Читать книгу Die Vergessenen 02 - Kitsune - Sabina S. Schneider - Страница 7

SCHULD

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Flughafen Osaka-Itami November 2010

Akiko saß im Flieger. Die Bilder strömten auf sie ein, ihr Kopf schmerzte. Mögliche Zukunftsversionen wechselten sich im Sekundentakt ab. Es kostete sie jeden Tropfen Selbstbeherrschung, um ihre Augen nicht zuzukneifen, ihre Hände nicht über die Ohren zu pressen, sich nicht in einem Ball zusammenzurollen und panisch hin und her zu schaukeln. Sie war zu lange hinter ihrer behüteten Mauer der Stille gewesen.

Die Welt des Schmerzes war in Vergessenheit gerückt und brach jetzt über sie herein, ertränkte ihren Geist und war doch nur ein Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Akiko hatte Schlimmeres durchlebt. Müsste abgehärtet sein, aber die Jahre des Komfort hatten sie weich gemacht. In diesem Zustand würde es nicht lange dauern, bis der Orden sie erneut gebrochen hatte und dieses Mal mit ihr die Welt.

Die Folter hatte bereits begonnen und sie fuhren die großen Geschütze auf. Sie ohne Schutzzauber durch den Flughafen zu zerren und in einen Doppeldecker zu setzen, war unmenschlich. Ein einzelner Gedanke reichte, um hunderte neue mögliche Zukunftsversionen zu erschaffen. Die meisten waren sehr einfach gestrickt und zogen eine Kette von Entscheidungen hinter sich. Soll ich sie heiraten? - Eine Frage mit zwei möglichen Antworten. Ja. - Nein. Ausgehend von dieser Entscheidung entwickelte sich ein Geäst der Möglichkeiten, verschlungen und nicht nachvollziehbar. Es gab Linien, die wahrscheinlicher waren. Ihre Wurzeln, genährt aus Erfahrungen und Verhaltensmustern. Die feinen Nebenäderchen fühlten sich an wie Erinnerung an einen Traum, wenn man aufwachte und nur noch wusste, dass man geträumt hatte. Sie verschwanden mit einem Augenzwinkern. Die dicken, pulsierenden Wurzelstränge der gesamten Menschheit bildeten das Zukunftsnetz, geknüpft an Verhaltensmuster und Zwangsneurosen.

Jeden Menschen für sich zu betrachten, ihn zu studieren, seine Möglichkeiten zu erkennen und ihn in die richtigen Bahnen zu lenken, das war die Aufgabe eines Mediums. Dafür hatten die Götter den Medien ihre Gabe geschenkt. Auf dass sie die richtigen Menschen erkennen und führen. Denn ohne Führung versank die Menschheit im Chaos. Wenige sahen die Zusammenhänge und konnten die Verknüpfungen erkennen.

Akiko war ein solches Medium, von den Göttern auserkoren, in ihrem Namen zu lenken. Stark genug, um ein ganzes Land zu führen. Dieses Wunder, einzigartig wie es war, saß mit zitternden Händen da. Sie wusste niemand würde kommen, um sie zu retten. In diesem Gedanken spürte sie die Dunkelheit, an der sie zerbrechen würde und mit ihr die Welt.

Er würde nicht kommen. Van hatte sich vor langer Zeit entschieden. Bereits in einem anderen Leben. Akiko legte die Arme um sich, trieb ihre Fingernägel durch den Stoff ihres Pullovers. Grob gestrickt, drangen sie vor bis zur Haut. Sie nahm den Schmerz nur dumpf war und doch versuchte sie, sich an ihm festzuhalten. Er war schlüpfrig, wurde weggespült von abertausenden Bildern, die doch diesen einen Gedanken nicht vertreiben konnten. Der pulsierende Schmerz in ihrem Kopf schwappten über sie herein und mit jeder neuen Welle wurde der Gedanke stärker: „Er wird nicht kommen“ – keine Wahrscheinlichkeitsvariable – eine Tatsache.

Akiko grub ihre Nägel tiefer in ihr Fleisch, konzentrierte sich auf das Gefühl von warmen Blut, das aus ihrem Körper lief und den grauen Stoff ihres Pullis rot färbte.

Sie durfte es dem Orden nicht zu einfach machen. Akiko würde fallen. Alles, was sie wusste, preisgeben. Doch sie musste Van und Lina einen Vorsprung geben, ihren Zielort so lange wie möglich für sich behalten. Warum hatte Van sich gerade bei ihrem letzten Kontakt entscheiden müssen? Warum hatte er nicht damit gewartet, bis Akiko zu weit von ihm entfernt war, um seine Schicksalslinien lesen zu können? Wäre seine Entscheidung eine Minute später gefallen, wäre Akiko nichts wert in den Händen des Großmeisters. So musste sie sich zusammenreißen und das Brechen ihrer Seele so lange wie möglich hinausschieben, um der Menschheit eine Chance zu geben.

Akiko verstaute ihr Wissen so tief wie möglich in ihrem Unterbewusstsein, bedeckte es mit dem größten Stein, den sie in sich fand: ihrer Liebe zu Van. Sie würde ihr Kraft geben, selbst wenn das Schicksal der Menschheit ihr egal geworden wäre.

Versunken in ihrer Welt, bemerkte Akiko nicht, wie das Flugzeug sich in Bewegung setzte. Der Boden unter den Füßen der Passagiere erzitterte, als die Motoren starteten und der große Vogel sich in Startposition begab.

