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Dorf Kapitel 1
ОглавлениеIch fahre mit dem Fahrrad auf dem Deich. Nee, stimmt so nicht. Oben auf der Deichkrone ist das Radfahren in Olde ja nicht gestattet. Der Deichverbandsvorsitzende und andere Verantwortliche für Deich- und Küstenschutz haben etwas dagegen.
Ich fahre auf dem Fußweg, der von Radfahrern mit benutzt werden darf, neben dem Deich. Schon immer habe ich hier in meinem Dorf an der Elbe gewohnt. Ich fahre gerne mit dem Rad. Meine Oma Bertha hat immer betont, dass das Fahrrad keine Spritkosten verursacht und auch nicht so gefährlich ist wie die Mofa (ja, Oma Bertha sagte immer „die Mofa“). Woraufhin Opa Hermann konterte, dass man aber auf dem Fahrrad nicht so sicher vor den Mitschnackern sei. Vor den Mitschnackern hatten in den 70ern viele Leute Angst. Opa garantiert nicht. Ich denke, er sagte das nur, um seine Frau zu ärgern.
Es ist ein Dezembermorgen. Es herrscht sozusagen Dezember in Nordniedersachsen. Es ist nasskalt und es nieselt. Zum Glück habe ich Licht am Fahrrad und es gibt alle fünfzig Meter eine Straßenlaterne; außerdem hängen jetzt im Advent Lichterketten in den Bäumen und blinkende Weihnachtsmänner an den Häuserwänden.
Heute ist Samstag. Oder eher Sonnabend. Das sagen die Alteingesessenen hier alle. Für mich klingt das auch schöner. Das Wort „Sonnabend“ duftet für mich nach Kindheit und nach Badetag.
Meistens habe ich als Dritte gebadet. Nach meiner älteren Schwester Rieke und meinem Vater. Natürlich im selben Wasser. Ich war schon immer konfliktscheu.
Hat meine Mutter eigentlich nie gebadet? Ich kann mich nicht daran erinnern, aber ich würde es gerne mal wissen. Manchmal rede ich auf dem Friedhof mit ihr, aber Antworten bekomme ich leider keine mehr. Jedenfalls nicht von meiner Mutter. Vielleicht wissen mein Vater oder meine Schwester mehr als ich.
Sonnabend, das klingt für mich auch nach lange auf dem Klo hocken und dabei die Bundesligakonferenz auf NDR 2 hören. Vom Radio kam ich nie weg. Ich fand das auch früher schon spannend. In der Pubertät schwärmte ich noch für den 1. FC Köln. Mein Vater ließ sich immer von meiner Schwester Rieke oder mir das Handtuch zur Wanne bringen, das hatte er vorher nicht bedacht, sich darum zu kümmern. Aber er hatte ja uns. Wir haben ihn auch abgerubbelt, während er uns vollgesabbelt hat. Null Problemo. Mitte und Ende der 70er war man nicht so prüde auf dem Dorf und innerhalb der Familie sowieso nicht.
Das Wort „Sonnabend“ duftet für mich nach Apfelshampoo und nach Pommes und Hähnchen vom Imbiss-Grill an der Bundesautobahn. Sonnabend, der Abend vor dem Sonntag, das ist doch ein sehr logischer Begriff. Niemand der Alteingesessenen sagt hier „Samstag“.
Zurück zu meiner Fahrt zum Bäckerladen, in dem gar kein Bäcker mehr arbeitet. Sondern zwei Damen um die achtzig, die ohne Arbeit nicht leben wollen.
Gören aus dem Dorf riefen früher „Edeka gleich Ende der Karriere!“.
Doch für die beiden Frauen ist das Ende ihrer Karriere noch lange nicht in Sicht. In den späten 90ern hat mal jemand aus der Stadt einen Aufkleber auf dem Mülleimer vor dem Laden hinterlassen, auf dem zu lesen war Wir wollen nicht nur die Hälfte vom Kuchen, wir wollen die Hälfte der Bäckerei! Man munkelte in Olde, dass das bestimmt eine Feministin war.
