Читать книгу Familie Kuckuck wandert aus - Sabine Engel - Страница 8
Kein Bier am Canada Day
ОглавлениеEine Stunde und fünfzig Minuten später, so lange brauchen wir, bis drei Kinder und zwei Erwachsene unter dem dünnen Wasserstrahl einer lauen Dusche gewaschen sind, sich aus diversen Koffern mit frischen Anziehsachen eingedeckt und die letzten Keksvorräte geplündert haben, stehen wir vor den verschlossenen Türen des kleinen Supermarkts.
„Auf dem Schild steht ‚open 8 to midnight‘“, verkündet Bea. „Das ist jetzt.“
Ich nicke ratlos und kontrolliere meine Uhr: 13 Uhr 45. Der Verkäufer, bei dem ich eben das Katzenfutter und meinen Gummianzug erstanden habe, hat nichts davon erwähnt, dass sie eher schließen würden.
„Ich habe Hunger!“, mault Tim an meiner Hand.
Stina hockt auf dem Boden und krault den verwahrlosten Hund eines ebenso verlaust aussehenden jungen Mannes, der uns von seiner ausgebreiteten Decke aus einen leeren Kaffeebecher entgegen hält.
„They closed early for Canada Day“, erklärt er und fügt hoffnungsvoll hinzu: „Do you have some change?“
Jana ist mithilfe ihres Handys zum gleichen Ergebnis gekommen. „Am ersten Juli ist Canada Day. Ich glaube, das ist so eine Art Feiertag. Da machen die Geschäfte zum Teil eher zu.“
„Hast du Kleingeld?“ Bea schaut mich fragend an und nickt bedeutungsvoll in Richtung des Mannes.
Verwirrt öffne ich mein Portemonnaie. Bea pickt ein paar mittelgroße Münzen heraus und wirft sie in den Kaffeebecher. Anscheinend hat sie eine gute Wahl getroffen, denn der junge Mann strahlt plötzlich. „Thank you, ma’am.“
„Wieso nennt der dich Mam?“ Stina lässt vom Hund ab und rückt sicherheitshalber etwas näher an mich heran.
„Nicht Mam, ma’am, das ist die Abkürzung von madam, also Frau“, erkläre ich und wende mich wieder an den jungen Mann.
Nach einigem Hin und Her erfahre ich, dass weiter unten auf der Straße ein größerer Supermarkt liege, der trotz Feiertag bestimmt geöffnet habe. Außerdem gebe es in der Nähe ein tolles Café, wo man den ganzen Tag über frühstücken könne, ein echter Insidertipp, und heute Abend finde zum Canada Day ein großes Feuerwerk statt, das wir auf keinen Fall verpassen dürfen. Was auch immer Bea dem Mann gegeben hat, es hat auf jeden Fall seine Zunge gelöst und war insofern wohlinvestiert.
Da ich abgesehen von einem Toast und ein paar Kekskrümeln heute noch nichts gegessen habe, wehre ich mich nicht, als Jana die Straße hinab auf eine verdächtig lange Schlange junger Menschen zeigt. „Ist das das Café?“
Der Mann folgt ihrem Blick und zeigt seine gelben Zähne. „You know, sometimes there are many insiders.“
Ja, offensichtlich gibt es hier viele bestens informierte Insider. Auf der anderen Seite spricht eine lange Schlange hoffentlich für gutes Essen. Und da das Knurren meines Magens langsam von verhalten zu aggressiv übergeht, habe ich keine Lust, nach einer Alternative zu suchen. Daher nicke ich dem Mann zum Abschied zu, gedulde mich, bis auch Bea Lebewohl gewünscht hat, und lasse mich von Jana die Straße hinab bis zum Ende der Schlange ziehen.
Fast eine halbe Stunde müssen wir warten, doch dann sitzen wir auf roten Kunstlederbänken an einem Holzoptik-Tisch, direkt unter den breit grinsenden Köpfen von Kermit und Miss Piggy. Unter der Decke surrt ein alter Ventilator, während eine leicht hyperaktive Kellnerin, die sich selbst als ‚Sue‘ vorstellt, uns umgehend mit eiskaltem Trinkwasser, Kaffee und einer Sitzerhöhung für Tim versorgt, bevor sie wieder bereit steht, um unsere Bestellung aufzunehmen.
