ich weder zu der einen noch zu der anderen Seite zu gehören habe. Ich bin neutral und schütze die Wesen der Hellen und der Dunklen Seite. Ich richte ohne Vorurteile und schütze damit die Menschen.“
Auf Calebs Lippen lag ein spöttisches Lächeln, als er antwortete: „Hörst du dir eigentlich selber zu? Hörst du eigentlich, was du für Scheiße von dir gibst? Trink noch einen, Mann Gottes, oder vögle die nächste Hure, die dir über den Weg läuft, damit stellst du deinen Glauben unter Beweis. Du bist der Heuchler von uns beiden!“
Nathan schlug zu, schnell, hart, voll Wut und Zorn und Caleb taumelte ein Stück zurück. Natascha hatte das Gefühl, es sei innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde geschehen. Sie hatte es fast nicht wahrnehmen können, hatte nur eine Bewegung gesehen und nun Calebs blutende Lippe. Zu ihrer Verwunderung schlug er nicht zurück, sondern ließ Nathan einfach gehen.
„Komm!“, sagte Cale und zog sie mit sich Richtung Auto. Mit dem Ärmel seines Shirts wischte er sich das Blut ab.
„Das lässt du dir einfach so gefallen?“ Natascha war erstaunt.
Caleb zuckte mit den Schultern. „Er ist verletzt und traurig.“
Sie deutete auf seine Lippe. „Und das da?“
„Ist nachher verheilt.“
„Ich hätte ihm …“
„Was? Auch eine gedonnert?“
Sie nickte.
„Wir sind ähnlich stark, es würde nichts bringen. Das ist es nicht wert. Ich habe damit abgeschlossen. Er war einmal mein bester Freund.“
Caleb hätte nicht einmal mehr sagen können, ob es eine Frau oder ein Mann gewesen war, der oder die an ihm vorbeigegangen war, er wusste nur, dass er es gefühlt hatte. Nathan würde sterben und dieser jemand würde dafür verantwortlich sein. Er sah, dass Nathan gerade an seinem Auto angekommen war, und lief los, ließ Natascha stehen und rannte. Er rief nach Nath, aber der wollte oder konnte ihn nicht hören und als Cale ihn beinahe erreicht hatte, öffnete der Priester seine Wagentür.
Die Explosion war nicht groß, reichte aber aus Nathans Körper zu zerfetzen. Caleb stand da und starrte auf das, was noch von seinem Freund übrig war, als Natascha bei ihm angekommen war.
Er bewegte sich nicht. Es schien, als würde er nicht einmal atmen. Sie sah ihn an, sein Blick war starr auf das grausige Bild gerichtet und auf seinem Gesicht stand der Schock geschrieben. An ihm klebte das Blut des Priesters und noch irgendetwas, von dem sie gar nicht so genau wissen wollte, was es war.
„Cale?“ Er reagierte nicht, er tat ihr leid.
Caleb erwachte aus seiner Starre. Er stöhnte leise auf und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, diesmal nicht sein eigenes.
„Wir sollten verschwinden!“, flüsterte er und griff sie am Ärmel ihrer Jacke. Sie folgte ihm, einfach so. Auf dem Weg zu seinem Wagen fand sie ihre Worte wieder.
„Wir hätten die Polizei rufen müssen.“ Er lief zügig und es war schwer für sie Schritt zu halten, Natascha war außer Atem.
„Nein!“ Er schüttelte den Kopf. Am Wagen zog er die Schlüssel aus seiner Hosentasche, sie sah, wie seine Hand zitterte.
„Ich werde fahren!“
Er schaute sie an. „Du?“
Natascha nickte.
„Aber-“
„Ich habe einen Führerschein, ich fahre nur nicht so gerne.“
Caleb reichte ihr ohne ein weiteres Wort den Autoschlüssel und ging auf die Beifahrerseite, die fehlende Gegenwehr zu ihrem Vorschlag zeigte ihr wie entsetzt er sein musste. Aus der Ferne waren Polizei- und Feuerwehrsirenen zu hören. Sie fuhren los.
„Wo soll ich dich hinfahren?“ Er musste duschen und sich neue Klamotten anziehen, dann mussten sie überlegen, was sie tun sollten.
„Keine Ahnung.“
„Wie keine Ahnung?“ Sie verstand nicht.
