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Dorf Kapitel 2

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In meiner Kindheit nannte mich Oma Bertha immer „die Sachensucherin“, obwohl sie Pippi Langstrumpf gar nicht kannte. Stundenlang stromerte ich durch Wiesen, Obstplantagen und Felder und sammelte Steine, Federn und andere Sachen. Voller Hochachtung legte ich das alles in Schachteln und Gläser.

Meine Oma half mir, die Behälter zu beschriften und bewahrte die Fundstücke für mich in einer Schuppenecke auf. Sie nannte das Ganze „Elas Schatzkammer“ und freute sich mit mir über die Schönheiten der Natur. Immer wieder gingen wir zwei gemeinsam dorthin und bestaunten verschrumpelte Kastanien, Hühnerfedern und Moos. Bis ich etwa sieben war, ging ich davon aus, dass es sich bei „Sachensucherin“ und „Mitschnacker“ um Berufe handelte.

Wir hatten keine richtige Terrasse so wie andere Familien in Olde. Eine Hollywoodschaukel mit vergilbtem Stoffdach und bunten Trotteln stand bei uns in einer Nische zwischen dem Hühnerstall und dem Gemüsegarten auf Waschbetonplatten. Davor thronte ein uralter, runder Holztisch. Drei Garten-stühle aus Plastik vervollständigten die armselige Garnitur.

Wir saßen da nie. Es war ein ungemütlicher, verwahrloster Platz. An warmen Sommertagen stank es dort nach Kompost und Hühnermist.

Einen Balkon hatten wir auch nicht, aber den hat kaum ein altes Haus am Elbdeich.

„Das ist hier an der Elbe immer viel zu zuchig für einen Balkon“, sagte mein Vater mal zu Rieke und mir, als wir uns einen zu Weihnachten gewünscht hatten.

Wir Kinder suchten uns unsere eigenen Plätze zum Spielen und Verweilen. Am Graben, auf einer alten Kastanie, im Schuppen oder auf dem Heuboden.

Auf dem Wäscheplatz gab es eine alte Eisenstange, an der wir Schweinebaumeln machten. Außerdem hatte Opa Hermann uns einen Sandhaufen aufgeschüttet, auf dem ich bis zur Einschulung viel gebuddelt habe. Irgendwann diente er dann aber nur noch als Katzenklo.

Oft ging ich zu Johanna zum Spielen. Die wohnt auch jetzt noch nur acht Häuser weiter. Ihre Eltern hatten immer schon einen wundervollen Garten mit großer Rasenfläche. Dort spielten wir im Sommer Federball oder lagen auf einer Wolldecke unter einem Kirschbaum und dachten uns Geschichten aus. Es war dort viel ruhiger als bei uns.

Johannas Vater arbeitete als Prokurist und grillte gerne und viel. Ich durfte oft dabei sein und leckere Bratwurst und Steaks mitessen. Mein Vater hatte für´s Grillen nichts übrig. Die Essenszubereitung überließ er komplett seiner Schwiegermutter und seiner Frau.

An die Elbe ging ich nicht alleine. Ich hatte zwar schon mit sechs schwimmen gelernt, aber über den Deich durfte ich bis zu meinem zehnten Geburtstag nur mit Erwachsenen gehen. Mein Vater hatte das Verbot mit einer so großen Vehemenz vorgetragen, dass ich dachte, dass auf Nichtbeachtung die Todesstrafe stünde. Rieke wagte sich schon mit neun ohne Erwachsene ans Elbufer. Ich beobachtete das ängstlich, aber ich verpfiff sie nicht.

Rieke machte überhaupt viel verbotenes Zeugs und belächelte meine Sammelleidenschaft und meine einsamen Streifzüge.

Meine gesamte Jugend war geprägt von viel frischer Luft, aber auch vom Fernsehprogramm. Vor allem in den Herbst- und Winterferien habe ich viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht. Oft kam auch Matzi rüber.

