Читать книгу Familie Kuckuck wandert aus - Sabine Engel - Страница 7

Schwarz-weiße Mitbewohner

Оглавление

„Oh, je! Jule, das tut mir so leid“, klagt Bea nun bestimmt zum fünften Mal in den letzten paar Minuten. „Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich muss irgendwie im Schlaf den Wecker ausgestellt haben.“

„Hm.“

Ganz im Gegensatz zu meinen sorgfältig durchdachten Plänen, nach denen wir früh aufgestanden und Candis vor ihrer eigenen Abreise in ihrem alten und unserem neuen Apartment getroffen hätten, riss uns ihr Anruf um 9.23 Uhr aus den Federn.

Natürlich war nichts gepackt.

Jana reagierte als erste. Bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, war sie im Bad verschwunden und verließ kurz darauf angezogen und mit geputzten Zähnen das Zimmer, um für uns alle Toastbrote zu schmieren und Einwegbecher mit Kaffee, Tee und Kakao zu organisieren. Stina half ohne zu murren Tim beim Anziehen, sodass ich mich um das Taxi kümmern und Bea alle unsere im Zimmer verteilten Klamotten wahllos in diverse Koffer und Taschen stopfen konnte.

Keine halbe Stunde später sitzen wir nun wieder in einem Taxi. Dieses Mal fahren wir zum Flughafen in der vagen Hoffnung, Candis noch vor der Sicherheitskontrolle zu erwischen. Das Geld für die Miete habe ich auf dem Weg in aller Hektik einem Automaten entlockt und damit mein Konto an den Abgrund des Dispo-Bereichs geführt. Wenn wir jetzt nicht die Schlüssel bekommen, war alles umsonst.

„Ich würde dir meinen Anteil sofort geben, wenn ich ihn hätte. Ehrlich!“, schwört Bea. „Dabei bin ich mir ganz sicher, die richtige Nummer eingetippt zu haben.“

Der Automat war sich da weniger sicher und behielt nach dem dritten Fehlversuch Beas Karte kurzerhand ein. Doch darum werden wir uns später kümmern. Jetzt drängt die Zeit. Was hat Candis gesagt? Boarding Time 10.20 Uhr.

Die Digitalanzeige neben dem leise vor sich hin ratternden Taximeter zeigt 10.17 Uhr, als wir endlich vor dem Flughafen halten. Ich bitte den Fahrer auf mich zu warten, lasse Bea und die Kinder zurück und sprinte, so schnell ich kann, durch die Abflughalle, an den Schaltern vorbei, bis zum Eingang der Sicherheitskontrolle.

Eine junge Frau mit Dreadlocks und Augenbrauenpiercing hockt im Schneidersitz auf dem Boden neben der Schlange und hält demonstrativ einen Schlüsselbund in die Höhe.

„Candis?“, rufe ich mit dem letzten bisschen Sauerstoff in meinen Lungen.

Sie wiegt den Kopf. „Jule? Great.“ Dabei wirft sie einen Blick auf die Uhr und sagt schnell: „Ich habe dir hier die Adresse aufgeschrieben. Das Haus hat eine mega Lage. Total coole Gegend. Die Wohnung liegt im Garden Level. Der Eingang ist hinten. Du wirst alles finden.“

„Bestimmt“, versichere ich, nehme Schlüssel und Zettel entgegen und überreiche meinerseits den Umschlag mit der Miete. „Ich hätte dir das Geld auch überweisen können. Sollen wir Blumen gießen oder so?“

„Nicht nötig. Das Apartment versorgt sich selbst.“ Candis lacht. „Ich war die letzten beiden Wochen nicht dort. Mein Mitbewohner ist letzten Monat abgereist, und ich habe bei einem Freund gewohnt. Sein Zimmer ist näher an der Uni. Ich hoffe, alles ist okay. Die Vermieter wohnen oben, sind im Sommer aber selten da. Wenn etwas ist, hast du meine Nummer.“

„Klar.“

Candis hebt die Hand zum Gruß. „Enjoy your stay!“

Ich winke ebenfalls, froh, dass die Übergabe so problemlos verlaufen ist, und beeile mich, zum wartenden Taxi zurückzukehren, wo ich dem Fahrer den Zettel mit der Anschrift unter die Nase halte.