„Ich weiß es nicht, es gibt keinen Ort, wo ich hin kann.“
„Aber du musst doch irgendwo geschlafen haben heute Nacht?“
Er nickte und schaute auf die Straße.
„Wo?“
„Im Auto.“
Oh Gott! „Im Auto?“
Wieder nickte er.
„Aber ich dachte ihr hättet so etwas wie einen Unterschlupf, oder Verbündete oder so.“
„Vieles hat sich geändert, einen Unterschlupf haben wir nicht mehr, seit ihr die Fabrik gestürmt habt. Eigentlich hätte ich in dieser Wohnung übernachtete, aber …“ Er ließ den Satz unvollendet. „Und was ist mit deinem Bruder und Mia?“
Er schaute zu ihr herüber, und obwohl sie sich angestrengt auf den Straßenverkehr konzentrierte, blickte sie ihm kurz in die Augen. Sie glaubte Schmerz in ihnen zu sehen, dann sprach er leise: „Nach dem was mit Sarah geschehen ist kann ich nicht verantworten sie und die Kinder in Gefahr zu bringen. Wenn er mich jagt und vor Sarah keinen Halt macht, was macht er dann mit meiner Familie?“
Natascha bog ab und fuhr die Straße des 17. Junis in Richtung Großen Stern.
„Und die Kirche? Sorgt die denn nicht dafür, dass ihr irgendwo unterkommen könnt? Ein Hotelzimmer zum Beispiel?“ Caleb schüttelte den Kopf. Tascha wusste auch, dass er selbst nur wenig Geld zur Verfügung hatte.
„Zu mir, wir fahren zu mir, Tom kommt erst morgen zurück. Du kannst duschen und dich umziehen und dann schläfst du bei mir und wir gehen zur Polizei. Morgen erzählen wir Schmidt, was geschehen ist.“ Bevor er protestieren konnte, parkte sie vor ihrem Wohnhaus ein und stieg aus dem Wagen aus. Er folgte ihr und nahm aus dem Kofferraum einen Seesack und einen länglichen Gegenstand, Natascha erkannte in ihm ein Schwert in einer Rückenscheide. Sie dachte daran, wie er mit dieser Waffe Menschen getötet hatte.
Caleb war ins Bad gegangen und Natascha war dabei eine Kleinigkeit zu Essen zuzubereiten, Salat und Rinderfilet, ein bisschen Baguette. Sie hatte seit heute Morgen nichts mehr gegessen und jetzt war es bereits 18 Uhr. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie war mit dem Mann in ihrer Wohnung zusammen, den sie einst so sehr geliebt hatte und den sie nun so sehr hasste. Es war, als wäre er ein anderer Mensch als damals.
O.K, er war kein Mensch, aber nichts schien ihn daran zu erinnern, dass sie miteinander gelacht hatten, das Bett geteilt hatten und ein Paar gewesen waren. Obwohl sie ihn für das abgrundtief verachtete, was er getan hatte, fühlte sie sich mit ihm verbunden und es war ihr selbstverständlich erschienen ihn mit hierher zu nehmen, in die Wohnung die sie sich mit Tom teilte.
Penny, ihre Katze, streift um ihre Beine und miaute. Sie gab ihr Futter und neues Wasser und goss sich ein Glas Orangensaft ein. Plötzlich zerbarsten sämtliche Fensterscheiben, die Glastür die zur Terrasse führte, die Spiegel, die Gläser, Vasen und Tassen, das Geschirr, einfach alles in Millionen von Teilen mit einem ohrenbetäubenden Lärm. Natascha warf sich instinktiv zu Boden und suchte Schutz hinter dem Tresen, der die Küche vom Wohnraum trennte. Dann herrschte absolute Stille. Vorsichtig lugte sie hervor und sah Caleb, die Haare noch nass, nur in Hose, das Schwert in der Hand, die Schusswaffe im Holster, herbeigerannt kommen.
„Komm zu mir!“, schrie er.