Die eine Dame ist Hildegard und die besitzt den ganzen Laden. Die andere Dame ist Waltraud und ihre Angestellte und damit zufrieden. Hildegard hat in ihrem kleinen Frischemarkt alles, was man so braucht und auch ein paar Dinge, von denen man sich fragt, ob sie jemals irgendwer brauchen könnte.
Über der Eingangstür, die jedes Mal beim Öffnen laut bimmelt, klebt seit Jahrzehnten eine Jägermeister-Werbung mit einem riesigen Hirschkopf samt Kreuz und Geweih. Der kleine Edeka ist Meeting- Point und Tante Emma-Laden zugleich. Hier werden Geschichten, Kochtipps und Vorurteile ausgetauscht. Feststellungen zum Wetter und zu Beziehungen werden mit auf den Weg gegeben und gute Wünsche für die Feiertage.
An diesem Sonnabend möchte ich vier Brötchen. Die Back- und Wurstwaren darf man sich nicht selber nehmen, die werden einem von den beiden Damen eingepackt. Ich ordere also meine Bestellung.
„Heute wieder nur vier?“, wundert sich Hildegard.
„Ja, Hildegard, danke“, entgegne ich knapp. Damit gibt sie sich natürlich nicht zufrieden.
„Ihr seid wohl wieder nur zu zweit?“-
„Ja.“ Für Hildegards Geschmack viel zu wenig Information.
„Ja, so ist das“, seufzt sie, „wenn die Kinder aus dem Haus sind.“ Sie schaut mich auffordernd an.
Ich finde es auch erstaunlich, nur vier statt zehn Brötchen zu kaufen. Mein Sohn ist zum Studieren weggegangen und nun ist auch meine Tochter ausgezogen. Ich lächle und lasse so früh am Morgen lieber andere schnacken. Mensch, die sind alle schon so fit, denke ich. Ich gähne. Hinter mir in der Brötchenschlange ertönt plötzlich ein Stimmengewirr.
Es werden mal wieder weltbewegende Themen gewälzt.
„Und, wie is?“, fragt unser Nachbar Manni.
„Muss ja…“, antwortet Gunnar.
„Moin, Jan, auch hier?“, fragt Manni und dreht sich kurz zu Jan um.
„Is ja heute nicht so kalt…“, lässt Anette verlauten. Anette ist unsere Ortsvorsteherin und zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins.
„Nee, aber heute Nacht waren null Grad“, weiß Jutta zu berichten.
„Ich nehme heute nur Weltmeister“, sagt Gunnar schnell, als er merkt, dass er dran ist. Hildegard weiß, dass er sieben Stück haben will.
„Frau Meyer im Elbuferweg in Grabsen hat ja echt wieder Pech. Nun sind da ja Ausländer eingezogen in ihren Wohnblock“, erzählt Manni nun mit ernstem Tonfall.
„Ja, das könnte da echt Probleme geben“, bestätigt Ortsbrandmeister Piet Petersen, der gerade erst reingekommen ist und eigentlich gar nicht wissen kann, worum es geht. Piet ist auch einer, der behauptet, dass man als Auswärtiger erst wirklich zur Dorfgemeinschaft gehört, wenn man schon dreißig Jahre auf dem ortsansässigen Friedhof gelegen hat.
Hilfe, denke ich, muss das denn schon vor dem Frühstück wieder mit den ganz harten Themen losgehen? Schlagartig meldet sich meine Migräne wieder. Sie ist wie eine allergische Reaktion auf Stammtisch-Parolen.