Heinz blätterte in der Bild. Scannte mit geschulten Augen die Klatschzeitung auf Hinweise. Sie waren klein und fielen meist nicht auf. Es war seine erste Zeitung seit Langem und zwei weitere warteten in der Sitztasche vor ihm geklemmt, ragten heraus bis zum herunterklappbaren Esstisch. Ein Blick in die Zeitungen beruhigte seine Nerven. Er hatte noch genau achteinhalb Stunden Zeit, um in dem rauen Grauschwarz abzutauchen.

Früher waren es die Zeit und das Handelsblatt, die er gelesen hatte, mit Fokus auf Wirtschaft, Recht und Internationales. Heute war es die Bild und die Klatschspalte, die seine Augen für Stunden gefangen hielten. Vielleicht würde er auch heute auf einen neuen Hinweis stoßen. Er hatte schon so einige dieser dreckigen Monster aufgrund eines kleinen Absatzes gefunden. Ein Wort sprang ihm ins Auge: Yeti. Ein Bericht über einen verunglückten Deutschen im Himalaya. Unbewusst kratzte er sich über die Innenseite seiner Handfläche. Das Jucken war nur leicht, kaum wahrnehmbar. Wäre er aufmerksamer gewesen und nicht so vertieft in seiner Suche nach der nächsten Beute, hätte er gewusst, wo er als nächstes suchen musste.

Doch er war in Gedanken schon bei seiner nächsten Hetzjagd. Er hoffte inständig, dass es diesmal ein Vampir sein würde. Er liebte das Gefühl, wenn das tote, kalte Fleisch unter dem spitzen Holz nachgab, sich Millimeter für Millimeter dem Herz näherte und die Rote Fontäne herausschoss. In dieser Hinsicht war er altmodisch. Massenvernichtungen durch Verbrennung waren einfacher und effizienter. Aber nicht so befriedigend. Heinz fuhr sich bei dem Gedanken mit dem Daumen über die Unterlippe und suchte weiter nach Hinweisen.

Heinrich saß mit gesenktem Kopf eine Reihe hinter Akiko und Heinz. Links und rechts flankiert von zwei jungen Brüdern. Sie hatten die ganze Zeit über kein Wort von sich gegeben. Heinrich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie beobachteten argwöhnisch die Umgebung. Scannten jeden Passagier einzeln. Heinrich konnte sehen, wie ihre Gehirnwindungen arbeiteten, Risiken kalkulierten und ausschlossen. Wie zwei Berge klemmten sie ihn zwischen sich ein. Keine Zelle, keine Handschellen oder Ketten wären effektiver gewesen als diese Gorillas.

Beide hatten einen breiten Kiefer, einen Stiernacken und waren über 180 groß. Heinrich hätte sie beim besten Willen nicht auseinanderhalten können. Sie trugen beide schwarze Stoffhosen und den gleichen meisterjägergrünen Pulli. Sonnenbrillen verdeckten den größten Teil ihrer Gesichter. Die Haare waren zurückgegelt. Heinrich vermutete, dass sie blond waren, doch das Gel, das jedes einzelne Härchen an den Schädel presste, ließ sie dunkel, dreckig und schmierig aussehen. Sie wirkten wie zwei Bodybilder auf Anabolika und strahlten einen niedrigeren IQ aus. War das die neue Generation der Bruderschaft? Aus welchem Reagenzglas die wohl gekrochen waren?

Wie geklonte Statisten saßen sie da und kalkulierten mit ihren Erbsenhirnen Gefahren, die nicht da waren und übersahen kleine, wichtige Details, wie die leichte Ausbeulung an seinem Hosenbein, wenn der Stoff zu nahe an seine Wade kam. Kaum sichtbar und doch da. Eine kleine Nadel, so beschichtet, dass sie bei der Kontrolle nicht piepste. Das glattgeschliffene Plastikstück, in seinem Absatz, das ohne Probleme einem Mann die Kehle aufschlitzen konnte und leise bei jedem Schritt klackerte. Die kleinen Löcher an seinen Handgelenken. Die OP war gefährlich gewesen, doch der beste Ort, Waffen zu verstecken, war im menschlichen Körper selbst.

Er bewegte die Handgelenkte leicht und spürte den Druck der Silikonschläuche, die sanft gegen seine Venen drückten. Das Silikon war alt, doch da er noch am Leben war, mussten die Rohre noch intakt sein und das Gift der Nadel noch nicht im Blut. Wenn er eine bestimmte Sehne anspannte, würden sie herausschießen, seine Opfer zuerst lähmen und dann töten. Niemand hatte Kenntnis von dieser Waffe. Niemand außer Adam. Und Adam war 1988 vom Radar verschwunden. Keiner wusste, was mit ihm passiert war und niemand fragte nach. Brüder verschwanden. Das brachte ihre Arbeit mit sich.

Und mehr war es für Heinrich nie gewesen. Eine sehr gut bezahlte Arbeit. Das unterschied ihn von den meisten Brüdern. Er hatte seine Aufgaben nie aus Glauben, Religiosität oder Fanatismus erfüllt. Immer nur wegen dem Geld und dem Ruhm. Adam war anders gewesen. Er war aus Überzeugung bei der Bruderschaft, glaubte an die Sache und wollte die Menschheit vor dem Unbekannten schützen. Und doch war er okay gewesen.