Bevor sie lange überlegen konnte, gab sie ihre Deckung auf und rannte in den kleinen Flur, wo er sich eilig die Schuhe anzog und ein Shirt aus seinem Seesack riss. Ein leises Summen setzte ein. Es wurde lauter und lauter, Tascha hielt sich die Ohren zu, sie hatte Angst. Caleb fasste sich an den Kopf, verzog schmerzverzerrt das Gesicht und stöhnte auf. Dann packte er sie und zog sie mit sich. Aus dem Augenwinkel sah sie Gestalten durch ihre Wohnung streifen, Gänsehaut! Caleb schnappte sich die Autoschlüssel, die auf einer Kommode lagen, riss die Wohnungstür auf und schleifte Natascha hinter sich her. Sie rannten die Treppe hinunter und er stieß sie ins Auto. Er schmiss seinen Pullover hinterher und rannte zur Fahrerseite um den Wagen zu starten und davonzurasen. Nataschas Herz pochte wie wild. Sie zitterte am ganzen Körper. Penny! Sie war noch in der Wohnung! Tränen liefen ihr über die Wangen, sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie weinte, ihre Wohnung!
Caleb fuhr ein paar Straßen weiter rechts ran und schaltete den Wagen aus. Er ließ seine Hände am Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe hinaus.
„Du kannst nicht bei mir bleiben!“
„Und ob ich das kann!“ Wo sollte sie sonst hin?
„Nein ich bringe dich jetzt zur Polizei und verschwinde. Wir werden die Sache alleine Regeln, es ist zu gefährlich!“
Mit einem Mal war Natascha ganz gefasst und ruhig. „Was war das?“, fragte sie.
Er überlegte und antwortete dann: „Ich weiß es nicht. Ich habe eine Ahnung, aber ich bin mir nicht sicher. Wenn meine Annahme zutrifft, dann wird es nicht leicht werden das zu überleben.“
Natascha schluckte.
„So“, er startete den Wagen wieder, „ich fahre dich jetzt-“
„Nein!“ fiel sie ihm ins Wort, „Du wirst mich gar nichts! Ich bleibe bei dir!“
Er drehte sich zu ihr herüber, „Sicher nicht!“, funkelte er sie kalt an.
„Sicher doch!“, äffte sie ihn nach. „Glaubst du allen Ernstes du kannst wieder in mein Leben treten, es durcheinanderbringen, mich beinahe umbringen lassen, nur um mich dann beiseitezuschieben und so zu tun, als wäre das alles nicht passiert? Oh nein mein Freund, keine Chance! Du hast mich da reingeritten und ich bleibe bei dir, bis die Sache gegessen ist.“
Er starrte sie an und Natascha war selber über sich erstaunt.
„Außerdem“, stotterte sie nun los, „außerdem habe ich viele Fragen an dich, die ich beantwortet haben möchte und du bist es mir einfach schuldig!“
Er lachte auf. „Ich bin was? Es dir schuldig? Nichts bin ich dir schuldig!“
„Doch das bist du, ich habe dich damals gehen lassen.“
„Glaubst du ehrlich ich hätte mich festnehmen lassen? Du hast nicht auch nur die geringste Ahnung wer ich bin!“
„Das will ich raus finden.“
„Nein!“ Er fuhr den Wagen aus der Einfahrt, in die er sich gestellt hatte.
„Du nimmst mich mit, basta! Ich lasse mich nicht noch einmal so von dir abservieren!“ Sie lenkte ein, ihr Ton wurde weicher.
„Nur du kannst auf mich aufpassen.“
„Wenn ich nicht bei dir bin, bist du nicht in Gefahr, sie wollen mich.“
„Sie haben sich auch Sarah geholt.“
„Weil ich hätte da sein sollen.“ Es klang bitter.
„Caleb bitte, du hast mich da rein gezogen, ich werde dich verraten, wenn du mich nicht bei dir bleiben lässt!“
„Dann werde ich dich töten!“ Kälte!
Natascha schluckte den Klos herunter, der in ihrem Hals steckte, nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte. „Nein, das wirst du nicht. Wenn du das wolltest, hättest du es schon längst getan.“
Sie hatte recht, er würde sie nicht töten. Warum konnte er nicht sagen, er konnte es einfach nicht und er würde sie mit sich nehmen, auch das wusste er. Sie war so besessen davon, genauso wie damals, als sie nicht aufgehört hatte ihm und seinesgleichen nachzuspionieren und letztendlich hinter sein Geheimnis gekommen war.