Auf meinem Weg zur Kasse frage ich halblaut: „Gibt es überhaupt Orte ohne Probleme?“ Doch niemand hört mir zu. Ich würde am liebsten fragen, wer von dieser „Sonnabend-Früh-Einkaufs-Community“ einen sogenannten „Ausländer“ persönlich kennt, oder eine „Ausländerin“. Mir fällt zu diesen Themen wirklich viel ein. Doch bin ich einfach noch zu müde für solche Diskussionen. Es sind ja auch eigentlich gar keine Diskussionen, sondern hohles Gewäsch. Auch unser Dorf steckt voller Probleme, denke ich automatisch. Völlig normal, wenn unterschiedliche Menschen zusammenleben.
Erst letzte Woche habe ich wieder behauptet, dass in jedem vierten Haus in Olde mindestens ein Alkoholiker lebt. Oder eine Alkoholikerin. Meine Freundin Johanna und ich haben vor zwei Monaten eine „ortsbezogene Volkszählung“ gemacht und haben Strichlisten für derartige Phänomene wie Alkoholsucht in unserem Dorf angefertigt. Dabei ist herausgekommen, dass etwa 27% der Einwohner/innen Probleme mit dem Alkohol haben. Oder sollte man besser sagen, dass sie Probleme ohne Hochprozentiges haben?
Auch haben wir herausgefunden, dass etwa 60% der über Dreißigjährigen öfter mal zusammen mit ihren Eltern auf Konzerte oder zu Sportveranstaltungen gehen. Etwa 45% der verheirateten Frauen sind in ihrer Ehe unglücklich, aber nur 30% der Ehemänner. Eine repräsentative Umfrage war das aber nicht. Die Ergebnisse basieren auf Schätzungen, die wir während einer kleinen Nachtvesper bei einer Flasche Sekt und Spiegeleiern nach dem Feuerwehrball in meiner Küche angestellt haben.
Aufgrund dieser Umstände kann man natürlich nicht von belastbaren Daten sprechen. Doch Johanna und ich sind überzeugt, dass diese Zahlen zu etwa 80% stimmen.
Mein Mann Rolf bestreitet vehement die Anzahl der Alkoholiker. Für ihn sind zwei Flaschen Bier jeden Abend aber auch völlig okay.
Obwohl Rolf erst vor dreißig Jahren nach Olde gezogen ist, kennt er sich mit den Gepflogenheiten unseres Dorfes bestens aus. Er lernt schnell. Rolf ist Berufsschullehrer, aber tief in seinem Innern schlummert ein Landwirt und er hat meinem Vater Hanno von Anfang an gerne bei der Hofarbeit geholfen.
Johannas Mann Stefan amüsiert sich stets über unsere Volkszählungen. Er ist ein waschechter Bayer. Anfangs hatte er Schwierigkeiten, sich in Olde wohlzufühlen. Die Leute waren ihm zu spröde und zu wenig innovativ, wie er stets betonte. Auch die Berge fehlten ihm. Stefan ist Schreiner und die Oldener bezeichneten ihn als „Tischler“.
„Ja zefix, wos moants‘n ia, ois wia i oiwei nua Disch macha dad“, fragte er oft genervt.
Inzwischen ist Stefan integriert, obwohl er immer noch einen kaum verwaschenen bayrischen Dialekt hat. Er ist schon seit zig Jahren der Gerätewart unserer Feuerwehr.Stefan haben wir das jährliche Oktoberfest auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums am Rande unserer Kreisstadt zu verdanken. Ich mag Stefan. Das Oktoberfest mag ich nicht. In unsere Gegend passen Fischerfeste und Faslamsumzüge viel besser. Aber das ist eine andere Geschichte.
Auch in unserem Dorf gibt es natürlich viele Zukunftssorgen. So erzählte unsere Ortsvorsteherin Anette neulich hier im Edeka, dass auch Theissens nicht wissen, ob es mit dem Hof weitergeht. In meiner eigenen Familie ist das ein ganz schmerzhaftes Thema. Auch mein Vater musste unseren Hof vor ein paar Jahren aufgeben.