„I’d like a beer“, erkläre ich, bereue es jedoch umgehend, weil Sue sofort Block und Stift sinken lässt und mich mit hochgezogenen Augenbrauen mustert.
„We don’t serve alcohol for breakfast“, informiert sie mich und macht dazu ein Gesicht, dass selbst meine Kinder merken, dass Mami gerade etwas ganz Schlimmes gewollt hat.
Bea schiebt mir einen Kaffee hinüber und flüstert: „Ich besorge uns gleich im Supermarkt ein Sixpack.“
Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag seufze ich und widerstehe nur mit Mühe dem Drang, mich unter dem Tisch zu verkriechen. Sue nimmt derweil unsere Bestellung auf. Schon nach zwei Minuten bin ich, obwohl nach wie vor nüchtern, hoffnungslos überfordert. Für die Kinder gibt es Kakao, nicht kalt, nein warm und ja mit richtiger Milch und auch mit Marshmallows, dazu Blaubeerpfannkuchen für Tim, einen Bananenmuffin für Stina und Waffeln für Jana, alles mit Butter und nein, auf keinen Fall Frühstückssirup, sondern mit echtem Ahornsirup.
„Der ist auch viel gesünder“, erklärt Sue, offenbar froh, ein unverfängliches Thema gefunden zu haben, über das sie mich belehren kann. „Wussten Sie, dass Ahornsirup weniger Kalorien als Honig enthält und weder Farb- noch Konservierungsstoffe?“
Das wusste ich bislang nicht. Aber es ist mir auch egal. Ich habe Hunger. Doch selbst den Toast gibt es nicht einfach so. Es gibt ihn in weiß, als Vollkorn- oder Pumpernickel-Version, was auch immer Pumpernickel-Toast sein soll, gebuttert oder trocken. Dazu hätten Bea und ich gerne Eier. Doch nun haben wir die Wahl zwischen Rührei und Spiegelei, einseitig oder beidseitig gebraten, pochiert mit oder ohne Sauce Hollandaise. Etwas planlos versuche ich mich zwischen Speck, Schinken und Würstchen zu entscheiden und auch eine passende Beilage zu finden, bis Bea die Kontrolle an sich reißt.
„We take alles. Everything.“
„Hashbrowns, Bratkartoffeln und Pommes?“
Bea, die, weil Sue Englisch spricht, vermutlich nur die Hälfte verstanden hat, nickt nachdrücklich. „Yes, yes.“
Als schließlich die Teller vor uns stehen, auf denen sich Pommes, Hashbrowns und Bratkartoffeln, Speck, Würstchen, diverse Eiervariationen, Melone und Krautsalat stapeln, reißt sie die Augen auf.
„Die spinnen, die Kanadier. Essen Pommes mit Bratkartoffeln zum Frühstück. Aber wegen des Biers komisch gucken.“
Nachdem Warten und Bestellen bereits den größten Teil der uns offenbar zustehenden Frühstückszeit gekostet haben, geht der Rest umso schneller. Noch bevor ich den ersten Bissen Rührei mit gebuttertem Vollkorntoast gekaut habe, liegt die Rechnung vor uns auf dem Tisch, und ich verschlucke mich vor Schreck fast an meinem Ei. Kein Wunder, dass man sich hier mit dem Frühstücken beeilen muss. Jeder Gast hinterlässt ein Vermögen im Wert einer kleinen Kreuzfahrt. Dazu kommen noch Steuern und Trinkgeld. Da will der Restaurantbesitzer gewiss niemanden abweisen, nur weil der Gast vor ihm zu lange gekaut hat. Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, in aller Ruhe aufzuessen, und erkläre auch den Kindern, dass sie sich nicht hetzen lassen müssen. Erst als der letzte Bissen Hashbrowns von meinen Teller in meinen Magen gewandert ist und dieser satt und zufrieden stöhnt, lasse ich mich in meinen knallroten Kunstledersitz zurücksinken. Für den Rest des Tages brauche ich jedenfalls kein Essen mehr. Auch Bea, Jana, Stina und Tim machen einen glücklichen und wohlgenährten Eindruck, als wir uns langsam von unseren Plätzen erheben.