„Wo wollen wir jetzt hin? “
„Weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit einer kirchlichen Einrichtung, einem Kloster oder so?“
Er schnaufte verächtlich. „Selbst wenn ich mich in die Obhut der Kirche begeben würde, wir sind da nicht so gerne gesehen“, sagte er sarkastisch.
„Aber die Kirche hat Euch doch geschickt, dann wird sie doch auch dafür sorgen, dass ihr irgendwie versorgt werdet, wenn ihr Hilfe braucht.“
„Die Kirche wird nicht helfen.“
„Weil sie euch nämlich nicht geschickt hat, hab ich recht?“
Sie fuhren ohne Ziel durch die Straßen Berlins.
„Wir haben eine Vereinbarung, wenn sie uns brauchen, stehen wir ihnen zur Verfügung, ansonsten lassen sie uns in Ruhe und wir sie. Es gibt einen Kardinal der, frag mich nicht wieso, auf unserer Seite steht und der hat den Kontakt zu eurer Kripo aufgenommen, um uns einzuschleusen.“
Auf Seiten der Kirche hatte es viele Verluste gegeben, aber nicht mehr lange und die Grauen Krieger wären vernichtet worden, sie waren am Ende gewesen. Holster hatte sich für sie eingesetzt, hatte dafür gesorgt, dass die Kämpfe beendet wurden. Ab und zu „arbeiteten“ sie für den Vatikan, aber das waren Ausnahmen.
Caleb bog ab und verließ das Zentrum Berlins.
„Wo willst du hin?“, fragte Natascha.
„Zur Fabrik.“
„Aber da ist nichts mehr.“
„Ich weiß.“ Einst war die Fabrik ihr Domizil gewesen, ihr Anlaufpunkt in Berlin. Hier hatten sie die sieben Heiligtümer hingebracht, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Natascha dafür gesorgt hatte, dass das Gebäude durch Einsatzkräfte des SEK gestürmt wurde. Danach waren sie nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Sie hatten alles zurückgelassen oder vernichtet. Die Heiligtümer waren an einen anderen, geheimen Platz gebracht worden. Sie hatten sich seit dem nicht wieder länger an einem Ort aufgehalten und auch nicht länger in Gruppen irgendwo niedergelassen.
Als sie auf das alte Gebäude zufuhren, durch das Eisentor das nun schief in den Angeln hing, sah alles noch schlimmer aus, als Caleb es sich vorgestellt hatte. Große Teile des Hauses waren stark beschädigt worden.
Als sie in die Halle traten, wurde der Eindruck nicht besser. Caleb zog sich endlich sein Shirt über und schnallte sein Schwert auf den Rücken. Sie gingen durch die Räume, Natascha blieb einen Schritt hinter ihm. Es war spät, und obwohl der Frühling Einzug hielt, waren die Tage noch recht kurz, es begann zu dämmern. Beim Laufen knirschten Glassplitter unter Cales Schuhen. Das Oberlicht war ursprünglich mit einer Glaskuppel versehen gewesen, das SEK hatte sie gesprengt, um sich Zutritt zu verschaffen. Regen, Wind und Schnee der vergangenen anderthalb Jahre hatten ihr übriges zum Verfall des Hauses beigetragen, Dreck, Nässe und Unrat lagen überall.
Caleb ging durch eine weitere Halle, die sie als Kampfübungsplatz genutzt hatten in den hinteren Bereich, vorbei an dem Zimmer in dem Jakob sie zusammengeflickt und verarztet hatte, wenn es nötig gewesen war. Sie erreichten eine Treppe, die in die nächste Etage führte. Hier waren früher Räume gewesen, in denen sie übernachten konnten, vielleicht war eines der Zimmer noch bewohnbar.
„Warte kurz!“ Caleb verschwand in einem Raum und tauchte Sekunden später wieder auf. „Hier, leider nur eine, aber die reicht.“
Er gab Natascha eine Taschenlampe. „Danke, und was ist mit dir?“
„Ich komme klar.“
Sie schaltete die Lampe ein und streifte mit dem Lichtschein sein Gesicht. Seine Augen hatten sich verändert, sie schienen zu glühen. Seine Sinne waren schärfer als die eines Menschen. Sie gingen weiter und Cale schaute in jeden Raum. Natascha blieb ein wenig zurück, und als er eine der Türen schloss, sagte er: „Du solltest in meiner Nähe bleiben, wäre besser für dich.“
Sie nickte und rückte zu ihm auf. Endlich waren sie fündig geworden. In diesem Zimmer roch die Luft abgestanden, aber die Fenster waren noch heil und Caleb öffnete eins, um die Abendluft hereinzulassen. Eine Matratze stand hochkant an der Wand, eine weitere lag auf dem Boden. Caleb holte ein paar Decken aus einem Schrank.