Meine Eltern hatten auch im Winter viel Arbeit. Sie mussten neben allen anderen Aufgaben jeden Tag am frühen Morgen und am späten Nachmittag melken. Meine Schwester und ich wuchsen deshalb relativ unkontrolliert auf.

An Regentagen hockten wir an den Nachmittagen auch in den Sommerferien vor der Glotze. Es gab extra Ferienprogramme für Kinder.

Wir waren fasziniert von Lassie, Daktari, Flipper und den Astrid Lindgren-Filmen. Auch Zeichentrickfilme wie Tom und Jerry und Biene Maja standen bei mir hoch im Kurs. Solche Sendungen bezeichnete meine Schwester als „absolut babyhaft“. Sie schaltete dann einfach um oder machte Jazzdance-Übungen vor dem Fernseher, so dass ich nichts mehr erkennen konnte.

Ich reagierte darauf sehr zornig und trampelte mit hochrotem Kopf auf dem Boden herum oder zog Rieke an den Haaren. Meine Wutausbrüche beeindruckten sie allerdings überhaupt nicht. Meistens lachte sie nur überheblich darüber.

Nach dem Abendbrot saßen wir auch mit unseren Eltern gemeinsam vor dem Bildschirm. Im Vorabendprogramm gab es zum Beispiel Ein Colt für alle Fälle, Montagsmaler und Bonanza. Später am Abend guckten wir Wunschfilme und Sport. Und das alles auf nur zwei Programmen und einem Regionalsender. Das Aktuelle Sportstudio schaute ich mir schon mit elf Jahren jeden Sonnabend an. Außer mir interessierte das nur meinen Vater, aber der schlief meistens schon nach dem ersten Interview ein. An manchen Tagen fielen ihm schon bei der Tagesschau die Augen zu. Darüber ärgerte er sich dann maßlos, denn der Wetterbericht ist für einen Bauern natürlich von großem Interesse.

Sonnabends machte ich es mir dann gegen halb elf mit Fanta und Erdnussflips gemütlich. Zugedeckt mit einer Wolldecke und oft auch schon im Schlafzeug lag ich auf dem Sofa. Auf der Wolldecke verteilte ich pieksige Krümel und in meinem Magen blubberte es wegen der Kohlensäure im Softdrink.

Neben mir lag mein schnarchender Vater, während ich Harry Valerien oder Dieter Kürten lauschte. Die Geräusche, die mein Vater machte, beruhigten mich komischerweise. In solchen Momenten fühlte ich mich sehr verbunden mit ihm unter dem warmen Licht unserer Stehlampe.

Als Johanna mal bei mir übernachtet hatte und wir auch abends Sport guckten, schielte sie sehr ängstlich zu meinem schlafenden Vater rüber. Der schnappte nach einem lauten Knattergeräusch nach Luft und röchelte dann wie verrückt. Man konnte meinen, dass es sein letzter Atemzug war. Doch dann sägte er weiter sehr sonor und stoisch Äste durch.

„Er überlebt das“, sagte ich zu meiner Freundin und widmete mich wieder dem Sportstudio.

Mein Vater trug in der kälteren Hälfte des Jahres immer Socken, die Oma Bertha ihm gestrickt hatte. Seine Füße rochen oft unangenehm wie Harzer Käse. Ich legte mich immer so hin, dass meine Nase möglichst weit weg von ihm war.

Und immer wieder wurde Werbung gezeigt. Natürlich viel weniger als heute auf den Privatsendern, aber wir Kinder waren angefixt von den kleinen Spots. Gerne wurde Reklame für Süßigkeiten, Alkohol und Kopfschmerztabletten gemacht.

Passend zu den Schokoriegeln gab es auch immer wieder Werbung für Zahnpasta. Damals dachte ich, dass ein Leben ohne Beck´s, Spalt und Blendamed nicht möglich sei. Auch ging ich davon aus, dass reiche Menschen immer Pastellfarben trugen.