Wir haben den Tisch noch nicht ganz verlassen, da hat Sue bereits Teller, Besteck und Gläser eingesammelt und die Krümel unauffällig auf den Boden gewischt. Als ich mich an der Tür noch einmal nach ihr umdrehe, sitzt schon eine neue Gruppe hungriger Menschen unter Kermit und Miss Piggy und wird eilfertig durch das Menü manövriert.
Erstaunlicherweise ist es mit vollem Magen gar nicht so schwer, einen geöffneten Supermarkt zu finden, und Bier führen sie auch. Am frühen Abend erreichen wir unser Apartment fürchterlich erschöpft, aber satt, mit einem Sixpack Dosenbier und Tüten voller Lebensmittel, die wir mangels Platz um den Herd herum verteilen und den Rest auf den halb ausgepackten Koffern und Taschen abstellen.
„Wann ist das Feuerwerk?“, fragt Tim.
Was auch immer mein Sohn mit seinen Blaubeerpfannkuchen verzehrt hat, ich möchte auch davon. Es scheint, als hätte er die Anstrengungen der letzten Tage inklusive der neun Stunden Zeitverschiebung mit dem Frühstück einfach hinuntergespült. Ich hingegen würde mich am liebsten in meinem Bett vergraben.
„Gleich, mein Schatz“, vertröste ich ihn müde und lasse mich auf das Futon-Sofa neben dem Kühlschrank fallen.
Die Wohnung mag fünf Schlafplätze und eine coole Lage haben. Was Candis verschwiegen hat, sind die Einzelheiten. Unser neues Zuhause ist so eng und düster, dass es einer Zelle in Alcatraz Konkurrenz machen könnte. Von einem schmalen fensterlosen Flur geht rechts das Badezimmer ab, das exakt einer Person Platz zum Zähne Putzen bietet, die zweite Person stünde bereits in der winzigen Dusche. Dem Flur folgt die Wohnküche, von der aus die beiden Schlafzimmer abgehen. Durch das einzige schmale Fenster, das relativ hoch an der Wand mir gegenüber liegt, sehe ich direkt auf dünne Grashalme, die irgendwo neben der Treppe zur Frontterrasse stehen müssen. Die Decke hängt so niedrig, dass ich froh bin, dass weder Bea noch ich zu körperlicher Größe neigen. Björn könnte wahrscheinlich gerade eben aufrecht stehen, zumindest in der Mitte des Raumes. Unter dem Rauchmelder und in allen Türstürzen täte er gut daran, den Kopf einzuziehen. Sagen wir, das Apartment wirkt ein wenig gedrungen. Dabei hat Candis alle Wände in leuchtenden Farben von gelb über orange, hellgrün bis pink gestrichen. Hell wird es hier unten trotzdem nicht, zumindest nicht ohne Lampen. Diese verdunkeln sich jedoch, sobald der vorsintflutliche Kühlschrank aufbrummt, was etwa alle paar Minuten geschieht und die ganze Wohnung vorübergehend in flaue Düsternis taucht. Zum Glück ist es ja nur für den Übergang. Om.
„Immerhin werden wir in diesem Apartment keines deiner Kinder verlieren“, stellt Bea fest. Sie quetscht sich am Kühlschrank vorbei und lässt sich zu mir auf das Futon fallen. Dann reicht sie mir ein Bier.
„Nee, ich kann jederzeit hören, dass sie noch da sind“, stimme ich zu, „selbst wenn sie draußen spielen.“
Die Scheiben sind so dünn, dass jedes Geräusch von der Straße hereindringt. Auch die Wände bestehen bestenfalls aus Pappe. Daher weiß ich, dass Stina und Jana gerade in ihrem Zimmer aufgeregt miteinander tuscheln. Ich höre sogar das Kratzen von Tims Buntstiften auf seinem Block.