„Coole Gegend, wirklich“, bestätigt Bea Candis Worte, als das Taxi von der Hauptstraße in eine der Nebenstraßen abbiegt.

„Up-and-coming“, kommentiert unser Fahrer mit starkem indischen Akzent.

Jana rümpft die Nase. Wahrscheinlich denkt sie dasselbe wie ich. Wenn man wie Bea drei Jahre seines Lebens in einem Bauwagen verbracht hat, hat man definitiv eine andere Vorstellung von cool. Die Gegend mag im Aufschwung sein, bis sie irgendwann schick ist, wird es noch eine Weile dauern, eine ziemlich lange Weile. Immerhin habe ich entlang der Hauptstraße ein nettes Studenten-Café erspäht, gleich neben einem Laden für indische Hosen und gebatikte T-Shirts. Wer trägt so etwas noch? Außerdem gibt es kleine Geschäfte mit Gemüse aus der Region und sogar ein etwas alternativ angehauchtes Kino. Die Straße, in die wir gerade einbiegen, besteht aus einfachen Holzhäusern, von denen einige vor Kurzem einen bunten Anstrich erhalten haben. Doch der überwiegende Teil wartet schön länger auf frische Farbe. Trotzdem scheine ich, zu meiner eigenen Überraschung etwas richtig gemacht zu haben.

„Mami, das ist schön“, ruft Stina und zeigt auf ein türkisfarbenes Haus mit blühenden Azaleen im Vorgarten, vor denen unser Taxi nun hält. Es hat große, weiß gerahmte Sprossenfenster. Vier Stufen führen auf eine kleine Terrasse mit einer gemütlichen Bank, die neben der ebenfalls weiß getünchten Eingangstür steht.

„Das ist wirklich bezaubernd und bestimmt nicht billig. Welche Studentin kann sich so etwas leisten? Es sei denn, sie hat reiche Eltern.“ Bea klettert aus dem Taxi und streckt sich.

„Sie ist bestimmt ein Youtube-Star“, vermutet Tim sachlich, und Jana verdreht die Augen.

„Oder das“, stimmt Bea ihm zu und wispert: „Du hast wirklich Glück, dass Björn so viel Verständnis hat.“

„Wie kommst du jetzt auf Björn?“

„Na, die Miete hat er bezahlt, oder?“

„Nein, das hat er nicht. Darum geht es ja. Ich bin hier, weil ich endlich wieder auf eigenen Beinen stehen will.“

„Ach, Jule. Wozu willst du auf zwei Beinen stehen, wenn ihr gemeinsam vier habt?“ Bea spitzt die Lippen und schließt für einen Moment theatralisch die Augen, als müsste sie sich sammeln.

„Wirklich hier, Mam?“ Jana gönnt mir einen vorsichtig erfreuten Blick, der mein Herz glücklich aufhüpfen lässt.

Sicherheitshalber vergleiche ich noch einmal die Adresse auf meinem Zettel. Wie es scheint, ist alles korrekt.

„Ja, allerdings hat Candis gemeint, der Eingang zu unserer Wohnung wäre hinten“, sage ich laut, um Bea und Tim zurückzurufen, die bereits die ersten Koffer auf der Treppe abgestellt haben und nun die Bank erproben.

„Schade, das hätte mein Lieblingsplatz werden können“, stellt Bea fest und bleibt noch für einen kurzen Moment sitzen, als müsste sie sich von einem Traum verabschieden. Dann folgt sie Stina, Jana und mir um das Haus herum.

„Hier hoch!“, ruft Tim, der schon vorausgestürmt ist.

