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Pfingsten, Oberwesel am Rhein

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ICH ERINNERE MICH GUT AN diesen lauen Frühlingstag im Juni. Die Sonne war schon so kräftig, dass man sich ihr nicht ohne Sonnencreme aussetzen konnte. Jedenfalls nicht ich, mit meiner hellen, sommersprossigen Haut.

Ich war zusammen mit meiner Schwester Donna, ihrem Mann Gerald und deren Kindern in Urlaub gefahren. Urlaub auf dem Bauernhof, mitten in Deutschland. Nach einem entnervenden Pauschalurlaub in Tunesien hatte Donna beschlossen, dieses Jahr Ferien ohne Durchfall und Strandlangeweile zu verleben und mich dazu eingeladen. Ich war gerne mitgekommen, denn sowohl mit meiner Stiefschwester, als auch mit den damals fünfjährigen Zwillingen Tim und Tom verbindet mich eine herzliche Beziehung. Auch mit Gerald komme ich gut zurecht. Zwischen uns gilt unausgesprochen das Gesetz von »Leben und leben lassen«, leben wir doch in zwei völlig unterschiedlichen Welten: Gerald als Finanzbeamter – ich als selbstständige Grafikerin. Unsere Gespräche versanden meist schon nach wenigen Sätzen. Doch wir haben gelernt, in freundschaftlicher Eintracht miteinander zu schweigen.

An diesem besagten Tag waren Gerald, Donna und die Kinder zu einem Tagesausflug in einen Wildpark aufgebrochen. Nachdem ich sie früh morgens winkend verabschiedet hatte, lag der ganze wunderbare Tag vor mir, wie ein frischgebackener Kuchen, den man nur anschneiden muss, um ihn zu genießen. Und genau wie es mir manchmal schwer fällt, zu entscheiden, an welcher Stelle des Kuchens ich das Messer ansetze, musste ich mir aus den vielen Möglichkeiten erst auswählen, was ich tun wollte. Daher ging ich zurück ins Blockhaus, goss mir noch einen Rest Kaffee in die blau geblümte Tasse und dachte nach. Dabei suchte ich die Wanderkarte nach interessanten Zielen ab und entschied mich für eine Rundwanderung. Das war einer der Zufälle, die in Wahrheit Leitsysteme der Vorsehung sind.

Wie Donna ausgerechnet auf diesen Ferienbauernhof kam, weiß ich nicht. Vermutlich hatte sie das Angebot einem Katalog entnommen oder war der Empfehlung einer ihrer zahlreichen Freundinnen gefolgt. Jedenfalls hätte ich nie gedacht, dass der Aufenthalt dort so schön sein könnte. Das Gehöft liegt auf einer Hochebene über dem Rhein, oberhalb eines kleinen malerischen Städtchens. Weit und breit keine Durchgangsstraße, die Kinder konnten den ganzen Tag draußen zwischen allerhand Getier herumtollen. Langeweile war in den letzten acht Tagen zum Fremdwort geworden. Gerald saß gerne auf der Terrasse vor dem Blockhaus und las seine geliebten Fachzeitschriften oder blickte gedankenverloren auf die vorbeiziehenden Schiffe und Eisenbahnen rechts und links des Rheins. Donna genoss es sichtlich, nicht dauernd hinter den Zwillingen her sein zu müssen. Tim und Tom können ganz schön anstrengend sein. Ich unternehme zwar gerne ab und zu etwas mit den Zweien, aber ich bin froh, dass ich sie hinterher wieder bei ihrer Mutter abgeben darf und mich in trauter Einsamkeit erholen kann. Wie Donna es schafft, den ganzen Tag mit ihnen fertig zu werden, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel.

Ich wanderte den Feldweg steil bergauf und wurde nach kurzer Zeit mit einer herrlichen Aussicht belohnt. Links im Tal wand sich das silbrig funkelnde Band des Rheins zwischen den steilen Ufern, auf halber Strecke nach unten glänzten die Dächer der Stallgebäude in der Sonne. Daneben waren einige Ferienhäuser zwischen grünen Büschen erkennbar, auf der Weide grasten friedlich mehrere Pferde. Im Hintergrund sah man die Türmchen und Zinnen der Schönburg. Ich erinnere mich noch heute gut an diese Idylle. Schon seit meiner Kindheit habe ich die Angewohnheit, mir besonders wertvoll erscheinende Augenblicke einzuprägen, sie innerlich zu konservieren. Ich kann diese Bilder, Geräusche und Gerüche später vor meinem inneren Auge zurückholen und mich in die Situation zurückversetzen. In diesen inneren Archiven blättere ich oft hin und her. So sind für mich lange Zugfahrten oder Wartezeiten in überfüllten Arztpraxen kein Problem, ja manchmal genieße ich diese Gelegenheiten sogar.