Die Helden meiner frühen Jugend waren Typen wie Pippi Langstrumpf, Robin Hood, Winnetou und die Rote Zora. Ich bewunderte ihren Mut und ihre Fairness.

Hätte es nicht die großartige Frau Brümmermann in der Schülerbücherei meiner Grundschule gegeben, wäre ich vielleicht nie zum Lesen gekommen.

In unserem Haus gab es mindestens zwanzig Kochbücher, aber nur zwei Märchenbücher. Und ich wusste, dass im Nachtschrank meiner Mutter eine Bibel und ein Aufklärungsbuch in Frakturschrift lagen.

Mein Kampf hatte meine Oma bei einer großen Aufräumaktion vor einem Hausumbau in die Tonne geschmissen, wie sie mir später einmal stolz berichtete.

Frau Brümmermann suchte mir spannende Lektüre raus und gab mir auch mal mehr als die drei erlaubten Bücher gleichzeitig mit nach Hause.

In der dritten Klasse begann ich, Bücher förmlich zu verschlingen . Ich liebte Klassiker von Astrid Lindgren und Internatsgeschichten von Enid Blyton.

Vieles davon war im Schneiderbuch-Verlag erschienen. In den Büchern gab es Werbung für Pfandbriefe. Bis heute habe ich davon keine Ahnung. Und ich frage mich auch, was das in Kinderbüchern zu suchen hat.

Obwohl meine Großeltern spannende Geschichten erzählen konnten, lasen sie uns nie etwas vor. Auch meine Eltern machten das leider nicht.

In Olde kommen die Helden meiner Kindheit immer mal wieder vor. Bei Faslamsumzügen verkleiden sich jüngere und ältere Leute auch mal als Pippi Langstrumpf, Biene Maja oder Robin Hood. Hier am Elbdeich zwängt man sich mitten im nasskalten Januar in enge Kostüme und bunte Felljacken, setzt sich Masken auf, unter denen man kaum Luft bekommt und lässt so das traditionelle Fest der Mägde und Knechte jedes Jahr neu aufleben.

Im Frühling und im Sommer machten Johanna und ich viele Radtouren. Manchmal auch mit Matzi und seinen Freunden. Unsere Mütter gaben uns hartgekochte Eier, Klappstullen, Äpfel und Säfte für ein Picknick mit.

So kamen wir nicht sofort wieder und sie hatten ihre Ruhe.Von Mai bis September klemmte stets eine karierte Decke auf meinem Gepäckträger.

Gerne radelten wir am Deich entlang und guckten auch sehnsuchtsvoll nach drüben.

„Auf der anderen Elbseite ist zwar Hamburger Gebiet, aber die Vier- und Marschlande sind noch platter und dünner besiedelt als unsere Gegend“, erklärte uns Opa Hermann.

Ich dachte früher, dass dort schon Einkaufsmeilen und Discos sein müssten. Großstadtflair eben.

An einem Sommertag wollte ich mit Matzi zu einem Brack fahren, das etwa fünf Kilometer von uns entfernt liegt. Opa Hermann hatte uns erklärt, dass die Bracks durch Deichbrüche entstanden waren.

Ganz ohne Sorge war meine Mutter nie, aber sie erlaubte mir das Baden dort. Sie hielt die Bracks für wesentlich harmloser als die Elbe.

Ich muss neun gewesen sein, Matzi fast elf.

Matzi sollte auf mich aufpassen. So der Wunsch meiner Mutter.

Es war ein Nachmittag mitten in der Woche. Leider waren die Sommerferien schon vorbei. Seit Tagen kursierte in der Schule das Gerücht, dass es bald Hitzefrei geben würde.

Es war enorm schwül, der Himmel hatte eine milchig-gräuliche Färbung. Fast schien es, als hingen schwere Wolken bis auf die Erde.