Heinrich dachte an ihre gemeinsame Ausbildung und das Band der Freundschaft, das er danach mit niemandem mehr geknüpft hatte. Sie waren Kameraden und einer wäre für den anderen gestorben, Brüder in Herz und Seele. Menschen wie Adam hatten den Orden zu dem gemacht, was er einmal war. Heinrich blickte zu dem Möchtegern-Terminator zu seiner Linken und Verachtung glühte in seinem Blick. Zu so etwas war der Orden verkommen. Zu einer Ansammlung mutierter Freaks, die nicht wussten, wofür sie kämpften.

Doch Heinrich hatte es auch nicht gewusst. Nicht wirklich. Die Verachtung schwand, und das letzte Bisschen, das von seinem alten Ego übrig gewesen war, mit ihr. Der Orden war immer schon so gewesen. Heinrich hoffte inständig, dass Adam diese Erkenntnis erspart geblieben war.

Er spürte die Todeswaffe unter seiner Haut, als sein Körper beim Abflug in den Sitz gedrückt wurde, und wusste, dass eine Flucht sinnlos war. Niemand konnte dem Orden entkommen. Sein Augen suchten den Sitz vor sich. Der Freitod wäre sicher einfacher, doch er hatte für seine Sünden noch nicht gebüßt. Er konnte diese Welt nicht verlassen, ohne es versucht zu haben, es wieder gut zu machen. Heinrich ließ den Kopf wieder sinken. Die Schuld und das Gefühl der Hilflosigkeit schwappten über ihn und er hieß sie willkommen wie alte Freunde.

Er erinnerte sich wage an eine Zeit, als es sie nicht gegeben hatte. Als er naiv durch die Welt gegangen war, mit stolz erhobenem Haupt, immer ein Lächeln auf den Lippen. In seinem Egoismus und seiner Sucht nach Ruhm und Reichtum hatte er gebadet. Adam hatte ihn gewarnt.

Hochmut kommt vor dem Fall“, hatte er zu sagen gepflegt. Doch Heinrich hatte nur gelacht, denn er hatte gewusst, dass er auserwählt und für Großes bestimmt war. Jetzt wünschte er sich, er hätte Leipzig und die viel zu kleine Wohnung nie verlassen. Zu klein für sieben Personen, immer dreckig, da seine Mutter immer müde von der Arbeit kam. Er hatte geglaubt, dort zu ersticken und sich nach der großen, weiten Welt gesehnt.

Der Orden hatte ihm genau das geboten und er hatte, ohne zu fragen, akzeptiert. Er wäre jedem gefolgt, der ihm eine Karte aus der Armut und des Unbedeutendseins hingehalten hätte. Doch es war der verfluchte Orden gewesen. Was ihm damals aufregend und neu erschienen war, lastete seit Jahren drückend auf seiner Seele. Er war schon lange nicht mehr gerade gelaufen, immer nur gebückt, sein Inneres zusammengequetscht von dem Gedanken: Was konnte er schon gegen den Orden ausrichten?

Vielleicht sollte er darum beten, dass das Flugzeug abstützte. Das würde sein Leiden und das von Akiko vermindern. Es war nicht das erste Mal, dass er darüber nachdachte, sie zu erlösen. Doch er hatte es nicht bei dem Mädchen gekonnt und konnte es nicht bei der Frau. Sich umzubringen, erschien ihm zu einfach. In die Hölle würde er noch früh genug kommen. Mit seinem Tod wäre Akiko nicht geholfen.

Bilder von einem dürren, ausgemagerten Mädchen, das vor Schmerzen zusammengekrampft hinter Gittern am Boden lag, keine Kraft mehr hatte zum Schreien, stürzten auf ihn ein. Augen, die ihn einst angestrahlt hatten, blickten ausdruckslos ins Nichts.

Als er die Kinder eingesammelt hatte, war es ihm egal gewesen. Er war nur scharf auf das extra Geld, den Ruhm und die Beförderung. Was man mit den Kindern anstellte, daran hatte er keinen Gedanken verloren. Doch dann war er Akiko begegnet.

Norden Japans, irgendwo im Wald, Frühling 1985

Heinrich machte Rast in dem vermaledeiten Wald, der keinen Anfang hatte und kein Ende. Er war schlecht gelaunt. Schon zu lange war er in der Weltgeschichte herumgereist, ohne jemanden mit Potential zu finden. Die hochgewachsenen Bäume um ihn herum und das Grün erfreuten ihn genau so wenig wie der Geruch nach Kiefern und Zedern. Er musste bald etwas finden, irgendetwas. Warum es ihn in dieses seltsame Land der aufgehenden Sonne verschlagen hatte, wusste er nicht. Sein Riecher hatte ihn nicht einmal in eine Stadt geführt, die nur so von Menschen wimmelte. Nein, sein Instinkt hatte ihn in ein kaum besiedeltes Gebiet gebracht, in dem man kilometerweit laufen musste, um auch nur einer Menschenseele zu begegnen.

Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er an seinem Instinkt, der ihn bisher noch nie im Stich gelassen hatte. Ihn immer zu Kindern mit mehr Potential geführt hatte, als gut für sie war. Er hatte gefühlt, wie die Gabe in ihren kleinen Körpern pulsierte, darauf wartete, zu erblühen und die Welt zu verändern. Doch das letzte Jahr war trocken gewesen. Er hatte nicht einmal den Hauch von Talent gespürt. Nicht in Afrika, nicht in Indien, China oder Russland.

Und jetzt war er in einem Wald im Norden Japans. Weit abgelegen von jeder Zivilisation. Ein riesiger schwarzer Rabe, der Heinrich kalte Schauder über den Rücken jagte, landete auf einem Baum, nicht weit von ihm. Er hörte sie nicht kommen und doch stand sie plötzlich vor ihm. Ihre Augen strahlten ihn an, ihr Mund wölbte sich zu einem Lächeln. Noch bevor Heinrich den kleinen, schmächtigen Körper berührte, wusste er, dass er sie gefunden hatte.