Ich höre seine Trippelschritte, die ein paar Holzstufen hinaufklettern. Dann sehe ich ihn. Er steht über uns auf einer größeren, ebenfalls in sauberem Weiß erstrahlenden Terrasse und drückt seine Nase an einer Glasscheibe platt.

„Ohhh. Unser Fernseher ist mindestens so groß wie Papas Schreibtisch.“

„Siehst du einen Pool?“, erkundigt sich Jana.

„Nein, nur einen Sessel, Bücher, einen Teppich und einen Tisch mit Stühlen.“

„Macht nichts, es wäre auch nicht unser“, faucht sie plötzlich in gewohnter Bissigkeit. „Unser Eingang ist nämlich da unten.“

Mit einem leichten Stechen auf Höhe meines Herzens folge ich ihrem Blick, der unter die Terrasse führt, wo sich zwischen allerlei Gerümpel, zwei Stapeln mit Kaminholz und ein paar Spinnweben noch eine Tür befindet.

„Das sieht gruselig aus“, jammert Stina.

Weil ich ihr nicht recht geben will, mir aber auch gerade nichts Positives einfällt, antworte ich lieber nicht. Beautiful BC. Alles wird gut.

„Papperlapapp, mein Schätzchen.“ Bea hat mir den Schlüssel aus der Hand genommen und sich einen Weg durch unsere Taschen gebahnt. „Dieses Haus hat eine ganz wunderbare Energie. Das spüre ich sofort.“ Sie lächelt breit, zieht den Kopf unter einem besonders niedrig hängenden Balken ein und winkt Stina, ihr zu folgen. „Möchtest du aufschließen?“

Stina nickt. Ich atme erleichtert auf und drücke Jana kurz an mich und flüstere: „Keine Sorge, es ist ja nur für den Übergang. Okay?“

Meine Große befreit sich stumm aus meiner Umarmung, nimmt ihren Bruder an die Hand und folgt den anderen ins Dunkel, während ich mit dem Gepäck zurückbleibe.

Ich habe gerade den letzten Koffer in den dunklen Flur gewuchtet und die Tür hinter mir geschlossen, als von irgendwoher Stinas Ruf erschallt.

„Oh, wie niedlich! Wohnt es hier?“

Schnelle, kurze Schritte, dann höre ich Tim. „Was?“

„Shh, sei leise. Du machst ihm Angst.“

„Was habt ihr da?“ Jana.

„Ein Eichhörnchen.“

„Wo?“

„Na, da. Da vorne, auf dem Bett.“

Für einen Moment halte ich den Atem an. Dann vernehme ich auch Beas Schritte. „Von einem Haustier hat eure Mutter gar nichts gesagt.“ Pause. „Aber man kann doch kein Eichhörnchen in einer … Oh.“ Beas Stimme bricht ab.

Das ist nicht gut. So schnell ich kann, versuche ich mir in dem engen Flur einen Weg um oder über unsere Taschen zu bahnen. Warum um alles in der Welt hat denn niemand daran gedacht, das Licht einzuschalten? Vorsichtig mache ich einen weiteren Schritt, bleibe jedoch mit dem Fuß in Stinas Rucksack stecken und stürze mit den Händen voran zwischen Janas Koffer und Beas Seesack, wo sich die spitze Rückenflosse von Tims Hartgummi-Hai in meine Hüfte bohrt.

„Autsch!“

„Jule“, ruft Bea, „was auch immer du da tust, mach jetzt keinen Lärm. Stina, Tim, Jana. Rückzug. Sofort!“

„Was ist denn los?“ Stinas Stimme zittert.

„Das ist kein Eichhörnchen“, stellt Jana kühl fest.

„Zurück!“ Bea.

„Wieso nicht?“, will mein Jüngster sofort wissen. „Es hat doch einen Schwanz.“

„Jana.“ Beas Stimme klingt eindringlich. „Nimm jetzt deinen Bruder, und dann verlassen wir alle zusammen das Apartment.