In unserem kleinen Laden wurde sogar schon mal eine Krimiszene gedreht. Der Film wurde Monate später in der gesamten Republik ausgestrahlt. Hildegard und Waltraud wollten es ursprünglich nicht an die große Glocke hängen, dass in ihrem Geschäft der NDR Filmaufnahmen machen wollte.
Doch der Dorffunk funktioniert in Olde. Anette, Jutta, Manni, Birgit und Uschi ließen es sich natürlich nicht nehmen, am Drehtag dort aufzutauchen. Die Frauen kauften sich neue Oberteile und unser Dorffriseur Henry zauberte wahre Kunstwerke auf den Köpfen der Damen. Für diesen Anlass gab er sich besonders viel Mühe.
So mancher aus dem Dorf hatte auf eine heftige Schießerei oder wenigstens auf eine wilde Verfolgungsjagd gehofft. Der Kommissar, gespielt von Bjarne Mädel, hatte jedoch lediglich den Auftrag, im Edeka Milch und Brötchen einzukaufen und der Kassiererin eine Information zu entlocken. Für höchstens zwei Minuten Film ging damals fast ein ganzer Drehtag drauf.
Ich kam zu spät, um die Kameras und die Stars noch anzutreffen. Zwischenzeitlich hatte ich sogar vergessen, dass an jenem Tag der Krimi gedreht wurde, denn ich musste mit meiner Tochter Lina zum Arzt. Als ich kurz vor Ladenschluss abgehetzt auftauchte, saß Waltraud in sich zusammengesunken auf der Bank vor dem Edeka. Sonst war niemand mehr da. Ich setzte mich zu ihr. Als ich ihre Hände sah, bekam ich einen großen Schreck. Waltrauds Finger waren dunkelrot gefärbt.
„Hilfe, was ist denn mit dir passiert?“, rief ich entsetzt und deutete auf ihre Hände. Seelenruhig beguckte sich Waltraud ihre Finger.
„Ach, mien Deern, ich musste noch Rote Bete schälen für morgen und dat Schietzeug kriegst du ja nicht abgeschrubbt!“, sagte sie schließlich.
„Ach so.“ Ich war erleichtert. Hatte ich doch für einen Moment geglaubt, dass es beim Bäcker tatsächlich einen Messerangriff gegeben hatte.
Waltraud wirkte sehr geschafft. So kannte ich sie gar nicht. Resigniert ließ sie den Kopf hängen, stöhnte auf und erzählte mir, dass sie auch extra zum Friseur gegangen war und sogar etwas Make-up von der Maskenbildnerin aufgetragen bekommen hatte.
Doch hatte sie sich maßlos geärgert, dass ihre Chefin den ganzen Tag nicht vor Ort war. Hildegard wollte ihren Zahnreinigungstermin nicht sausen lassen und hatte noch eine Bekannte in Hamburg besucht.
„Mensch, hier war so viel Trubel, ich bin ganz durch ´n Wind. Und dann macht die sich aussem Staub!“, schimpfte Waltraud. „Aber de Film-Lüüd sünd ganz nett to mi ween, vör allem de Wachtmeister“, berichtete sie nickend weiter, während sie den Ladenschlüssel aus ihrer Kittelschürze kramte und den kleinen Laden zusperrte.
Hildegard soll sich am nächsten Tag angeblich darüber aufgeregt haben, dass den ganzen Tag kaum Umsatz gemacht wurde. Das Filmteam hatte viele Kunden weggeschickt, weil sie nicht bei ihrer Arbeit gestört werden wollten.
Anette und Co berichteten mir, dass sie nicht mal als Statisten dienen durften. Lediglich einzelne Körperpartien wie Jeansbeine und Sandalenfüße waren dann im fertigen Film zu sehen. Ihre Stimmen waren nicht zu hören, und auch der Aufwand mit den neuen Blusen und der frischen Dauerwelle hatte sich für sie nicht ausgezahlt.
Die Dorfsleute mussten fast die ganze Zeit hinter dem Flatterband warten, mit dem der Parkplatz vor dem Bäcker abgesperrt worden war.