„Und wenn ich mich ganz weit zur Seite lehne, könnte ich Tim bestimmt durch die Wand hindurch kitzeln.“
„Fast wie beim Zelten.“ Bea lacht und öffnet ihr Bier mit einem altvertrauten Zischen. „Dosenbier! Ich fühle mich wie 13.“
„Shh, lass das nicht Jana hören.“
„Keine Sorge. Deine Große trinkt bestimmt noch keinen Alkohol. Sie kommt ganz auf dich.“
„Eher auf Björn, würde ich sagen.“
Bea zuckt die Schultern. „Wie du meinst.“ Sie hebt ihr Bier. „Auf unsere Höhle!“
„Spielen wir, wir sind die Croods?“, zwitschert Tim aus dem Raum hinter der Wand.
Die Croods sind eine Steinzeitfamilie, deren Zuhause eine Höhle ist. Offenbar hat sogar mein Fünfjähriger begriffen, wo wir gelandet sind.
„Bea hat nur einen Scherz gemacht“, antworte ich schnell und proste Bea erschöpft zu. „Auf das Abenteuer.“
Ich gönne mir einen extragroßen Schluck und erschaudere.
„Ihh, das ist doch kein Bier!“, keucht auch Bea neben mir. Sie verzieht das Gesicht und dreht skeptisch die Dose in der Hand. „Alkoholfrei!“
„Mir ist jetzt alles egal.“ Ich versuche noch einen Schluck, während ich beobachte, wie ein Grashüpfer einen der Halme erklimmt, unter seinen Füßen das Gras und ganz weit über sich nur noch Himmel. Freiheit pur. Grashüpfer müsste man sein.
„Nee, ehrlich, Jule. Ich kann viel ertragen. Aber zu sehen, wie du hier auf der Couch abhängst und alkoholfreies Bier in dich hinein kippst, das geht zu weit.“
„Dann musst du neues holen. Ich habe für heute genug erlebt.“
„Das mache ich. Gibst du mir Geld?“
„Ich fürchte, der Rest unseres Bargelds ist für Sues Trinkgeld draufgegangen. Ich habe nur noch die Kreditkarte.“
„Tja, dann musst du wohl selbst gehen.“
„Aber …“ Eigentlich bin ich viel zu erschöpft, um zu protestieren.
„Was macht Mama?“, piepst Tim hinter der Wand.
„Mama Crood geht jagen und bringt gutes kanadisches Bier mit“, erklärt Bea.
„Ich will auch jagen!“, ruft Tim.
Jana und Stina schieben sich mit ihm durch die Tür. Für einen Moment habe ich den Eindruck, sie würden etwas verbergen. Doch dann kommen sie heraus und quetschen sich zu uns auf das schmale Sofa.
„Okay Jule, in der Zwischenzeit werden Jana, Stina und ich Ordnung in unserer Höhle schaffen“, bestimmt Bea und deutet auf das Chaos aus Koffern und Einkaufstüten. „Jana, räum die Feuerstelle frei. Stina, du legst die erbeuteten Tiere in die Kühlfalle.“
Meine Töchter starren Bea verständnislos an.
„Das Fleisch muss in den Kühlschrank, Herzchen.“ Bea lacht. „Und dann könnt ihr bitte eure Koffer auspacken.“
Zu meiner Überraschung erntet sie kein Murren. Widerspruchslos räumen Jana und Stina die Lebensmittel in den Kühlschrank und schleppen die Taschen in ihr Zimmer.
„Lasst im Schrank noch Platz für Tims Sachen. Ich packe seine Tasche aus, sobald ich zurück bin“, rufe ich ihnen hinterher.
„Lass nur, wir kümmern uns darum“, bietet Jana an und hilft sofort Stina, Tims Tasche und sein Spielzeug in ihr Zimmer zu tragen, bevor sie die klapprige Falttür sorgfältig hinter sich schließt.
Einigermaßen verwirrt aufgrund dieser ungewohnten Eintracht und Hilfsbereitschaft mache ich mich mit Tim auf die Jagd.
Leider stellt sich heraus, dass Mami keine begnadete Jägerin ist. Gemeinsam pirschen Tim und ich durch die Gänge des gigantischen Supermarkts und spähen in den Regalen nach vertrauenswürdigen Flaschen. Doch das einzige, was wir finden, sind die Dosen mit dem alkoholfreien Zeug. Sie stehen etwas abseits, im untersten Regalfach, ganz hinten im letzten Gang, als würden sie sich ihrer Existenz schämen. Neben ihnen befinden sich nur noch ein paar Kanister mit destilliertem Wasser.