Nach einer Weile riss ich meine Augen von dieser Idylle los, wanderte weiter zum nächsten Ort und von dort wieder abwärts ins Tal. Der Weg führte an einem lichten Waldrand entlang, als ich plötzlich zwischen Bäumen und Büschen ein metallenes Glänzen entdeckte. Magisch angezogen, bog ich auf einen kleinen ausgetretenen Pfad ab und stand schließlich vor einem schmiedeeisernen Zaun, der mitten im Wald ein großes Rechteck eingrenzte. Zwischen hüfthohen Gräsern ragten Steine heraus – es handelte sich offenbar um einen Friedhof. Ich war verwundert, an dieser Stelle einen Friedhof zu finden, denn bis zum Städtchen waren es noch mindestens zwei Kilometer steil bergab, außerdem war auf der Wanderkarte kein Hinweis eingezeichnet. Meine Neugier war geweckt. Der kleine Pfad endete vor einem Tor, welches sich leicht öffnen ließ, und so trat ich ein.

Langsam schlenderte ich zwischen den verwitterten Grabsteinen umher.

Dann sah ich einen Stein, der anders war als die übrigen. Er war noch nicht bemoost und man konnte die Inschrift lesen.

Kennen Sie die Sorte Träume, in denen man genau weiß, was als nächstes passiert, aber wie gelähmt nichts dagegen tun kann? So ähnlich, glaube ich, fühlte ich damals, als ich die Schriftzeichen vor mir immer wieder las, als ob ich sie dadurch wegzaubern könnte. Wenn nun auf dem Grabstein »Susanne Müller« eingraviert gewesen wäre, hätte es mich nicht weiter berührt, auch wenn ich Susanne Müller heißen würde. Davon gibt es sicherlich mehrere auf der Welt. Auf diesem Stein jedoch stand »Jael Winterstejn«. Jawohl, Winterstejn mit j und nicht mit i. So lautet mein Name und ich habe bisher noch niemanden getroffen, der ebenfalls Jael Winterstejn heißt – schon gar nicht mit j. Es lebte allerdings schon einmal jemand gleichen Namens: meine Großmutter.

Von dieser Jael Winterstejn wusste ich nur, sie wäre in einem Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges umgekommen. Wie Sie schon richtig vermuten: Jael Winterstejn ist ein jüdischer Name, er wurde meiner Großmutter zum Verhängnis. Meine Mutter wollte von religiösen Dingen nichts wissen, sie war der Meinung, jeder müsse sich seinen Gott selber suchen. So ist mein Name das einzig Jüdische an mir. Ich versuchte die Fassung wieder zu gewinnen. Während eine Stimme tief in mir immer wieder sagte: »Diese Jael ist deine Großmutter«, hielt der Verstand laut dagegen: »Quatsch, das kann nicht sein. Das ist nur ein Zufall. Es gibt eben noch mehr Jael Winterstejns, so einzigartig bist du nun auch wieder nicht.«

Jedenfalls übernahm der logisch denkende Teil in mir nach einer Weile wieder die Oberhand. Ich fotografierte den Grabstein, diesmal mit meiner Kamera, nicht nur mit den Augen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es höchste Zeit war, weiterzugehen, und so verließ ich diesen denkwürdigen Ort, nicht ohne einen kleinen Stein auf das Grab von Jael Winterstejn zu legen, wie es auf jüdischen Friedhöfen Brauch ist.

Sie denken jetzt vielleicht: »So, nun hat sie möglicherweise das Grab ihrer Großmutter gefunden, ein schöner Zufall, aber was nützt ihr das? Eine lebendige Großmutter wäre allemal besser gewesen.«

Ja und nein. Die richtige Antwort herauszufinden, war gar nicht so einfach. Die Suche nach der Wahrheit führte mich durch einen Irrgarten historischer Emotionen mitten in Europa und eigentlich bin ich mir heute gar nicht so sicher, ob ich das Rätsel vollständig gelöst habe. Ich möchte es Ihnen überlassen, darüber zu befinden. Aber lassen Sie mich weitererzählen.

Donna fand mich nach ihrer Rückkehr auf der Veranda vor dem Blockhaus. Mein Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass ich ohne Buch oder Zeitschrift einfach nur so da saß, ließ sie schon ahnen, dass etwas Besonderes vorgefallen sein musste.

Donna ist meine Stiefschwester, wir haben den gleichen Vater – Paul Graham. Er war Dirigent eines bekannten Kammerorchesters und liebte zwei Frauen. Mit Donnas Mutter ist er verheiratet. Hanna Winterstejn spielte eine Zeit lang die erste Geige in besagtem Orchester, aber nicht im Leben von Paul Graham. Besser gesagt: Meine Mutter lehnte seine Heiratsanträge kategorisch ab, selbst nachdem ich geboren war. Schließlich kapitulierte mein Vater und heiratete Helen, eine englische Opernsängerin. Helen wusste von Anfang an Bescheid, denn mein Vater kümmerte sich finanziell um mich und besuchte uns auch regelmäßig. Doch dann wehte der Hauch der Vorsehung über das Leben meiner Mutter und brachte diesmal den Geruch des Todes mit sich. Leukämie machte mich im Alter von sechs Jahren zur Waise und nun geschah ein echtes Wunder: Ich wurde in die Familie meines Vaters aufgenommen. Alle Vorbehalte waren angesichts meines Schicksals verflogen. Donna war damals drei Jahre alt und freute sich wohl über die nun dauernd zur Verfügung stehende Spielgefährtin. Genau wie ich nannte sie ihre Mutter »Helen« und den Vater »Paul«. Wir wuchsen in einer unkonventionellen, von den 68ern geprägten, Künstlerfamilie auf.