„Gegenüber sind die Waschräume und Toiletten, wenn du dich frisch machen möchtest, aber lass die Türen auf, sodass ich dich hören kann.“
Sie nickte und ging hinaus.
Natascha legte die Taschenlampe auf eine Ablage unter dem zersplitterten Spiegel und dachte an ihre Wohnung und das, was dort geschehen war, aber was war geschehen? Sie drehte die Wasserhähne auf. Eine braune Suppe kam heraus. Sie ließ das Wasser laufen, bis es klar wurde. Es war eiskalt, kein Strom, kein warmes Wasser. Als sie sich das Gesicht wusch, merkte sie wie ihre Hände zitterten. Sie starrte sie an, sie hatte auf dem Rücken der linken Hand einen Schnitt, den sie bisher nicht bemerkt hatte. Tascha wusch sich das verkrustete Blut ab und trocknete sich an ihrem Pullover Hände und Gesicht, dann starrte sie ihr verzerrtes Spiegelbild an und atmete tief durch.
Caleb hatte Kerzen angezündet. Wo er die gefunden hatte, war ihr schleierhaft, aber dann vergegenwärtigte sie sich, dass er hier wohl eine Menge Zeit verbracht hatte und sich gut auskannte. Vieles war noch dort, wo die Grauen Krieger es zurückgelassen hatten. Er lag quer auf einer der Matratzen und schlief. Natascha schob ihn ein Stück weiter rauf. Sie überlegte, ob sie ihm die Schuhe ausziehen sollte, ließ es dann aber bleiben und deckte ihn zu. Sie schloss das Fenster und löschte die Kerzen, zwei ließ sie jedoch brennen. Eine war eine Große, Dicke, es würde schon nichts passieren. Die Taschenlampe steckte sie sich hinten in ihre Hose und nahm die andere Kerze, dann ging sie hinaus, um sich umzusehen.
Natascha kam an einer Küche und einem Speiseraum vorbei, weitere Schlafräume folgten. Die Wege waren dunkel und unheimlich, aber sie lief weiter. Eine Treppe, Räume und ein Zimmer, in dem ein Schreibtisch stand mit einem umgeworfenen, zerstörten Computermonitor. Eine Terrasse, ein Zimmer mit Regalen, Papieren, einem Schreibtisch, so etwas wie ein Büro. Die Toiletten und Duschen und wieder das Zimmer in dem Caleb noch immer schlief.
Alles war verwüstet, durcheinander, zerstört, verdreckt. Irgendwie tat Natascha leid, was hier geschehen war. In manchen Räumen hatte sie private Gegenstände gesehen, Kleidung, Bücher, Fotos, sie waren hier zu Hause gewesen. Einen Bereich hatte sie noch nicht inspiziert, die zweite Etage des Gebäudes. Diese Etage war eine Galerie und sie ging die Treppe hoch, die dort hin führte. Oben lehnte sie sich vorsichtig über das Geländer. Es erschien ihr nicht sehr vertrauenerweckend und sie schaute nach unten. Tascha hatte freie Sicht auf eine große Halle, an deren Wänden riesige, zerbrochene Spiegel hingen.
Dann schaute sie nach oben, das kaputte Oberlicht. Der Himmel war klar und sie sah den Mond und unzählige Sterne. Sie drehte sich vom Geländer weg und holte die Taschenlampe mit einer Hand aus ihrer Hose hervor, darauf bedacht, dass die Kerze nicht ausging. Natascha leuchtete den Raum ab. Umgestoßene Tische und Sessel, Holzregale mit Büchern und Papieren, herausgerissene Seiten, Papier verstreut am Boden, zerstörte, undefinierbare Gefäße, Bretter, Lampen, Kerzen und Kerzenhalter, von der Wand gerissene Bilder, als hätte ein Wirbelsturm gewütet.