Ihr Gesicht war schmutzig, ihre Arme und Beine bedeckt mit Dreck. Das lange, schwarze Haar stand ihr ungekämmt in alle Richtungen vom Kopf ab. Ihr fehlte ein Zahn. Ungewaschen und ungepflegt stand das kleine, zerbrechliche Mädchen vor ihm und er hatte noch nie etwas Schöneres gesehen, noch nie solch eine Macht gespürt. Sie pulsierte aus ihr heraus, schwappte auf das Gras über, die Bäume und erfüllte selbst die Luft. Die Macht, die der kleine Körper noch nicht halten konnte, gab er willentlich an seine Umwelt ab.

So viel Lebensfreude, wie in den dunklen Augen des Mädchens, hatte er noch nie gesehen. Ihrem Zauber verfallen, handelte Heinrich doch so wie immer. Es geschah automatisch. Er folgte ihr bis zu einem alten Gebäude, längst über den Zustand der Reparaturbedürftigkeit hinaus, aber noch keine Ruine. Daneben stand eine kleine Kirche mit einem Holzkreuz auf dem Dach. Frauen in Schwarz und Weiß gekleidet begrüßten ihn. Das Mädchen hatte ihn zu einem Waisenhaus geführt.

Die Nonnen, die es betrieben, freuten sich über sein Interesse und gaben alles großzügig preis. Der Name des kleinen Mädchens war Akiko. Man hatte sie zufällig im Wald unter einer uralten Kiefer gefunden. Heinrich forderte ohne Umschweifen Adoptionspapiere an. Alle schienen froh darüber, dass es ein Maul weniger zu stopfen gab. Auch wenn das Mädchen aussah, als wüsste sie nicht einmal, was das Wort Essen bedeutete. Keiner stellte Fragen. Es war einfacher denn je. Keine Eltern, die sie vermissen würden.

Während er auf die Unterlagen wartete, beobachtete Heinrich das Mädchen mit dem Namen Akiko. Sie spielte mit den Kindern, oder versuchte es. Die anderen liefen vor ihr weg, zuckten vor ihrer Berührung zurück, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Einer der größeren Jungen nahm einen Stein und warf ihn nach ihr. Der Stein traf Akiko am Kopf. Blut lief ihre Wange herunter und tropfte auf ihr schmutziges, zerrissenes Kleid. Mit einem Gesicht, in dem nur Überraschung zu lesen war, hob sie ihre kleine Hand, langte sich an den Kopf und schleckte das Blut ab, bevor Heinrich sie erreichen konnte.

Als sie ihn sah, lächelte sie ihn wieder an und er verlor sein Herz an sie. Doch das verstand er erst viel später. Zu Spät. Er tupfte das Blut mit seinem Taschentuch ab und strich ihr Haar aus dem Gesicht, da überkam es ihn. Das Rauschen von Macht. Ihm wurde heiß und kalt und er wusste, er hatte einen Schatz gefunden. Nur hatte er nicht gewusst, dass man solch einen Schatz behalten und beschützen musste und ihn nicht einfach in fremde Hände gab.

Mit einer Routine, die er nicht empfand, machte er die Papiere für die Ausreise fertig. Gewaschen und richtig eingekleidet nahm er sie mit nach Deutschland. Er meldete sie an, übergab sie und erhielt seinen Lohn. Wie immer. Doch es war nicht wie immer. Er konnte sie nicht vergessen. Ihr Lachen und Strahlen verfolgte ihn, das Gefühl ihrer kleinen, warmen Hand in seiner.

Heinrich konnte sie nicht vergessen und es war ihm zum ersten Mal nicht egal, was mit ihr passierte. Er versuchte es, zu verdrängen und ihre Augen mit Alkohol aus seinem Herzen zu spülen. Doch es wurde immer schlimmer, bis er es nicht mehr aushielt.

Deutschland, Walldürn, Herbst 1985

Heinrich wusste jetzt, wo sie die Kinder hinbrachten. Eine geheime Einrichtung in der Nähe von Walldürn im Odenwald. Es war eine kleine Anlage, nicht weit von der dort stationierten Kaserne. Die Verpflegung des Personals ging über die Kaserne. 80 Prozent der Angestellten dort, Offiziere und Ausbilder, waren Brüder vom Orden. Es wurde auch als einer der vielversprechendsten Rekrutierungsquelle des Ordens gehandelt. Junge Männer im Geiste noch nicht gefestigt und auf der Suche nach Abenteuer, Ruhm, Ehre und offen für die Mystik des Ordens.

Einige der Ordensbrüder arbeiteten in beiden Einrichtungen. Wenige waren nur im Geheimlabor tätig. Heinrich hatte die Anlage erst nach tagelanger Beobachtung ausfindig machen können. Brüder fuhren in Zivil zu der Einrichtung. Einige joggten hin, verschwanden tief im Waldickicht. Der Eingang war ein unscheinbares Loch, als Abwasserkanal getarnt. Heinrich hatte gewartet, bis die Ablösung hineinging und der Abgelöste herauskam. Dann hatte er sich durch den betonierten Kanal geschlichen. So leise er auch ging, hallten seine Schritte doch durch den Hohlraum. Nervös blickte er sich um. Das bisschen Tageslicht, das noch geblieben war, reichte nicht weit hinein und Heinrich war gezwungen seine Taschenlampe auszupacken. Der kleine Leuchtkegel führte ihn zu einer uralten Holztür, die so schief hing, dass sie niemanden aufhalten konnte.