Eine gewisse Enttäuschung machte sich in Olde breit.
Beinahe das ganze Dorf guckte ein Jahr später beim Dorffest den gesamten Krimi auf einer großen Leinwand. Von der Handlung bekamen die meisten von uns nicht viel mit. Fast alle waren angetrunken und unterhielten sich lauthals.
Ungeduldig warteten wir auf die Szene, in der Waltraud mit dem Kommissar sprach.
Die zwei Minuten Filmsequenz beim Bäcker waren toll. Waltraud strahlte Bjarne Mädel an und die Frisur saß. Also ihre. Sie hauchte dem Kommissar einen wichtigen Hinweis zu. Man konnte es kaum verstehen. Er nickte ausdrucksstark und rannte aus dem Laden. Seine Einkäufe ließ er stehen. Was wiederum zu einem heftigen Kopfschütteln bei Waltraud führte.
„Diese jungen Leute sind aber auch tüdelig“, bemerkte sie und packte Brötchen und Milch zurück ins Regal.
Die nächste Szene spielte an den Landungsbrücken. Wir spulten mehrmals zurück und guckten die Bäcker-Szene immer wieder. Es erfüllte uns alle mit Stolz, unseren Laden in einem Fernsehfilm zu sehen. Da war es überhaupt nicht mehr schlimm, dass Waltraud und Bjarne Mädel die einzigen bekannten Gesichter auf der Leinwand waren.
Mir hallen die Worte über Probleme und Ausländer noch nach, als ich mit den Brötchen nach Hause radle.
Mein Mann und ich frühstücken also nur zu zweit. Unser Sohn Moritz studiert seit zwei Jahren in Marburg und unsere Tochter Lina ist nach der elften Klasse von der Schule abgegangen und nun für ein Jahr in Australien, um sich die Zukunftssorgen aus dem Kopf zu jobben.
Wären Lina und Moritz jetzt hier, kämen sie gegen elf Uhr in die Küche geschlurft und würden sich noch ein Brötchen kurz vor dem Mittagessen schmieren. Sie hätten bissige Feststellungen parat und Kritik und Hinterfragungen.
Meine Kinder kamen und kommen meistens zu mir mit Problemen oder Zahnschmerzen. Mein Mann war bei so was eigentlich nie ein Ansprechpartner für sie.
Meine Freundinnen und ich machen da die gleiche Erfahrung, dass wir in den Familien oft unfreiwillig die Bosse sind. Bosse werden schon mal angegriffen, aber man traut ihnen auch viel zu. Und Mama-Bosse sind eben auch zum Trösten da.
Ich kann nicht gerade behaupten, dass Olde ein Nest voller Feministinnen ist, aber es gibt viele starke und tonangebende Frauen.
Auf dem Land haben ja in vielen Vereinen traditionell die Männer das Sagen. In unserem Dorf ist das durchaus anders gelagert. Man kann beobachten, dass hier seit Jahrzehnten die wahren Chefs die Frauen sind. Sie beeinflussen die Männer und ganz oft auch die Kommunalpolitik. Unter anderem durch ihre Kunst, köstliche Torten zu zaubern.
Außerdem kochen sie den Kaffee und bestimmen, wie stark der zu sein hat. Die Damenriege schmiert die Brote und zaubert den Eintopf für das Blutspenden und den Adventsbasar. Sie variieren die Dosierung und die Zutaten je nach Sympathiewert der Gäste oder nach Laune.
Aber die Frauen hier sind natürlich nicht nur für das Kulinarische zuständig.
Ortsvorsteherin Anette, Jutta, Hulda und Uschi leiten den DRK-Ortsverein, Teile des Sportvereins und bilden den Vorstand des Landfrauenvereins. Auch außerhalb ihrer offiziellen Ämter unternehmen die vier viel gemeinsam.