Der Wirbelsturm waren SEK Beamte gewesen und Kriminaltechniker, die alles durchsucht, aber kaum etwas Brauchbares gefunden hatten. Die Bewahrer hatten das vernichtet von dem sie ausgegangen waren, es könne sie verraten. Zurück hatten sie nur das gelassen, was die Polizei als unnützen Kram bezeichnet hatte. Natascha ging noch ein Stück, bis sie an einen wunderschönen Kamin kam. Sie schaltete die Lampe aus und schob sie sich wieder in den Hosenbund, dann stellte sie einen kleinen umgeworfenen Tisch hin, auf den sie die Kerze stellte. Einen Ohrensessel, der ein wenig abseits stand, schob sie heran und dann hob sie ein paar der Seiten auf, die am Boden lagen. Sie setzte sich hin und begann zu lesen.
Wie viel Zeit vergangen war, wusste sie nicht. Immer wieder hatte sie sich Zettel und zerrissenen Bücher vorgenommen und in ihnen gelesen. Ihr war kalt und die Kerze war beinahe abgebrannt, außerdem hatte sie ein ungutes Gefühl. Irgendetwas war noch hier, irgendetwas lauerte in der Dunkelheit. Sie fühlte, dass sie nicht alleine war, auch wenn sie nichts sehen konnte. Vielleicht waren es aber auch nur die Dinge, die sie gelesen hatte. Es waren Bruchstücke gewesen, Bruchstücke der Vergangenheit der Grauen Krieger und von denen die sie vorher waren. Erzählungen über Mord, Folter, Vergewaltigungen und Plünderung. Wie ein Puzzle, das nicht vollständig war, hatte sie einen Eindruck bekommen, was diese Wesen getan hatten, bevor sie das Abkommen getroffen hatten. Sie hatte einen Eindruck davon bekommen, was Caleb war. Aufzeichnungen über die Grauen Krieger nach dem Abkommen, über den Versuch sie zu vernichten, sie zu töten, zu verbrennen, im Namen Gottes, weil man sie als Gefahr für den Glauben betrachtet hatte, über den Mord an Tausenden unschuldiger Menschen, die im Zuge der Inquisition, die eigentlich zur Vernichtung der Grauen Krieger dienen sollte, ebenfalls gefoltert und ermordet worden waren. Warum die Beamten der Spurensicherung diese Sachen nicht mitgenommen hatten, war ihr unklar, es war ihnen wohl nicht wichtig erschienen. Sie hatten nicht gewusst wer die „Kunstmörder“ gewesen waren, für sie musste das alles hier ausgesehen haben, wie die Sammlung alter, unwichtiger Schriften von ein paar Spinnern.
Natascha stand auf und ging langsam zurück zu dem Zimmer. Das seltsame Gefühl begleitete sie. Sie hockte sich neben die Matratze und beobachtete den Mann, der sich unruhig hin und her wälzte. Einst hatte sie sich gefragt, was ihn so schlecht schlafen ließ, ihm solche Albträume bereitete, jetzt hatte sie eine Ahnung. Er trug furchtbare Dinge in sich, Dinge, die er anderen angetan hatte und Dinge, die ihm angetan worden waren. Sie war hin und her gerissen. Er war ein Monster und wurde dann zu einem Bewahrer, einem Wächter der Geheimnisse und der Grauen Krieger, die dafür sorgten, dass so etwas Furchtbares, wie einst geschehen war, sich nicht wiederholen würde. Er war abgrundtief böse gewesen und dann dazu bestimmt worden Gutes zu tun. Hatte Nathan recht? Trug Caleb es noch in sich?
Sie selbst wusste, wozu er fähig war, sie selbst hatte gesehen, mit welcher grausamen Gleichgültigkeit er tötete. Sie hatte aber auch gesehen, wie er mit seinen Nichten umging, wie er seinem Bruder geholfen hatte und er hatte ihr das Leben gerettet, mehr als nur einmal. So sehr sie ihn auch hasste und verachtete, so sehr fühlte sie sich auch zu ihm hingezogen. Etwas berührt sie. Natascha erschrak und wich zurück. Sie landete auf dem Boden, was war das? Sie leuchtete mit der Taschenlampe den Raum ab, nichts. Dieses Gebäude war alt, groß und dunkel, wahrscheinlich hatte sie es sich nur eingebildet.