„Wir könnten uns auf die Lauer legen“, schlägt Tim vor.
„Und darauf warten, dass das Bier von selbst vorbeikommt?“
Mein Sohn nickt begeistert.
„Nein, wir machen das anders“, beschließe ich. „Wir fragen die Frau an der Kasse.“
Wahrscheinlich hätte ich besser auf meinen Sohn gehört. Denn an der Kasse erklärt mir eine junge Mitarbeiterin namens Katie, dass wir nichts übersehen haben. Der Supermarkt führe gar keinen Alkohol. Immerhin macht sie einen deutlich verständnisvolleren Eindruck als Sue, die Kellnerin. Also wage ich eine zweite Frage, erleide aber erneut eine Niederlage. Alkoholische Getränke werden nur in staatlichen liquor stores verkauft. Ob die am Canada Day geöffnet haben, weiß Katie leider nicht.
„There is one in Whistler“, mischt sich der Mann hinter mir ein. Er trägt ein kariertes Flanellhemd und sieht aus wie ein echter kanadischer Holzfäller. Ihm fehlt nur noch die Axt. „Der ist auch an Feiertagen geöffnet.“
„Das sind zwei Stunden Fahrt!“, weist ihn eine ältere Dame zurecht, die an der Kasse nebenan eine Tüte Äpfel bezahlt.
„Es ist aber eine schöne Strecke, eh!“
Katie wirft mir einen mitleidigen Blick zu. „Vielleicht gehen Sie in eine Bar“, schlägt sie vor.
„Nicht mit dem Kind!“, entrüstet sich die Apfel-Lady und mustert Tim skeptisch. „Das ist gegen das Gesetz.“
Ich gebe auf. Mit Tim an der Hand schleppe ich mich zum Ausgang. Beautiful British Columbia, Beautiful BC, murmle ich leise mein Mantra und schrecke überrascht auf, als mich jemand vorsichtig am Arm berührt.
„You might want to try this“, sagt die Apfel-Lady überraschend sanft und steckt mir eine Visitenkarte zu. Dann lächelt sie mild, tätschelt Tim kurz die Schulter und verschwindet, bevor ich etwas sagen kann, in ihrem Mercedes.
„Was wollte die Frau?“, piepst Tim.
„Ich habe keine Ahnung.“
Verwirrt betrachte ich die Karte in meiner Hand. In blauem Druck auf weißem Grund, eine Farbwahl, die gewiss die Hoffnung symbolisieren soll, leuchtet mir die gebührenfreie Hotline der Anonymen Alkoholiker entgegen.
Erschöpft und frustriert erreichen Tim und ich unser Apartment. Das sieht allerdings schon recht wohnlich aus. Bea und die Mädchen haben ganze Arbeit geleistet und unsere Höhle in eine aufgeräumte, wenn auch immer noch ein wenig düstere Garden Level Suite verwandelt.
„Diese Kanadier!“ Bea verdreht die Augen, als ich ihr von meinem Erlebnis erzähle.
Gegen meinen Willen muss ich lachen. „Als Jägerin bin ich wohl nicht zu gebrauchen.“
Bea schiebt mich auf das Futon und drückt mir eine frische Dose alkoholfreies Bier in die Hand. „Vielleicht solltest du dich lieber aufs Sammeln spezialisieren. Gleich morgen besorgen wir dir einen alten Einkaufswagen. Damit kannst du dann die Mülleimer abklappern. Wer weiß? An einem guten Tag, entdeckst du bestimmt mal einen abgestandenen Schluck Schnaps in einer der Flaschen.“
„Das ist ekelig.“
Bea grinst. „Ach, was! Der Alkohol vernichtet alle Bazillen.“
„Was habe ich mir nur dabei gedacht?“, frage ich, bevor ich die Dose öffne und die erste Hälfte in einem Zug leere. „Ich hatte ein schönes Zuhause, einen lieben Mann.“
„Tja, aber du wolltest ja Abenteuer erleben.“
„Falsch, ich wollte nach Australien.“
„Das ist im Grunde dasselbe.“
Ich will gerade nachfragen, was Bea damit meint, als Tim auf meinen Schoß krabbelt.