„Und das Eichhörnchen?“ Stina klingt verzweifelt.

„Um das kümmern sich deine Mami und ich.“

Blöderweise steckt Mami immer noch im Flur fest. Mein linkes Knie rutscht tiefer in den Spalt zwischen den Koffern, während meine Hände vergeblich nach Halt tasten. Obwohl die Rückenflosse des grau-blauen Meerungeheuers nichts von ihrer Boshaftigkeit verloren hat, verbeiße ich mir tapfer jeden weiteren Laut. Wenn ich nur ein bisschen mehr sehen könnte.

Jana mit Tim auf dem Arm taucht wie ein Schatten aus der Dunkelheit auf. „Eichhörnchen sind nicht schwarz-weiß“, erklärt sie leise.

In meinem Kopf rumort es. Während ich meine Hand aus einer Taschenschlaufe befreie, muss ich an Bugs Bunny denken, komme aber irgendwie nicht weiter. Hat sich ein Kaninchen bei uns eingenistet?

Hinter Jana folgen Stina und Bea.

„Raus, alle raus und zwar leise“, bestimmt Bea.

Sie hilft mir auf die Beine und schiebt mich vor sich her, dem hellen Rechteck entgegen, das vermutlich die Fensteröffnung in unserer Haustür ist.

Erst als wir uns alle unter der Terrasse versammelt haben, wage ich zu sprechen. „Was ist denn passiert?“ Ich schaue von einem zum anderen.

Stina hat Tränen in den Augen. Tim guckt ratlos zu Jana, und meine Große presst die Zähne aufeinander.

„Das kann doch jetzt echt nicht wahr sein“, zischt sie.

„Was?“ Ich schaue zu Bea.

Meine Freundin versucht es mit einem Lächeln. „Nun reg dich nicht gleich auf, Jule.“

Wenn Bea so anfängt, kann ich mir eigentlich sicher sein, dass ich mich gleich ganz fürchterlich aufregen werde. Trotzdem zwinge ich mich zur Ruhe.

Beas Lächeln ist ungewöhnlich steif. „Das kriegen wir schon wieder hin. Vielleicht sollten die Kinder oben auf der Terrasse warten oder ein Eis essen gehen. Gut wäre es auch, wenn wir den Flur frei räumen könnten.“

„Ich habe doch gerade erst alle Koffer hineingeschafft.“

„Glaub mir, Jule. Unsere Sachen sind überall besser aufgehoben als in diesem Apartment. Zumindest für den Moment.“

„Kann mir bitte jemand erklären, was hier eigentlich los ist?“

„In unserem super-coolen Apartment ohne Pool wohnt bereits etwas“, presst Jana hervor.

„Etwas? Ein Tier? Warum fangen wir es nicht ein und bringen es hinaus?“

„Nun“, Bea lächelt mich beschwörend an und streichelt meinen Arm. „Du erinnerst dich bestimmt an diese Zeichentrickserie mit dem Hasen.“

„Bugs Bunny.“

Sie nickt. Offenbar habe ich den richtigen Riecher gehabt. Wo ist das Problem?

„Da gibt es doch dieses niedliche Tierchen mit dem französischen Akzent, das in die schwarz-weiße Katze verliebt ist. Weißt du noch?“

„Pepé le Pew?“

„Ja.“ Bea seufzt.

In meinem Kopf drehen sich ein paar Räder, rasten ein, und mir wird schlecht. „Das Stinktier?“ Meine Stimme hört sich seltsam schrill an. „In unserem Apartment lebt ein Stinktier?“

„Echt?“ piepst Tim. „So sieht ein Stinktier aus? Darf ich noch mal rein? Ich habe es gar nicht richtig gesehen.“ Er zieht Jana am Ärmel. „Kannst du mit deinem Handy ein Foto machen? Papa möchte es bestimmt auch sehen. Bitte!“

„Spinnst du? Ich gehe da nicht wieder rein!“, kreischt Jana.