Tim und Tom hüpften in einer Art Indianertanz um mich herum. »Tante Jael, wir gehen in ein Esstaurant«, kreischten sie dabei immer wieder. Endlich erbarmte sich Gerald, schnappte Tim am Arm, was auch Tom veranlasste aufzuhören, weil ein Solo-Indianertanz nur noch halb so viel Spaß macht. »Es heißt Restaurant!«, klärte Gerald seine Sprösslinge auf. »Und jetzt lasst Jael mal in Ruhe.« »Aber wenn man doch dort was essen tut, dann muss es doch Ess-taurant heißen?«, maulte Tim, immer noch unter den väterlichen Arm geklemmt. »Vielleicht gibt es Reste zu essen, eklige alte Fischstäbchen oder Gummipommes!«, jubilierte Tom, »deswegen heißt es Rest-aurant.« Gerald seufzte, ließ Tim los und die Jungs flitzten Richtung Stall.

Donna und Gerald sahen wirklich geschafft aus. Der Tag sei schön gewesen, aber die Jungs hätten wieder mal perfekt dafür gesorgt, dass keine Langeweile aufkam. Wir beschlossen, uns etwas vom Pizzaservice bringen zu lassen und auf den Besuch im Gasthaus zu verzichten. »Wahrscheinlich waren die Reste alle …«, meinte Tim altklug zu seinem Bruder. Somit war der Abend gerettet und als die Zwillinge in ihren Stockbetten lagen, konnte ich endlich in Ruhe von meinem Erlebnis berichten.

Donna und Gerald waren ebenfalls ergriffen. Wir sahen uns das Foto des Grabes auf Geralds Laptop an. Und wieder schlug mein Herz heftig, als ich las »Jael Winterstejn, 1916–1978«. Sie war in meinem Geburtsjahr gestorben.

»Sie ist hier beerdigt, also können uns die Leute auf der Stadtverwaltung sicher mehr darüber sagen«, meinte Gerald. So beschlossen wir, am nächsten Tag der Stadtverwaltung einen Besuch abzustatten. Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Im Traum lief ich durch die düster erleuchteten Gassen einer fremden Stadt. Ich wollte unbedingt eine Gestalt einholen, die einige Meter vor mir lief. Egal, wie ich mich bemühte – der Abstand blieb gleich.

Am nächsten Vormittag begleitete mich Gerald in die Stadt. Ich war froh, dass er die Sache in die Hand nahm – als Beamter gelang es ihm auf Anhieb, die zuständige Person in diesem Bürolabyrinth aufzuspüren. So traten wir nach knapp einer Stunde wieder hinaus ins Sonnenlicht. In meiner Hand hielt ich einen kleinen gelben Zettel mit einer 30 Jahre alten Adresse aus Israel.

Der Standesbeamte – einer von der Sorte »lustiger Rheinländer« – fand unser Anliegen interessant. Nicht nur, dass er wegen uns in die staubigen Katakomben des Archives abtauchte, nein, er telefonierte sogar mit seinem Vorgänger. Der konnte sich an diesen besonderen Fall »Jael Winterstejn« noch düster erinnern. Frau Winterstejn war auf der Durchreise plötzlich schwer erkrankt und im örtlichen Krankenhaus gestorben. Ihr Begleiter, laut Akten ein gewisser Elias Cukerman, wollte die Leiche nicht nach Israel überführen lassen und da es keine weiteren Angehörigen gab, wurde Jael Winterstejn nach seinen Wünschen auf dem örtlichen Judenfriedhof in aller Stille beigesetzt. Dort war seit 1941 niemand mehr beerdigt worden, denn auch das idyllische Städtchen am Rhein war damals gründlich »rassisch gesäubert« worden.

Warum diese Frau Winterstejn nach Deutschland gereist war, konnte mir niemand sagen. Hatte sie womöglich nach uns gesucht? Die Adresse von Elias Cukerman aus Haifa war eine Möglichkeit, Antwort auf diese Frage zu finden. Doch die neue Gewissheit, dass diese Jael Winterstejn in Prag geboren wurde, erschien mir ungleich bedeutsamer. Denn auch meine Mutter kam in dieser Stadt zur Welt.

Die restlichen beiden Urlaubstage verbrachte ich mit langen Spaziergängen. Ich war innerlich aufgewühlt. Am letzten Abend saß ich vor dem Grab und hielt innere Zwiesprache. Sollte ich die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein lassen? Was würde sich schließlich an meiner Gegenwart ändern, wenn ich mehr über diese Tote in Erfahrung brächte? Ja, was?

Gleichzeitig ahnte ich, dass ich nun nicht mehr einfach so weiterleben konnte, als wäre nichts geschehen – und da war der Traum. Die düstere fremde Stadt, durch die ich fast jede Nacht streifte. Und ich hatte überhaupt keine Lust, nach Prag zu fahren.

Erben des Schweigens

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