Die zweite Matratze lag ein Stück von Calebs entfernt. Sie stand auf und schob sie an seine heran, dann zog sie ihre Schuhe und die Jacke aus, die sie immer noch an hatte, blies die Kerzen aus, schaltete die Taschenlampe ab und legte sich hin, ganz dicht an Cale. Sie hatte Angst, sie rutschte noch ein Stück weiter an ihn heran. Sie schmiegte sich eng an seinen warmen festen Körper und zog sich die Decke über den Kopf. Sie spürte, wie sich seine Brust hob und senkte mit jedem Atemzug und merkte, dass es sie beruhigte. Er bewegte sich und legte seinen Arm um sie. Tascha schloss die Augen und schlief ein.
Thomas war in das Dorf gekommen, weil es dort vermehrt Übergriffe gegeben hatte, erst auf das Vieh, dann auf die Menschen. Die Grauen Krieger hatten sich der Sache angenommen, leider waren sie dabei entdeckt worden und nun musste er dafür sorgen, dass nichts von ihrer Existenz verbreitet wurde. Zur gegenwärtigen Zeit war eine Entdeckung der Anderen Wesen sehr gefährlich. Die Inquisition machte Jagd auf sie, erfolgreicher als in den Jahren zuvor. Unter dem Deckmantel der Hexenverfolgung hatten sie schon viele seiner Art gefangen genommen und getötet und es wurde immer schlimmer.
Er mochte diesen Ort. Er war eigentlich friedlich und sehr malerisch, Ackerland, umgeben von Wäldern und Obstbäumen, die Weite des Landes, so wie es in seiner Heimat war. In den letzten Jahren bemühten sich die Grauen und die Bewahrer in der Anonymität größerer Ortschaften unterzutauchen, dort war eine Entdeckung erschwert.
Die junge Frau war ihm schon ein paar Mal aufgefallen. Sie war freundlich und lachte viel und etwas Strahlendes ging von ihr aus. Er wusste nicht, ob sich ihre Wege absichtlich kreuzten, oder ob es Zufall war, aber es war angenehm sie zu sehen. Auf dem Weg zur Messe war sie umgeben von vielen Frauen, mit denen sie sich angeregt unterhielt. Sein Auftrag hier war schwerer als er gedacht hatte und so würde er sich sicher noch ein wenig in diesem Dorf aufhalten müssen, aber er würde vorsichtig sein müssen.
Sie saß an einem kleinen Bach, der sich durch einen Apfelbaumhain schlängelte, und hatte die nackten Füße in das Wasser gesteckt. Sie hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der warmen Sommersonne zugewandt. Sie summte ein fröhliches Lied und schien den Tag zu genießen. Er überlegte, warum er sich von der Reinheit der Menschenfrauen so angezogen fühlte, obwohl er eine so dunkle Seele hatte. Vielleicht war es eben genau dieser Gegensatz, der ihn ansprach. Thomas stand da und beobachtete sie, nahm ihre Gefühle in sich auf, als sie sich plötzlich seiner Gegenwart bewusst wurde und erschrocken aufsprang. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel in das flache Wasser.
Er eilte zu ihr und reichte ihr seine Hand um sie hinauszuziehen.
„ Danke“, hauchte sie. Sie strich über ihr nasses Kleid, die dunklen Haare klebten an ihrem hübschen Gesicht und sie lächelte.
„ Ich muss mich entschuldigen, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er.
„ Ist nicht so schlimm, es wird schnell trocknen. Ich bin Magdalena.“ Sie hielt ihm ihre Hand hin, sie war zart und fein.
„ Thomas von Arkin“, stellte er sich vor.
„ Oh ich habe schon von Euch gehört, ihr seid ein Krieger, sagt man.“
„ So, sagt man das?“ Sein Erscheinen war natürlich nicht unentdeckt geblieben.
„ Ja, wie aufregend, die Frauen reden über Euch. Ihr habt hier einige Herzen gebrochen.“ Sie lachte. „Und ich kann auch verstehen weshalb.“ Sie schlug die Augen kokett auf.
Er musste grinsen, sie war wenigstens ehrlich und ein wenig frech. „Lasst uns ein Stück miteinander gehen, erzählt mir von Euch und euren Taten.“ Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich.