Die Damen zicken auch mal ´rum, weil es einfach nötig ist. Weil die Kerle mal wieder nicht zugehört haben, nicht greifbar sind, sie nicht ausreichend informiert haben, weil sie zu lange an der Theke gesessen und auf dem Feuerwehrball nicht mit ihnen getanzt haben.
Einige Frauen in Olde besitzen mittlerweile Höfe, lenken auch Firmengeschicke, größere Kutter und einige sogar LKW´s, wenn es sein muss.
Jeder Hof hatte früher mindestens eine Oma oder eine Großtante, die alles zu wissen glaubte und kluge Ratschläge gab, die allerdings nicht jeder hören wollte.
Unser kleiner Laden hat mehrere Stammkundinnen, die über andere bestens Bescheid wissen und mit diesem Wissen nicht geizen. Auch die Postbotin, die bis vor kurzem in unserem Örtchen die Post austrug, leitete vorzugsweise pikante Informationen weiter. Mal gegen Schnaps, mal für eine Gegen-Information.
Mit dem Getratsche der Damenwelt wird Politik gemacht und es werden Tipps im Umgang mit dem anderen Geschlecht ausgetauscht. Kochrezepte sind nur ein oberflächlicher Vorwand für ein Gespräch. Meistens steigt man schnell sehr viel tiefer in die Materie des Zwischenmenschlichen ein.
Die Frauen unseres Dorfes machen sich gegenseitig Mut.
„Birgit, fahr doch ruhig mal weg mit dem DRK. Der Olle kommt schon klar, der kann auch mal mittags zum Fährimbiss oder auch bei unserer Oma mit essen. Auf einen mehr oder weniger am Tisch kommt das ja bei uns nicht an!“, riet Hulda neulich ihrer Freundin mitten im Edeka.
„Ich weiß nicht…“, erwiderte Birgit daraufhin zögerlich.
„Du, meine Mutter hat immer gesagt, dass Matrosen- und Außenminister-Ehen die besten sind“, wusste Hulda zu berichten.
„Wieso das denn?“, fragte Birgit erstaunt.
„Weil Du den Gemahl dann nur für die Hälfte der Zeit bei dir hast“, sprang Uschi ihrer Freundin Hulda erklärend zur Seite. Viele der engagierten Landfrauen nutzen ihre Erfahrung und das Erfahrene, um andere zu warnen oder eben eine Ratgeberin zu sein.
So wie meine Tante Tilda. Sie ist die jüngere Schwester meiner Mutter Vera. Die beiden sind in Olde geboren.
Meine Tante heiratete mit zwanzig meinen Onkel Wolfgang, einen Werftarbeiter, und wohnte dann zehn Jahre mit ihm in Wilhelmsburg. Ihren Sohn Matzi wollte Tante Tilda aber lieber auf dem Land großziehen. Zu dritt lebten sie über vierzig Jahre neben uns hier in Olde im Deichweg. Fast genauso lange hatte meine Tante eine kleine Boutique in der Kreisstadt.
Vor ein paar Jahren ist sie wieder nach Wilhelmsburg in die Nähe des Inselparks gezogen. In den vierzig Jahren ihres Landlebens hat meine Tante immer wieder vom Leben in der großen Stadt geschwärmt.
Als 2013 Menschen aus aller Welt zur Internationalen Gartenschau nach Wilhelmsburg kamen, entstand bei Tante Tilda der Wunsch, wieder dorthin zurückzukehren. Damals konnte man überall in Hamburg und Umgebung Werbung für diesen Stadtteil und die Gartenschau lesen. Wilhelmsburg sollte grüner werden und urbaner und bunter- möglichst alles gleichzeitig.
Für Tante Tilda ist Wilhelmsburg ein wichtiges Puzzleteil in ihrer Welt. Sie liebt diesen Bezirk, in dem sich Studierende, Arbeiter/innen, Christen, Muslime und Angehörige anderer Religionen tummeln.
Meine Schwester Rieke und ich nennen unsere Tante nur „TT“. Sie ist so schnell und zackig wie diese zwei Buchstaben und wirkt überhaupt nicht altmodisch.