Stina presst ihren Kopf in meinen Bauch und schluchzt. „Ihr dürft es nicht töten.“

„Das werden wir auch nicht“, erklärt Bea, während ich gleichzeitig etwas murmle, das eher auf das Gegenteil hinausliefe.

„Eure Mami wird es einfangen und ihm die Freiheit schenken.“

Bevor ich etwas einwenden kann, höre ich Stina fragen. „Kannst du das, Mami? Ehrlich? Ohne ihm wehzutun?“

„Eure Mami kann alles“, versichert Bea.

Vier Augenpaare richten sich voller Vertrauen auf mich, und mein Herz schmerzt, als es langsam in meine Hose sinkt. Ich nicke stumm und überlege, was in aller Welt zu tun ist. Vielleicht weiß Candis Rat. Unter dem Vorwand, mir eine Strategie zu überlegen, schleiche ich mich ein Stück vom Haus weg und wähle ihre Nummer. Leider Fehlanzeige. Vermutlich sitzt sie bereits im Flugzeug. Aber über uns, in der Wohnung, die zu der schönen Terrasse und dem riesigen Fernseher gehört, leben die Hausbesitzer. Vielleicht ist die Frage, wie man ein Stinktier aus seiner Wohnung treibt, nicht die beste aller Begrüßungen, aber sicherlich eine gute Gelegenheit, um uns ihnen vorzustellen.

Leider ist niemand da. Ich klingle, rufe und hämmere schließlich mit dem massiven Bronzeklopfer auf das alte Holz der Tür ein, doch niemand öffnet.

„Okay“, sage ich, als ich wieder bei Bea und den Kindern stehe. Ich bemühe mich, so zuversichtlich zu klingen, wie es in dieser Situation nur geht. „Dann wollen wir mal anfangen.“

„Ich helfe dir, Mami. Ich bastle eine Falle.“ Tims Gesicht leuchtet, während er sich schon daran macht, das Gerümpel unter der Terrasse nach fallentauglichem Material zu durchstöbern.

„Das ist eine gute Idee“, erkläre ich.

So ist zumindest Tim beschäftigt. Bea hält Stina im Arm.

Jana spielt mit ihrem Handy. „Ein charakteristisches Merkmal für alle Vertreter der Skunks sind die ausgeprägten Analdrüsen, die ein streng riechendes Sekret absondern, das bis zu sechs Meter weit verspritzt werden kann“, erläutert sie ohne aufzusehen. „Das Sekret wird einem potenziellen Angreifer entgegen gespritzt, wenn dieser auf die Warnung durch Aufstampfen der Vorderpfoten und Anheben des Schwanzes nicht reagiert. Der Geruch ist lang anhaltend und wirkt tränenreizend. Na, toll.“

„Woher weißt du das alles?“

„Wikipedia.“

„Steht da vielleicht auch, wie man ein Stinktier, das es sich in einer Wohnung gemütlich gemacht hat, wieder los wird?“, erkundigt sich Bea interessiert.

Jana scrollt über die Seite und schüttelt schließlich den Kopf.

„Vielleicht können wir es rauslocken?“, flüstert Stina. „Mit Fressen oder so.“

„Und was fressen Stinktiere?“, frage ich und werde prompt von dem giftigen Sekret, das nun aus Janas Augen sprüht, getroffen.

„Skunks sind opportunistische Allesfresser, die vorwiegend fleischliche Nahrung zu sich nehmen“, setzt sie ihren Vortrag fort. „Kleine Säugetiere, Insekten, Wirbellose … Äh, was ist denn das?“

„Schnecken.“

„Igitt! Aber auch Früchte und Nüsse.“

„Katzenfutter“, stellt Bea pragmatisch fest.