Matzi sprang sofort ins Wasser und tobte mit seinen Kumpels Volker und Olaf auf einer Luftmatratze herum. Die drei spritzten sich nass, kämpften miteinander und juchzten. Sie nannten das „Rangeln“.

Waren die Jungs nicht im Wasser, spielten sie Karten.

Um mich kümmerte sich niemand.

Ich breitete mein Handtuch in ihrer Nähe aus.

Volker und Olaf waren in Matzis Klasse. Für Volker schwärmte ich ein bisschen. Er lächelte mich immer an, wenn wir uns mal alleine begegneten.Volker neckte mich manchmal und hatte mir einmal in der Pause eine süße Vanillemilch ausgegeben.

An besagtem Nachmittag würdigte er mich keines Blickes. Er versteckte sich hinter einer großen Sonnenbrille und drehte an seinem Ghettoblaster ´rum.

Auch Matzi sprach mit mir kein Wort.

Ich war traurig, dass Johanna nicht da war. Ihre Mutter hatte sie gezwungen, für ein Diktat zu lernen.

Es wurde immer heißer und feuchter. Ich wollte mich nun auch im Brack abkühlen.

Mit schnellen Schritten huschte ich in die Bretterbude, die am Ufer stand, um meinen Bikini gegen einen Badeanzug auszutauschen. Die Gemeindeverwaltung hatte den Verschlag als Umkleidekabine aufgestellt.

Jemand hatte Mariebelle ist eine Nutte in die Wand eingeritzt. Was eine Nutte ist, wusste ich ungefähr, darüber dachte ich nicht weiter nach. Doch zerbrach ich mir den Kopf darüber, wer Mariebelle sein könnte. Ich kannte kein Mädchen und auch keine Frau mit so einem Namen.

In Windeseile zog ich mich um und lief wieder zu den Jungs.

Es donnerte und blitzte nun heftiger. Reflexartig hielt ich mir die Ohren zu. Volker und Olaf rafften ihre Sachen zusammen und rannten zu ihren Fahrrädern.

„Los, komm schnell, wir müssen es nach Hause schaffen, bevor es schlimmer wird und total anfängt zu pladdern!“, rief Matzi mir aufgeregt zu.

So schnell wir konnten, preschten wir zu unseren Rädern und rasten wie aufgescheuchte Hühner Richtung Olde. Dicke Tropfen kamen vom Himmel, es wurde immer dunkler um uns herum.

Schon nach ein paar hundert Metern waren wir bis auf die Haut durchnässt.

Meine Bronchien schmerzten und ich zitterte vor Angst.

In immer kürzeren Abständen zuckten die Blitze am Himmel und ohrenbetäubende Donnerschläge waren zu hören. Ich sah, dass mein Cousin noch mehr zitterte als ich. Er klapperte mit den Zähnen und schaute mich mit aufgerissenen Augen an. Sonst spielte er immer den coolen Macker.

„Hier wohnt doch irgendwo eine alte Verwandte von uns“, stieß Matzi keuchend hervor.

Mir fiel ein, dass in dem kleinen, moorigen Wäldchen vor uns die Hexe lebte. Ich kannte sie eigentlich nur vom Hörensagen und war ihr mal mit meiner Mutter bei der Post begegnet.

„Du meinst die Hexe?“, fragte ich zähneklappernd.

Matzi guckte mich stirnrunzelnd an. „Weiß nicht, nennt ihr die so?“

„Ja“, sagte ich.

„Los! Wir fragen, ob wir uns da unterstellen können!“, rief er.

„Gut“, willigte ich kraftlos ein.

Bibbernd vor Kälte hielten wir am Gartentor des Hexenhäuschens. Das Tor ließ sich öffnen und wir schoben unsere Räder mit schnellen Schritten über den matschigen Weg bis zur Haustür. Zu allem Überfluss war ich barfuß.