TT ist wieder ledig. Vor etwa fünf Jahren hat sie sich von Onkel Wolfgang getrennt. Die Scheidung ist ein noch laufender Prozess. Die beiden lassen das Ganze allerdings schleifen und widmen sich lieber ihren neuen Aufgaben. Mein Onkel Wolfgang wohnt noch immer mit meinem Cousin Matzi neben uns in Olde. Er verrichtet jegliche Art von Diensten für die Kirchengemeinde in unserer Kreisstadt und repariert und verleiht mit meinem Mann Rolf landwirtschaftliche Maschinen. Abends sitzt er in seiner Stammkneipe mit seinen Stammkumpels, philosophiert und spielt Doppelkopf oder Halma. Ich glaube nicht, dass mein Onkel Stammtisch-Parolen klopft. Jedenfalls keine, die Vorurteile betonieren und ganze Gruppen von Menschen diskriminieren.
Meine Tante macht viele Reisen, leitet einen Frauen-Treff, geht zur Gymnastik und gibt ungefragt Tipps, wie man so weit kommen konnte wie sie. Außerdem lädt sie gerne in ihre helle Wohnung in der Nähe des alten Bunkers ein und demonstriert, wie man ohne große Probleme auch dort in der Stadt zwei Hunde halten kann.
Ich finde meine Tante durchaus attraktiv. Ihr genaues Alter verrät TT nur ungern und ihren Geburtstag hat sie nie gefeiert, aber meine Mutter hat mir mal erzählt, dass TT drei Jahre jünger als sie ist. Somit weiß ich, wie alt sie ist.
TT will keinen Mann mehr dauerhaft bei sich wohnen lassen. Alleine schon, weil sie keine Lust auf zu viel Bügelwäsche, Mettwurst im Kühlschrank und Konflikte um die Fernbedienung hat. Aber sie ist durchaus nicht abgeneigt, ab und zu einen Herren zu sich einzuladen. Und ich kann mir lebhaft vorstellen, dass diese Herren sich dort nicht nur von ihren Kochkünsten überzeugen lassen können.
„Eine feste Beziehung mit einem Kerl? Um Himmels Willen! Ich will meine Ruhe haben. Und außerdem hab ich ja meine beiden Süßen“, hatte meine Tante neulich erst wieder verkündet. Daraufhin hatte sie zärtlich ihre beiden Jack Russells Bud und Spencer gestreichelt. Die Hunde jaulten dankbar auf und leckten ihr über die Hand. Ich finde das eklig.
TT und Wolfgang hatten immer Hunde. Solange ich sie kenne.
Als ich klein war, gab es in Olde nicht so viele Hundebesitzer. Die wenigen Hunde, die hier lebten, liefen fast alle auf den Höfen nebenbei mit. Oder hatten eine Hundehütte und waren oft angebunden. Wenn mich nicht alles täuscht, kam der Begriff „Gassi gehen“ in meiner Kindheit gerade erst auf.
Seit etwa dreißig Jahren hat etwa jeder zweite Haushalt in Olde einen Hund.
Johanna hat einen Golden Retriever. Sie ist der Meinung, dass es inzwischen total anerkannt ist, mit einem Hund spazieren zu gehen. Auch in Olde. Auch mitten am Tag. Um Viehzeug muss man sich schließlich kümmern, das sehen auch die Alten ein.
Schwierig wird es dann, wenn man an einem Tag, der kein Sonntag ist, ohne Hund über den Deich schlendert. Dann wird man garantiert komisch angeglotzt und da wird sich wohl so mancher fragen, ob man nichts Wichtiges auf dem Hof, im Haus oder im Garten zu tun hat.
***
Tante Tilda lege ich jedes Kapitel dieses Romans einzeln vor. Als sie das erste Kapitel fertig studiert hat, fragt sie: „Michaela, was hat eigentlich die Frauen in unserem Kaff so hart gemacht?“ Sie schenkt sich Prosecco nach.