„Gut.“ Ich atme tief durch und bete stumm mein Mantra. Om, om, om. Beautiful British Columbia. Ich habe es ja so gewollt. Ich wollte die Herausforderung. Jetzt werde ich sie auch meistern. „Ich suche einen Laden und besorge Katzenfutter. Ihr räumt in der Zwischenzeit das Gepäck aus dem Flur, sodass unser Stinktier den Weg nach draußen findet. Und dann …“

„Aber wir können es doch nicht einfach rauswerfen. Was, wenn es regnet?“ Stina schluchzt verzweifelt.

Bea streichelt ihr zärtlich übers Haar und winkt mir zu gehen. „Herzchen, Stinktiere sind wilde Tiere. Auf Dauer will es bestimmt nicht in einem Haus wohnen“, höre ich sie noch flüstern, während ich mich zurück zur Hauptstraße aufmache.

Natürlich sind die meisten Geschäfte geschlossen. Warum auch nicht an einem stinknormalen Wochentag? In den Cafés sitzen junge Menschen und schwatzen, als hätten sie alle Zeit der Welt. Schön muss es sein, das Leben in Kanada, zumindest wenn man nicht gerade einen Skunk aus seinem Apartment scheuchen muss.

Zum Glück finde ich ein paar Blocks die Straße hinab einen kleinen Tante Emma Laden, in dem mir ein freundlicher Verkäufer eine Dose Katzenfutter und eine Tüte besonders schmackhafter Leckerli verkauft. Als er erfährt, wozu ich das Zeug brauche, starrt er mich einen Moment lang entsetzt an. Dann bittet er mich zu warten und erscheint zwei Minuten später wieder an der Kasse mit einem Gummi-Overall und einer Atemmaske unter dem Arm.

„Ziehen Sie das lieber über“, schlägt er vor und fügt schnell hinzu, „nur für alle Fälle. Wenn etwas einmal nach Skunk riecht, bekommt man es nie wieder hin. Mein Onkel hat vor drei Jahren ein Stinktier überfahren. Er konnte sein Auto danach verschrotten.“

Die Frau hinter mir nickt. „Unser Hund wurde einmal von einem Skunk angegriffen. Wir mussten ihn von einer Spezialfirma abholen lassen, um den Geruch aus seinem Fell zu waschen. Es war grauenvoll.“

Ich merke, dass mir der Mund offen steht, und schließe ihn schnell wieder.

Der junge Verkäufer verzieht sein Gesicht zu einer Art aufmunternder Miene. „Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es mit dem Katzenfutter zu locken, ist bestimmt eine gute Idee.“

„Ziehen Sie trotzdem den Anzug an“, stimmt die Frau hinter mir zu.

Mein Magen rumort und meine Zuversicht hat einen Tiefpunkt erreicht, als ich zu unserem neuen Heim zurückkehre, die Packung mit dem Schutzanzug öffne und mich vor den Augen meiner Kinder in einen Ghostbuster verwandle. Mir fehlt nur noch der Protonen-Rucksack.

„Was, wenn du ihm damit Angst machst?“, fragt Stina.

„Falls das Stinktier unsere Wohnung verlässt“, sage ich und will eigentlich hinzufügen, ‚… ist mir egal, ob es das aus Angst oder wegen des Katzenfutters tut‘, verbeiße mir das jedoch tapfer und lächle souverän. „Das werde ich schon nicht, mein Kleines.“

„Hier steht, Stinktiere versprühen ihr Sekret, wenn sie sich bedroht fühlen“, erklärt Jana.

„Siehst du, es zu bedrohen kommt also gar nicht in Frage.“ Bea grinst und zeigt dabei ihre leicht übereinander stehenden Schneidezähne. „Am Ende schließen wir alle Freundschaft.“

„Ich glaube nicht, dass das Stinktier das möchte“, werfe ich schnell ein, bevor sich Stina Hoffnungen macht. „Bea und ich gehen jetzt hinein. Ihr wartet draußen. Okay?“

Bevor mir jemand widersprechen kann, trete ich ins Dunkel. Weil ich mich nicht traue, das Licht einzuschalten, wer weiß, wie Stinktiere auf plötzliche Helligkeit reagieren, taste ich mich Schritt für Schritt durch den Flur vor, bis ich die etwas hellere Wohnküche erreiche. Von hier gehen die Schlafzimmer ab.