Genau wusste ich nicht, wie die Frau mit Matzi und mir verwandt war. Aber das war mir in dem Moment auch egal.

Sie war immer schwarz gekleidet. Aus irgendeinem Grund kam sie nie zu den Familienfesten. Später erfuhr ich, dass sie auch nie eingeladen wurde.

Todesmutig drückte ich auf den Klingelknopf. Matzi verkroch sich förmlich hinter mir.

Die Hexe öffnete die Tür und schaute uns fragend an. Als sie uns dann aber zu erkennen schien, begrüßte sie uns herzlich.

„Oh, ihr armen Mäuse… Ihr seid ja völlig durchnässt. Hat euch das Gewitter überrascht? Kommt doch rein!“ Ihre Stimme klang unerwartet sanft. Sie bat uns mit einer einladenden Geste auf ihren Flur.

Schüchtern huschten wir ins Hexenhäuschen. Matzi und ich waren triefend nass und hinterließen kleine Pfützen auf dem Flurteppich.

„Hier ist das Bad. Da könnt ihr euch föhnen. Ich bring euch Handtücher und trockene Sachen“, sagte sie und öffnete eine Tür. „Möchtet ihr was trinken?“

Wir nickten zögerlich. Im Bad roch es etwas muffig, aber es war hell und freundlich eingerichtet. Neugierig schaute ich mich um.

Die Hexe kochte uns Kakao und gab uns Pullover und Hosen. Die Sachen waren uns meilenweit zu groß, aber wir krempelten die Ärmel auf und schnallten Gürtel um. Ich traute mich nicht zu fragen, von wem die Kleidungsstücke waren. In der Küche roch es nach Pfannkuchen.

Während ich Kakao schlürfte, durchfuhr mich eine wohlige Wärme und ich lächelte die Hexe an. Sie lächelte zurück.

„Ich bin übrigens Gertrud“, stellte sich die Hexe vor. „Mein Sohn Ulf wohnt jetzt in Lüneburg. Mein Mann lebt schon lange nicht mehr“, erzählte sie und schluckte.

„Wie geht es denn euren Eltern?“, fragte sie nach einer kleinen Pause.

„Meinen Eltern geht es gut“, sagte Matzi knapp.

„Meine Mutter arbeitet viel draußen mit und Oma kocht oft für uns alle. Mama hat auch immer Angst vor Gewittern“, erzählte ich.

Ich mochte die Hexe auf einmal. Allerdings hatte ich keine Lust, es Matzi zu zeigen. Ich wollte das für mich behalten. Jemanden mögen, den die anderen verachteten, das empfand ich als ein cooles Geheimnis.

Schweigend radelten wir nach Hause.

Als wir vor unseren Häusern zum Stehen kamen, fiel mir plötzlich ein, dass wir ja noch über unser Alibi reden mussten. Wir waren uns einig darüber, dass wir nichts von unserem Besuch bei der Hexe erwähnen wollten.

Matzi winkte nur müde ab und meinte: „Wird schon schiefgehen, Ela.“ Erschöpft trottete er ins Haus.

Unsere Eltern fragten ausnahmsweise nach, wo wir gewesen waren. Meine Mutter mit ihrer höllischen Angst vor Gewittern war fast umgekommen vor Sorge. Sie war tatsächlich mit TT zum Brack gefahren, um dort nach uns zu suchen.

Insgeheim freute ich mich darüber. War ich also meiner Mutter doch nicht so egal.

„Wir waren bei Susi. Die war auch am Brack. Und als das Unwetter losging, hat sie gesagt, dass wir mit zu ihr dürfen“, log ich.

Keiner wollte etwas Genaueres wissen. Meine Mutter hatte beschlossen, die Mutter meiner Mitschülerin Susi zickig und überheblich zu finden. Allerdings kannte sie Susis Mutter nur von Elternabenden und interessierte sich gar nicht weiter für die zugezogene Familie.