Nach weitern 500 Metern, wurden der Zement von Eisengerüsten abgelöst und ein Stahltor versperrte Heinrich den Weg. Ein Kartenleser war links an der Wand angebracht. Er löschte das Licht seiner Taschenlampe, kauerte sich in die Ecke und wartete. Stunden vergingen, bis sich die schwere Tür quietschend öffnete. Ein Mann trat heraus, ging ein paar Meter, dann erhellte ein Feuerzeug kurz sein von Narben zerfurchtes Gesicht.

Der Geruch von Zigarettenrauch erfüllte den engen Gang und das Licht des Glimmstängels beleuchtete einsam das müde und zerfurchte Gesicht des Mannes. Die Tür stand noch einen Spalt offen und Heinrich konnte erkennen, dass eine Karte an dem Gürtel des Wachpostens baumelte. Geräuschlos schlich er sich an, schnitt das Plastikband mit einem Messer durch und wurde wieder eines mit der Dunkelheit.

Der Wachposten rauchte in aller Ruhe seine Zigarette fertig, ließ sie, immer noch glimmend, achtlos fallen, trat auf sie drauf und kreiste mehrere Male kräftig mit dem Fuß, als würde es sich um ein ekeliges Insekt handeln, bevor er tief seufzte und zurück zu seiner Arbeit ging. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Das Personal wechselte alle sechs Stunden. Heinrich wartete seine Zeit ab. Dann, eine halbe Stunde bevor die Ablösung kam, zog er die Karte durch den Scanner. Ein grünes Licht erschien, ein leises Summen folgte.

Heinrich zog an der Tür und sie öffnete sich gehorsam. Das Licht war schlecht und er versteckte sein Gesicht im Schatten seiner Kappe.

„Wird auch Zeit, dass du kommst! Ich stehe mit hier die Füße in den Bauch und ein leckeres Abendessen wartete auf mich“, sagte der Mann mit einer tiefen, ungesunden Raucherstimme. Ohne auch nur einen wirklichen Blick auf Heinrich zu werfen, ging er durch die Tür und ließ sie ins Schloss fallen. Heinrich sah sich im Raum um. Alles war steril, die Wände abgedichtet mit Stahlplatten. Der Raum war keine 20 Quadratmeter groß. Es gab nur einen Tisch und einen Stuhl. Zwei Türen. Die, durch die er gekommen war, und parallel auf der anderen Seite eine weitere.

Die Tür war schwer und es war ebenfalls einen Scanner angebracht. Heinrich zog die Karte des Wachmanns durch. Es dauerte etwas, bis das grüne Licht erschien und das Summen erklang. Er zog die Tür auf, ging hindurch und wurde wieder eins mit dem Schatten. Heinrich fand sich in einem schmalen Korridor wieder. Er konnte nach links oder rechts und entschied sich für rechts. Ein langer Gang führte ihn zu einer weitern Tür. Ebenfalls gesichert. Er zog seine Karte erneut durch und öffnete sie vorsichtig. Wieder ein Korridor. Doch dieses Mal ein breiterer, an dem sich sieben Türen befanden. An jeder Seitenwand drei und eine an der gegenüberliegenden Wand. Es waren Stahltüren mit viereckigen Fenstern, vermutlich aus Panzerglas.

Heinrich blickte in die erste Tür links. Bis auf einen seltsamen Liegestuhl mit einer Kopfquetsche und verschiedenen Apparaturen, war der Raum leer. Leer und weiß. Er ging zur gegenüberliegenden Tür. Der Raum war schwarz mit weißen und roten Runen auf Boden, Wände und Decke. Einige Zeichen kamen ihm bekannt vor, doch sie schienen verdreht und falsch. Die nächsten beiden Türen sahen genauso aus. Links Weiß und klinisch, rechts schwarz mit seltsamen Zeichen.

Dann kam er zur letzten Tür. Sie stand einen Spalt offen und er konnte Stimmen hören. Vorsichtig näherte er sich, spickte hinein. Zwei Männer in weißen Kitteln waren über einen dieser seltsamen Stühle gebeugt und hantierten an Geräten. Rauch stieg aus der Kopfquetsche, an der verschiedenfarbige Drähte angebracht waren. Dann stockte Heinrich der Atem. Er kannte den Jungen, der reglos im Stuhl saß. Vor drei Jahren hatte er ihn in Indien gefunden. Ein vielversprechendes Medium mit großem Potential. Seine Arme waren mit Ledergurten an die Lehnen geschnallt. Er trug ein weißes, langes Hemd, das mit Blut besudelt war. Seine Augen starrten ins Leere.

„Versuchsnummer 04 ist also auch durchgebrannt“, hörte Heinrich eine vierte Person sagen. Er hatte ihn zuerst nicht gesehen. Heinrich wandte seinen Kopf, um den Sprecher sehen zu können, und erstarrte. Wie eine Salzsäule stand der zwei Meter Mann da. Die Hände waren auf dem Rücken verschränkt, der Kopf trotz der Größe hoch erhoben und das Kinn vorgestreckt. Grüne Augen fixierten den leblosen Körper des Jungen und wanderten abschätzig zu den zwei Männern in Kitteln, als habe er widerliche Insekten vor sich.