Thomas traf sie in den darauf folgenden Tagen häufig. Sie verabredeten sich an eben jenem Bach, um sich zu unterhalten oder einen Spaziergang zu machen. Sie sprach viel über ihren Glauben und die Kirche und trotz ihres unerschütterlichen Glaubens war Magdalena eine aufgeschlossene, intelligente junge Frau und Thomas genoss ihre Gegenwart. Sie war anders als die anderen, sie versteckte sich nicht. Sie war direkt und ehrlich.
Einmal verabredeten sie sich für den Abend, sie wollten sich die Sterne ansehen. Obwohl es nicht leicht gewesen war für Magdalena, hatte sie sich aus dem Haus geschlichen. Sie lagen auf der Wiese und starrten in den Nachthimmel, er hatte seinen Arm um sie gelegt und sie schmiegte sich eng an ihn.
„ Wüsste mein Vater was ich mache, er würde vor Zorn platzen", kicherte sie. „Du hast schon so viel von der Welt gesehen, es ist wunderbar, Gottes Werk, nicht wahr? Wie kann er so etwas Schönes schaffen und trotzdem so viel Grausamkeit zulassen?“
Er drehte sich auf die Seite und schaute sie an. „Rede nicht von Grausamkeit, davon habe ich zu viel erlebt.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du bist wunderschön, genauso schön wie die Sterne.“
Er wollte sie küssen, er wollte sie haben, jetzt, hier sofort, er war ihr so nah. Er spürte ihre Wärme und er merkte, wie er sich verwandelte. Er wollte sie sich nehmen, seine Instinkte drangen an die Oberfläche und er bemühte sich, sie unter Kontrolle zu halten, er wendete sich von ihr ab.
Bald war sein Auftrag erledigt, er hatte die Abtrünnigen getötet und er würde am nächsten Abend das Dorf verlassen. Ein letztes Mal traf er sich mit Magda, um Abschied von ihr zu nehmen.
„ Nimm mich mit!“, weinte sie.
„ Das kann ich nicht.“
„ Ich liebe dich!“
„ Bitte Magda es geht nicht!“
„ Dann bleib noch, nur eine Weile, für mich.“
Er war schon viel zu lange hier gewesen. Er hatte Leben ausgelöscht und es würde gefährlich werden noch länger an diesem Ort zu verweilen.
Er senkte den Kopf. „Also gut ein paar Tage noch, dann muss ich fort.“
Sie umarmte ihn stürmisch, dann küsste sie ihn. In dieser Nacht schliefen sie miteinander. Er bemühte sich vorsichtig mit ihr zu sein. Ihr zarter Körper schmiegte sich an seinen und er spürte ihre weiche Haut, ihre Lippen und ihr weiches Haar, dann ergoss er sich in ihr.
Es war Zeit für ihn zu verschwinden. Thomas war dabei ein paar seiner Habseligkeiten zu einem Bündel zusammenzupacken. Ihre Verfolger waren ihm mit Hilfe von Verrätern zu nahe gekommen. Die Meisten von ihnen waren gefangen genommen und getötet worden, es gab keinen Ausweg mehr, nur die Flucht würde sein Überleben sichern. Doch es war zu spät. Er hörte, wie die Tür barst und schwere Schritte durch den Raum unter ihm hallte. Er spürte Hass und Wut und Verachtung. Sie kamen die Treppe hoch, und ehe er sich versah, standen sie in seinem Schlafgemach. Er griff sein Schwert, kampflos wollte er sich nicht ergeben, als ein stechender, alles lähmender Schmerz durch seinen Kopf jagte. Er ließ sein Schwert fallen und sank auf die Knie. Er presste seine Hände an die Schläfen, es sollte aufhören! Es wurde schwarz um ihn herum. Die letzte vage Erinnerung, die er hatte, war, wie er hinunter geschleift und auf ein Pferd gebunden wurde.
Caleb schreckte auf, nein, weiter wollte er sich nicht erinnern, nicht schon wieder, nein! Er spürte Natascha, die in seinem Arm lag und tief schlief und er spürte noch etwas, er würde auf sie aufpassen.
Sie streiften durch die große Halle, sie hatten Witterung aufgenommen, aber die Menschenfrau wurde bewacht und der der sie bewachte war gefährlich. Sie würden sie nicht angreifen können, wenn er bei ihr war, sie hatten Angst vor ihm, er war böse und mächtig. Sie zogen sich zurück, ihre Zeit würde kommen.