„Wieso hart?“, frage ich verdutzt zurück. In meinen Augen sind die Frauen aus Olde nicht hart. „Und was heißt überhaupt Kaff? Das klingt total abwertend. Du hast hier doch auch die meiste Zeit deines Lebens gerne gewohnt!“
Ich komme richtig in Fahrt. „Die Frauen sind einfach sehr ehrlich und offen. Die reden halt wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Die arrangieren sich mit ihren Männern, mit den Kindern und Schwiegereltern.“ Ich räuspere mich. Meine Tante guckt mich entgeistert an.
Mit so einem Redeschwall hat sie wohl nicht gerechnet.
„Sie haben Patenkinder in Afrika“, erkläre ich weiter, “engagieren sich für Flutopfer, sammeln Geld für das DRK und und und. TT, das weißt du doch besser als ich. Du hast ja da auch jahrelang mitgemacht!“
TT schnaubt verächtlich und zündet sich eine Zigarette an. „Ach, ich kenne das“, winkt sie ab. „Die machen das, weil es die anderen auch machen. Damit niemand schlecht über sie redet. Oder weil sie einsam sind. Oder weil auch schon die Mama das so gemacht hat. Ich hatte jedenfalls keinen Bock mehr auf diese Vereinsmeierei.“
„Oder, oder, oder“, äffe ich meine Tante genervt nach. „Du kannst tausend Gründe finden, um Anette und Co schlecht zu machen, wenn du es nur willst.“
„Jetzt beruhige dich mal, Ela, wer macht sich denn hier die ganze Zeit lustig über die Dorfsfrauen?“ Meine Tante schnappt nach Luft. „Ehrlich gesagt hab ich Anette und Co das auch etwas übelgenommen, dass die nie in meiner Boutique eingekauft haben!“, fährt sie fort.
„Siehste, du bist persönlich beleidigt und meinst, dass ich sie verachte!“ Ich stöhne auf. „Und nein, ich mache mich nicht über sie lustig! Ich meine das im Buch doch eher humorvoll und versuche einfühlsam zu sein“, empöre ich mich weiter.
„Okay, dann erzähle aber auch, warum ihr in den Vereinen nicht mitmacht, Johanna und du.“ TT lächelt mich süffisant an.
Ich überlege. Sie trifft durchaus einen Nerv bei mir.
„Tja...“, beginne ich vor mich hin zu stammeln, „du weißt ja, dass ich viele Ehrenämter in der Schule hatte. Außerdem bin ich echt immer zur Stelle, wenn man mich im Dorf braucht, beim Blutspenden oder beim Sportfest. Aber ich will mich nicht für eine Vorstandsarbeit festnageln lassen.“
Ich nehme einen Schluck aus meinem Sektglas und lehne mich auf dem Sofa zurück. „Erst neulich wurde ich wieder gefragt, ob ich im MTV die Schriftführerin machen will. Hab ich aber abgelehnt. Die meinten allen Ernstes, ich könne ja ganz gut formulieren und wäre ziemlich leidensfähig.“ Ich lache auf.
„So viel Witz hab ich Anette und ihrer Bande gar nicht zugetraut.“ TT schüttelt schmunzelnd den Kopf.
Meine Tante drückt ihre Zigarette aus, schnappt sich ihre Handtasche und steht auf.
„Und ich weiß auch, warum Johanna bei den Landfrauen nicht mitmacht“, lässt sie grinsend verlauten.
„Weil sie Anette und Jutta nicht leiden kann und das beruht sich auf Gegenseitigkeit“, sprechen wir beide wie im Chor. Dann müssen wir laut lachen.
Ich proste meiner Tante zu und bedanke mich für ihre erste Einschätzung.
Tante Tilda verabschiedet sich und betont, dass sie auch die weiteren Kapitel lesen und kommentieren möchte.
Kaum ist sie raus, reiße ich die Terrassentür auf und atme tief durch.