„Gehen wir jetzt zum Feuerwerk?“, quengelt er. „Du hast es versprochen, Mami.“
Ich stöhne. Kann ich nicht hier sitzen bleiben, auf die drei Grashalme starren und mich mit alkoholfreiem Dosenbier zulaufen lassen? Nein, das kann ich nicht, ermahne ich mich sofort selbst und denke an die Frau im Spiegel. Meine Kinder haben für heute schon genug ertragen. „Okay, dann müssen wir jetzt los. Gehen wir alle zusammen?“
Bea nickt ebenfalls erschöpft aber tapfer, und hinter der Wand höre ich Stinas Stimme. Leider kann ich nicht verstehen, was sie sagt. Bestimmt wollen die Mädchen das Feuerwerk auch ansehen. Also rapple ich mich auf und bemühe mich, gute Laune zu versprühen. Immerhin scheint draußen noch die Sonne.
Je näher wir dem Strand kommen, desto voller wird es. Menschen mit rot-weißen T-Shirts, Mützen und Kappen schieben sich durch die Straßen. Überall begegnet uns die kanadische Flagge. Weiß und Rot und Ahornblätter, wohin wir auch sehen, auf Jacken, Hosen und sogar Torten. Die Menschen tragen Picknickkörbe und Decken. Wir haben den Strand fast erreicht, da zupft etwas an meinem Ärmel.
„Mami, hier“, flüstert Stina und zeigt auf den Eingang zu einem Restaurant mit großer Terrasse.
Junge Menschen sitzen im Schein der untergehenden Sonne an den Tischen und schauen auf die Bucht. Einige trinken tatsächlich Bier. Eine Familie mit einem Kleinkind lässt sich gerade an einem der Tische nieder.
Bea und ich wechseln nur einen kurzen Blick. „Meinst du?“
„Sofort!“
Wir schieben uns durch die Tür und stoßen bereits nach zwei Metern auf eine Kellnerin.
„Servieren Sie Bier? Und dürfen wir die Kinder mitbringen?“, frage ich sie geradeheraus. Für höfliche Umwege fehlt mir heute Abend die Muße. Wenn ich gleich eh wieder einen mitleidig-vorwurfsvollen Blick ernte, kann ich mir die Mühe vorab sowieso sparen.
Doch die Frau zeigt ihre makellosen Zähne, und das sieht gar nicht unfreundlich aus. „Natürlich. Wir sind ein Restaurant. Wenn Sie Essen bestellen, ist es kein Problem.“
Bei der Vorstellung, wieder zu essen, will mein Magen schon aufbegehren, aber Bea grinst.
„Wir müssen ja nicht aufessen, oder?“, zischt sie verschwörerisch.
Also lächle auch ich.
Zehn Minuten später sitzen wir auf der Terrasse und genießen die Aussicht. Die Kinder schaufeln Tortilla-Chips, und vor uns Großen stehen endlich zwei frisch gezapfte, kühle Bier. Der Schaum ist vielleicht etwas flach, dafür sind die Gläser bis an den Rand gefüllt. Die tief stehende Sonne lässt das Bier goldig braun leuchten, und kühle Kondenstropfen rinnen langsam außen am Glas hinab. So habe ich mir das vorgestellt.
Gleichzeitig gönnen Bea und ich uns einen großen Schluck. Und dann noch einen. Und noch einen.
„Oh, das ist wirklich gut!“, stöhnt Bea zufrieden und setzt das halbleere Glas vor sich ab. „Daran könnte ich mich gewöhnen.“
„Warte, irgendwo habe ich noch diese Karte mit der Hotline.“
Bea grinst schief und betrachtet ihr Glas. „Cypress Honey Lager. Aha. Also, wenn ich schon Alkoholikerin werde, dann damit.“
Unter dem Namen entdecke ich einen Schriftzug. “It’s good to be here“, lese ich laut.
Jana, die sich gerade drei Nachos auf einmal in den Mund stopft, zieht die Nase kraus. „Jetzt bist du aber optimistisch, Mam“, stellt sie mit vollen Backen fest.
Dann beginnt das Feuerwerk. Und alles, was ich erwidern könnte, wird von unseren begeisterten Ahs und Ohs verschluckt.