Sein schwarzes Haar war nach hinten gegelt, passte sich perfekt der Schädelform an, ringelte sich im Nacken leicht nach außen und ließ freien Blick auf die kleinen, spitzzulaufenden Ohren. Die schmale Nase war lang, aber dank der hohen Wangenknochen und der hohen, delikaten Stirn nicht unproportional. Unmenschlich schön wirkte der schlanke, feingliedrige Riese. Nicht von dieser Welt, schien der schwarze Anzug, die grüne Krawatte und das weiße Hemd wie eine Farce, das Gesicht zu jung, unberührt von Alter und Zeit. Nur der lange Ledermantel, der bis zum Boden reichte, erschien Heinrich adäquat.

Der Großmeister! Schrecken durchfuhr ihn. Was suchte der Großmeister hier? Heinrich hatte ihn nur einmal bei einer Zeremonie von weitem gesehen, doch er war sich sicher. Diese Statur, Körperhaltung und Ausstrahlung! Grüne Augen in einem blassen Gesicht loderten vor Enttäuschung. Die Männer in Kitteln kauerten sich vor Angst zusammen und auch Heinrich spürte den Wunsch sich vor diesem Wesen, das kein Mensch sein konnte, in den Staub zu werfen und wie ein Wurm zu seinen Füßen herumzukriechen.

„Entsorgt ihn! Ein verbrannter Geist und ein leerer Körper nutzen mir nichts. Wie viele sind noch übrig?“, die Stimme klang eisig, aber nüchtern.

„Drei, Großmeister“, die Stimme des Kittelmannes zitterte.

„Welcher ist am vielversprechendsten?“, in der Stimme des großen Mannes klang keine Ungeduld mit und doch machte sie selbst Heinrich Angst.

„Nummer 09, eine Mädchen aus Japan“, beeilte sich der andere in Weiß, zu stottern.

„Bringt sie mir in den Magieraum!“, reglos blieb der Großmeister stehen, bewegte nicht einen Muskel. Verwirrt und verzweifelt sahen sich die anderen Männer in die Augen, als sie sich eilig aufmachten, die Befehle zu befolgen.

Akiko!“, schoss es Heinrich durch den Kopf und er eilte lautlos zurück durch die Tür, ließ sie geräuschlos zufallen, lief durch den langen, schmalen Gang, an dem Wachraum vorbei und fand am Ende des Ganges auf der rechten Seite eine Tür. Er scannte die Karte, wartete ungeduldig auf das Licht und das Summen, huschte hindurch und fand sich in einem Gang wieder, der genauso aufgebaut war, wie der am anderen Ende. Sieben Türen. Doch es waren keine Eisentüren, sondern Gitter. Eine der Zellen war offen und Heinrich konnte gerade noch hineinschlüpfen und sich im Schatten verbergen, als auch schon das leise Summen erklang und die Tür hastig aufgerissen wurde. Die beiden Weißkittel kamen hereingeeilt. Sie hatten einen Rollstuhl dabei und liefen zielstrebig auf die letzte, rechte Tür zu.

Heinrich konnte von seinem Versteck aus nicht viel sehen, erhaschte aber einen Blick auf eine kleine Gestalt mit schwarzen, langen Haaren in einem weißen Hemd, das bis zu den Knien reichte. Ihre Arme waren mit Ledergurten an den Rollstuhl geschnallt. Dann waren sie durch die Tür. Heinrich wartete einige Minuten, bevor er es wagte, sich zu bewegen. In seiner Zelle roch es nach Tod. Der Raum war aus Stein und es gab nichts außer Ketten. Er ging hinaus und blickte sich um. In der Kammer an der schmalen Seite des Korridors stand ein normales Bett mit Decke und Kissen. Er konnte sogar Spielsachen sehen. Raue Tapeten bedeckten die Wände, eine Nachtischlampe brannte. In der Ecke war ein abgeschirmter Bereich.

Eine kleine Spielzeugkuh fing Heinrichs Blick ein. Sie kam ihm bekannt vor. Dann traf es ihn, wie ein Kugel aus einer Pistole, die man nicht hatte kommen sehen. Heinrich hatte dem indischen Jungen die Kuh geschenkt. Das musste der Raum des Jungen sein. Bilder überwältigten seinen Geist. Leere, tote Augen und ein blutverschmiertes, weißes Nachtgewand sprangen ihn an und brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Heinrich taumelte. Ihm wurde schlecht und er besah sich den Raum rechts daneben, aus dem sie Akiko geholt hatten. Dort stand eine Pritsche, über die eine Wolldecke gelegt war. In der Ecke war eine kleine Toilette, für alle sichtbar. Die nächste Kammer war identisch.

In der daneben lag ein junges, farbiges Mädchen. Mit glasigen Augen starrte sie auf die Decke, nahm ihn nicht wahr. Es dauerte ein wenig, bis Heinrich sie erkannte. Es war Malia. Vor zwei Jahren hatte er sie in Kamerun gefunden. Zwei andere Räume waren leer, in dem dritten fand er Pedro. Ihn hatte er vor zweieinhalb Jahren aus Mexiko nach Deutschland gebracht.

Dann stand er sprachlos wieder vor dem Steinraum mit den Ketten. Als er sich genauer umsah, konnte er Blutflecken ausmachen. Auf dem Boden und an den Wänden. Dann hörte er wieder das Summen und sprang in den Schatten des Kettenraumes, wagte es nicht, zu atmen. Das Quietschen von Rädern übertönte seinen lauten Herzschlag.

„Wir müssen Nummer 09 ins Prioritäten-Zimmer verlegen“, sagte der kleinere Mann im weißen Kittel und kratzte sich am halbkahlen Kopf.