Hätten meine Eltern erfahren, dass wir bei der Hexe im Haus waren, hätten sie ganz genau wissen wollen, wie es bei ihr aussah, wie sie reagiert hatte, ob es etwas zu essen gab und so weiter.

Komischerweise schien sich niemand über die fremden Männerklamotten zu wundern, die wir trugen. Matzi brachte sie am nächsten Tag heimlich zur Hexe zurück. Unsere nassen Sachen hatte sie auf die Leine gehängt und gab sie ihm in einer Tüte mit nach Hause.

Als wir noch eine Arztpraxis im Ort hatten, ließen fast alle Dorfbewohner/innen ihre Wehwehchen dort behandeln.

Ich war als Kind selten krank. Meine Mutter führte das darauf zurück, dass sie mir regelmäßig Lebertran verabreichte. Der half zwar offiziell nur gegen Rachitis, aber für meine Mutter war Lebertran ein Wundermittel, das allen möglichen und unmöglichen Krankheiten vorbeugte.

Mit etwa zwölf Jahren bin ich mal mit meiner vier Jahre älteren Schwester zu unserer Ärztin gegangen. Ich wunderte mich kurz, warum Rieke meine Begleitung wünschte, aber sie sagte, allein fände sie es langweilig. Als sie dann aber unserer Mutter mitteilte, dass wir zum Reiten gehen wollten, schnallte ich, dass ich mitspielen sollte. Immer noch liebte ich Geheimnisse. Besonders ausgebufft mussten wir beim Lügen in unserer Familie nicht sein. Unsere Eltern hatten ohnehin fast nie Zeit und Ruhe, um genau hinzuhören.

Rieke sagte mir klipp und klar, dass ich nicht verraten durfte, dass wir zur Ärztin wollten. Falls es doch herauskommen sollte, sollte ich sagen, dass sie beim Reiten einen Tritt vom Pferd gekriegt hätte und sie das untersuchen lassen wollte.Einerseits war ich stolz darauf, von meiner großen Schwester in einen geheimnisvollen Schlachtplan eingeweiht zu werden. Andererseits hasste ich es, wenn Rieke mich benutzte und mit mir umging, als sei ich nicht ganz dicht.

Ich saß mindestens eine Dreiviertelstunde im Wartezimmer, während Rieke im Sprechzimmer unserer Hausärztin war. Alle Leserkreis Daheim-Hefte hatte ich durchgeblättert. Die Berichte über Stars und Sternchen interessierten mich nicht sonderlich.

Endlich kam meine Schwester wieder. Ich knallte ein Magazin auf das Tischchen neben mir und sprang auf.

„Wieso hat das denn so wahnsinnig lange gedauert? Und was hast du überhaupt?“, fragte ich genervt und neugierig zugleich vor versammelter Mannschaft. Mindestens sieben Bekannte aus Olde und Umgebung saßen im Raum und guckten uns neugierig an.

Rieke errötete leicht und presste einen Zeigefinger auf ihre Lippen. „Top secret“, raunte sie mir zu und guckte schnell in eine Zeitschrift. „Wir müssen noch eben auf das Rezept warten“, nuschelte sie in die Frau im Spiegel. Vor lauter Nervosität hielt sie das Heft falsch herum. Kaum hatte Rieke das ausgesprochen, kam auch schon eine Arzthelferin mit einem kleinen Zettel wedelnd ins Wartezimmer gestürmt. „Fräulein Brockmeyer, hier ist noch das Rezept für die Pille!“, flötete die Frau, die weiße Kleidung und Gesundheitslatschen trug.

Rieke hielt sich erst beschämt die Zeitschrift vor das Gesicht, packte mich am Arm, riss der Helferin das Rezept aus der Hand und rannte dann mit mir im Schlepptau raus.

Neugierig fragte ich meine Schwester auf dem Parkplatz vor der Praxis, warum sie so hektisch reagiert hatte.