Im ersten Zimmer sehe ich ein Doppelbett und einen Wandschrank, aber keinen Skunk, weder auf noch unter dem Bett. Vorsichtshalber lüpfe ich die Atemmaske und hole tief Luft. Alles riecht normal oder eben so normal, wie eine Wohnung riecht, die seit mindestens zwei Wochen nicht gelüftet wurde. Hier ist das Stinktier jedenfalls nicht.

Fragend drehe ich mich nach Bea um, kann sie aber nirgendwo entdecken. Vermutlich ist das Tier im anderen Schlafzimmer. Vorsichtig, um nicht über unerwartete Hindernisse zu stolpern, schleiche ich zurück zur Küche und weiter zur zweiten Tür. Mit jedem Schritt macht mein Gummianzug knatschende Geräusche. Es würde mich nicht wundern, wenn das Skunk mich bereits erwartet. Auf das Schlimmste gefasst, drehe ich den Türknauf und blinzle in den Raum. In der Zimmermitte versinkt ein riesiges Bett unter einem Gewühl aus Kissen und Decken. Erst will ich weitergehen. Doch dann sehe ich durch das Fenster meiner Maske, dass sich eines der Kissen bewegt. Im nächsten Moment mustern mich zwei schwarze Knopfaugen.

„He, ganz ruhig“, singe ich beschwörend, während ich eintrete und langsam die Dose mit dem Katzenfutter öffne.

Das Stinktier hebt seinen Kopf und schnüffelt.

„Na, komm“, locke ich.

Wegen der Maske klingt meine Stimme gespenstisch dumpf, zumindest in meinen Ohren. Ob das Stinktier mich auch hören kann, weiß ich allerdings nicht. Es beobachtet mich neugierig, bleibt jedoch liegen. Trotz der Maske halte ich den Atem an, mache einen Schritt auf das Bett zu und strecke dem Skunk das Katzenfutter entgegen.

„Ich heiße Jule“, erkläre ich, weil mir nichts Besseres einfällt. „Und das ist meine Wohnung.“

Dem Stinktier scheint es egal zu sein. Also wage ich einen weiteren Schritt und spreche nun lauter. „Wir können uns einigen, du und ich. Du kannst in aller Freundschaft gehen oder …“

Es entscheidet sich für ‚oder’, und ich springe erschrocken zurück.

„Mami, pass auf die Vorderpfoten auf“, höre ich Tim klar und deutlich durch das geschlossene Fenster. Sein Kopf erscheint hinter der Scheibe, neben ihm erkenne ich Grashalme und Janas Sneaker.

„Shhh“, zische ich.

Mir gegenüber hat sich das Stinktier nun erhoben. Es ist etwa so groß wie eine kleine Katze, hat ein flauschiges schwarzes Fell, einen niedlichen Kopf und einen breiten weißen Streifen, der von der winzigen Nase über den Nacken führt, sich auf Höhe der Seiten aufspaltet und bis zu dem buschigen Schwanz reicht. Gefährlich sieht es nicht aus.

„Ist Mam da unten?“, fragt Jana. Kurz darauf verschwinden ihre Füße und ihr Kopf erscheint neben dem von Tim.

„Rutscht mal ein Stück, ihr beiden“. Jetzt schiebt sich auch Bea dazwischen. Sie schlägt ihr Skizzenbuch auf und beginnt zu zeichnen.

Wieso ist sie draußen?

„Seid um Himmelswillen leise“, zische ich wütend.

„Mam, ich glaube, es hebt den Schwanz“, warnt Jana.

Mein Herz pocht, und ich merke, dass die Dose mit dem Katzenfutter in meiner Hand zittert.