„Mit den anderen ist nicht mehr viel anzufangen, eine weitere Injektion und ihr Geist wird so ausgebrannt sein wie Arjuns ...“, erwiderte der größere, schlaksige mit einem Dreitagebart.

„Nenn sie nicht beim Namen!“, bellte ihn der kleine Dicke an.

„Ich meine Nummer 04“, erwiderte der große Schlaksige, „ja, 04 hat bis jetzt am längsten durchgehalten. Aber neue Erkenntnisse haben wir nicht.“ Der Lulatsch kratzte sich am Kinn.

„Verfrachte 09 in den Bestrafungsraum“, grunzte der Kleine.

„Wieso? Sie hat doch kooperiert“, erwiderte der Dünne und blickte seinen Kollegen verwirrt an.

„Ja, aber so können wir den Putzdienst gleich das Prio machen lassen und 09s Zelle. Ihr ist die Welt jetzt erst einmal egal. Die bekommen eh nicht mehr mit, wo sie sind“, sagte der Kleine kalt.

Heinrich umklammerte den Schaft seines Messers, das er aus seinem Stiefel gezogen hatte, fester und drückte sich an die Wand. Wut kochte in ihm und er war kurz davor den Weißkitteln den Hals durchzuschneiden, als das kleine, japanische Mädchen ins Zimmer geschubst wurde, umfiel und reglos auf dem Boden liegenblieb. Ihr weißes Hemd hatte jetzt hier und da Blutflecke.

„Wir sollten ihr das Hemd ausziehen. Es ist bei der OP schmutzig geworden“, hörte Heinrich die Piepsstimme des Langen.

„Dann verkühlt sie sich vielleicht. Du solltest mit wertvoller Ware besser umgehen! Wer weiß, was passiert, wenn wir nicht bald Ergebnisse liefern können“, erwiderte der Kleine brummig.

„Hast Recht, ich sag der Reinigungskraft, dass er 09 umziehen soll“, der Lange kratzte sich wieder am Kinn bevor er sich umdrehte.

„Nachdem er 04 beseitig hat“, sagte der Runde lachend und rieb sich die Hände.

„Genau!“, schallte die Antwort des anderen, der zögerlich in das Lachen einfiel.

„Schön, dass wir ihn haben. Ich weiß zwar nicht, was der Bruder verbrochen hat, um diese Bestrafung zu verdienen, aber ich bin froh, dass wir diese Drecksarbeit nicht mehr machen müssen.“ Der Lange nickte eifrig zu den Worten des Kurzen.

„Wie heißt der nochmal? Irgendetwas mit A“, murmelte der Große noch, während der Kleine nur brummte: „Ist doch egal, wie er heißt. Hauptsache er macht seine Arbeit.“ Dann waren die beiden durch die Tür getreten.

Heinrichs Faust schloss sich um das Messer, sein ganzer Körper zitterte. Er hatte Angst, zu Boden zu sehen, doch sein Blick suchte die Augen des Mädchens, die vor wenigen Monaten noch voller Lebensfreude gewesen waren. Jetzt starrten sie ihn nur ausdruckslos an. Das war der Moment, in dem die Schuld ihn packte und nie wieder losließ. Auch wenn er noch so schnell aus der Zelle rannte, durch die Tür und den Korridor entlang eilte, konnte er nicht vor sich selbst fliehen. Seine Füße trugen ihn zum Wachraum. Die Karte des Wachmanns ließ er auf dem Tisch liegen, schlüpfte durch die Tür und wurde eins mit dem Schatten, als die Ablösung pfeifend entlangspaziert kam. Ein Blick auf die Uhr sagte Heinrich, dass sie viel zu spät dran war.

Er drückte den Rücken an die Wand, schloss die Augen und würgte die Übelkeit herunter. Erst nachdem er alleine im dunklen Wald war, weit weg von der Anlage, übergab er sich. Doch den schalen Geschmack seines schlechten Gewissens wurde er nie wieder los.

Wenige Wochen später wurde sein Auftrag, nach starken Medien zu suchen, zurückgezogen. Heinrich fragte nicht nach. Von dem Geld, dass er bis dahin verdient hatte, konnte er sich zur Ruhe setzen und tat es auch. Doch die leeren Augen des Mädchens verfolgten ihn am Tage und in der Nacht. Er verfiel dem Alkohol und den Drogen. Fünf Jahre lang versuchte er die Schuld in allem zu ertränken, das er zwischen die Finger bekam. Dann hörte er, dass der Orden Akiko nach Japan zurückkehren ließ. Sein Herz jubelte vor Freude, dass sie noch am Leben war und schmerzte bei dem Gedanken daran, was sie in all den Jahren erduldet haben musste. Keines der anderen acht Kinder wurde jemals wiedergesehen.

Heinrich ließ sich nach Japan versetzen. Niemand stellte Fragen. Wieso auch? Sie waren froh, dass sie den Säufer los waren und hätte ihn über kurz oder lang sowieso strafversetzt. Vermutlich nach Japan. Es dauerte Monate, bevor er es wagte Akiko gegenüberzutreten.

Frankfurt, November 2010

Sie landeten abends in Frankfurt. Die letzten zwei Stunden waren eine kleine Erholung für Akiko gewesen. Es hatte sechs Stunden gedauert, bis sie alle Möglichkeiten aller Passagiere durchlebt hatte. Dann war sie eingeschlafen. Die Menschenmasse traf sie zwar vorbereitet, doch es war nicht weniger ermüdend oder schmerzvoll.

Ein Van holte sie vom Flughafen ab. Sie fuhren circa eineinhalb Stunden. Auch wenn sie durch die verdunkelten Scheiben nichts sehen konnten, wussten Akiko und Heinrich, wo man sie hinbringen würde. Sie würden die A3 entlangfahren, dann die Ausfahrt Badenhausen auf die B45 nehmen und sich danach von Dorf zu Dorf hangeln.

Als der Motor erstarb, legte man ihnen Augenbinden an, doch Heinrich roch den Wald und kannte den Weg. Er hörte das Summen des Schlosses. Das erste Mal, und auch das zweite Mal. Sie gingen rechts den Flur entlang, nicht links. Erneut erklang ein Summen. Sie wurden geradeaus geführt, dann hörte er das Klicken einer Tür.

„Da haben wir also unsere kleine Verräter-Bande“, die honigsüße Stimme ließ Heinrich die Haare zu Berge stehen. Er hatte sie nicht häufig gehört, doch sie hatte ihn in seinen Träumen verfolgt. Der Großmeister selbst, würde sich ihrer annehmen.

„Ich werde einen nach dem anderen verhören und anfangen werde ich mit dir, Heinz. Führt die anderen zwei in die Zellen!“ Wieder vernahm Heinrich das Summen, wieder wurden sie durch den schmalen Korridor geführt, bis das nächste Summen erklang. Dann ratterten Gitter und klirrten Ketten. Seine beiden Arme wurden fixiert, er spürte die Schwere des kalten Eisens, wie es nach Blut lechzend seine Handgelenke entlangschrammte. Man machte sich nicht die Mühe, ihm die Augenbinde abzunehmen. Rechts neben ihm hörte er ebenfalls Ketten rascheln.

Es vergingen wohl Stunden, bevor man Heinrich holte. Als man ihm die Augenbinde abnahm, blickte er in das lächelnde, schmale Gesicht und die kalten, grünen Augen des Großmeisters. Selber Mantel, selber Anzug, sogar die Krawatte von damals war identisch. Wie ein Zeitreisender stand der schlanke Riese vor ihm. Das bleiche Gesicht immer noch so märchenhaft und schön wie damals. Keine Falte war zu sehen. Das schwarze Haar schien bis auf den Millimeter genau so lang wie vor 25 Jahren. Heinrich hatte wohl damals Recht gehabt. Der Großmeister konnte nicht menschlich sein.

„Heinrich, wenn ich mich recht entsinne. Du hast uns gute Dienste geleistet. Viele talentierte Kinder gebracht. Schade, dass nur eins davon überlebt hat. Du hast dich gut um 09 gekümmert, hat man mir gesagt. Dafür meinen Dank.“ Heinrich wagte es nicht, zu blinzeln, und versuchte, das Blut auf dem Boden sowie die Folterinstrumente auf dem Tisch zu ignorieren. Sein Blick verfing sich an den unzähligen Kästen an der Wand. In allen Farben und Formen, jedes ein Kunstwerk der Natur für sich, aufgespießt mit Nadeln. Für die Ewigkeit schön und doch nie wieder lebendig. Seltsam, ihm war vorher nicht aufgefallen, wie schön Schmetterlinge waren.

„Man hat mir auch gesagt, dass du 09 zu viele Freiheiten gelassen hast. Ihr sogar erlaubt hast, nach Amerika zu reisen.“ Der Großmeister trat näher, ergriff Heinrichs Kinn und schaute ihm tief in Augen, in denen sich nur Schmetterlinge widerspiegelten. Heinrich konzentrierte sich auf die gefangenen Schönheiten.

„Wusstest du von dem Panther aus der Prophezeiung? Du wusstest es nicht“, beantwortete der Großmeister seine eigene Frage und fuhr gelassen fort, während seine Finger sich schmerzhaft in Heinrichs Haut bohrten, „dann wusstest du auch nicht, dass sich das Tor und der Panther bei Akiko befanden? Nein, auch das wusstest du nicht. Wolltest du nicht wissen. Und du weißt auch nicht, wo sie jetzt sind.“

Der Großmeister hob Heinrichs linke Hand und betrachtete die nagellosen Finger. Seine Augen blieben kurz an dem verkrusteten Blut hängen, dann riss er Heinrichs Hemd auf und begutachtete die blauen Flecken. Mindestens eine Rippe war gebrochen und bereitete Heinrich beim Atmen Schwierigkeiten. Heinz war bei seinem Verhör nicht zimperlich gewesen. Der Großmeister seufzte.

„Heinz hat wie immer übertrieben. Ein loyaler Soldat in der vordersten Front. Wäre sein Hass nicht gegen alles Unmenschliche gerichtet … Nun, dann wäre er wohl kein loyaler Soldat in vorderster Front. Wer hätte gedacht, dass er es sein würde, der das Tor entdecken ... und entkommen lassen würde. Entkommen in die weite, internationale Welt. Sie könnten überall sein und wir stehen mit leeren Händen da, wie zu Beginn.“ Er machte eine Pause und drehte Heinrich den Rücken zu, bevor er weitersprach: „Wir haben ein Medium, das alles sieht, aber nichts sagt. Eine verzwickte Lage. Du weißt nicht zufällig, wie man sie zum Sprechen bringt? Nein, natürlich nicht.“ Dann rief er ins Nichts hinein: „Bringt ihn weg und holt mir dir Frau!“

Heinrich riss seinen Blick von den toten Schmetterlingen los und folgte, jemandem, den er nicht kannte, in seinen Kerker. Sein neues Zuhause.

Die Vergessenen 02 - Kitsune

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