„Nein, tut es nicht.“ Bea zeigt mir durch das Fenster den Daumen hoch. „Das machst du ganz prima, Jule. Aber entspann dich ein bisschen. Denk an die hässlichen Falten.“

Om!

„Warum versuchst du es nicht mal mit einem Leckerli?“

Obwohl sich das Skunk nun wieder in Candis’ Decke gekuschelt hat, traue ich mich kaum, mich zu bewegen, ganz zu schweigen davon, mein Gesicht zu entspannen und die Falten zu glätten. Wie soll ich die Tüte mit den Leckerli öffnen, ohne dass sich das Vieh wieder aufrichtet und mir dieses Mal womöglich seine Drüsen zeigt?

„Ja, Mami, leg ihm eine Spur“, schlägt Tim vor.

Hinter der Wand, die an die Küche grenzt, raschelt es. Das Stinktier schaut auf. Schnell mache ich einen Schritt zurück. Mir gegenüber erhebt sich der Skunk. Das Katzenfutter scheint ihm jetzt egal zu sein. Seine gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Wand gerichtet, von der nun ein leises Klopfen kommt. Dem Stinktier gefällt das Geräusch offenbar ganz und gar nicht. Es wuselt unruhig in den Decken und springt schließlich vom Bett direkt auf mich zu. Mit einem Satz rette ich mich hinter die Tür und beobachte verblüfft, wie das schwarz-weiße Pelztier langsam an mir vorbei in Richtung der Küche verschwindet. Doch es ist nicht allein. Ein zweites, viel kleineres Tier krabbelt nun ebenfalls aus dem Bett. Es watschelt etwas ungelenk, weil seine Hinterbeine im Vergleich zu den Vorderbeinen irgendwie zu hoch geraten sind. Schwankend folgt es seiner Mutter quer durch unsere Küche und weiter in den Flur.

„Oh Mami, hast du das gesehen? Es hat ein Baby“, flüstert Stina. Ihr Kopf erscheint in der Tür.

„Ja, habe ich. Aber mach jetzt weiter. Was auch immer du getan hast, ich glaube, es funktioniert.“

Auf Knien schiebt Stina sich den schmalen Flur entlang, wobei sie mit den Fingern leise gegen die Wand klopft und die beiden Stinktiere, denen das Geräusch offenbar etwas unheimlich ist, vor sich her treibt. Ich folge in sicherem Abstand. Erst als der letzte buschige Schwanz im Freien verschwunden ist, sprinte ich vor und schließe die Tür. Dann nehme ich meine Tochter in den Arm und drücke sie fest an meinen Ghostbuster-Gummianzug.

„Du bist großartig!“

Stina lächelt tapfer. Aber hinter ihren Brillengläsern glitzern Tränen. Die letzten Tage waren einfach zu viel für sie. „Ich hätte sie so gerne behalten“, schnieft sie.

„Glaub mir, es geht ihnen gut“, tröste ich. „Sie haben bestimmt draußen irgendwo einen Bau und konnten nicht mehr zurück, weil die Tür verschlossen war. Jetzt gehen sie nach Hause und machen es sich gemütlich.“

„Meinst du?“

„Ganz bestimmt. Und das machen wir nun auch. Wir packen aus, kaufen etwas Leckeres zu essen und machen es uns hier, in unserem neuen Zuhause, richtig gemütlich.“

„Ich spendiere allen ein Eis“, verkündet Bea. Sie erscheint mit Jana und Tim in der Tür.

„Ich dachte, du hast kein Geld“, erwidere ich etwas schärfer als beabsichtigt.

„Stimmt. Kannst du mir was leihen?“

Ich seufze und nicke ergeben. Eine andere Wahl habe ich eh nicht. „Hauptsache, ich bekomme ein Bier.“

„Na, klar.“ Bea strahlt wie Pepé le Pew beim Anblick des schwarz-weißen Kätzchens. „Das haben wir uns jetzt wirklich verdient.“

Familie Kuckuck wandert aus

Подняться наверх