“Man, das sollten Mama und Papa doch nicht erfahren! Ich war so froh, dass die Ärztin mir das ohne große Probleme aufgeschrieben hat und nun weiß es doch schon heute Abend wieder das halbe Dorf!“, zischte Rieke erbost.

Meine Schwester tat mir in ihrer Wut und Verzweiflung aufrichtig leid. Natürlich würde es heute Abend das ganze Dorf wissen.

Ich ahnte in etwa, was es mit der Anti-Baby-Pille auf sich hatte. Aus der Bravo war ich einigermaßen aufgeklärt. Von Rieke bekam ich immer ihre aussortierten Ausgaben. Ich gab sie dann etwa eine Woche später an Matzi weiter.

Doch hatte ich keine Ahnung, dass man sich die Pille beim Arzt verschreiben lassen musste und fragte mich dort auf dem Parkplatz auch, was unsere Eltern und die Dorfbewohner/innen eigentlich gegen Verhütung haben sollten.

Als wir mit unseren Rädern schon ein Stück gefahren waren, wollte ich Rieke etwas von ihrer Wut ablenken und fragte: „Fandst du doch sicher blöd, dass die Arzthelferin dich Fräulein genannt hat, oder Rieke?“

Sie schnaufte nur genervt und rief: „Ela, das ist so was von unwichtig gerade!“

Ich schaute sie an. „Sag mal, hast du etwa Tränen in den Augen?“ Rieke trat kräftiger in die Pedalen und raste so schnell, dass ich kaum hinterherkam.

Erst Monate später schnallte ich, dass meine große Schwester einen festen Freund hatte, bei dem sie nach Feten auch schon übernachtet hatte. Meine Mutter glaubte, dass sie bei ihrer Freundin Christine schlief. Ich konnte es nicht begreifen, dass sich jemand in meine Schwester verguckt hatte. Zu mir war sie nicht nur einmal im Monat extrem schroff und fies.

Rieke trug damals die Haare wie Chris Norman. Und das war meiner Meinung nach auch schon das Weiblichste an ihr. Ständig ertönte Livin´ next door to Alice in ihrem Zimmer und oft genug hörten wir es im ganzen Haus. Riekes Freundinnen sollten sie „Alice“ nennen.

Als Chris Norman dann aber immer häufiger mit Suzi Quatro auftrat und sich eine Dauerwelle machen ließ, ließ die Leidenschaft für den Frontmann von Smokie bei meiner Schwester allmählich nach. Chris Norman wurde von der Wand abgenommen und durch einen Rod Stewart- Starschnitt ersetzt.

Nach Jahren erzählte mir meine Mutter auf einem Sonntagsspaziergang, dass Anettes Schwester auch im Wartezimmer gesessen hatte, als die Sprechstundenhilfe Rieke das Rezept für die Pille so völlig ohne Diskretion überreicht hatte. Dorothea hatte meiner Mutter davon am nächsten Morgen brühwarm berichtet. Unsere Mutter hat sich jedoch nie in Riekes Verhütungsmethoden eingemischt und auch ihre Liebschaften nicht weiter kommentiert. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.

***

„Ach ja, Tante Gertrud... das war die Cousine von Oma. Hab ich nie verstanden, warum sie Hexe genannt wurde.“ TT schüttelt verständnislos den Kopf.

Echt? Omas Cousine? Wusste ich gar nicht. Warum haben denn Oma, Mama und Papa immer so schlecht über sie geredet?“, frage ich erstaunt.

Keine Ahnung. Dein Vater zeigte ja schon immer ohne Umschweife, wenn er jemanden nicht mochte. Zu mir war Hanno erst auch immer so reserviert. Ich hatte ja öfter mal Dekotipps oder so für Vera, und da hat er immer dazwischengefunkt. Wollte einfach nie Hilfe oder Ratschläge annehmen und ist auch deiner Mutter immer über den Mund gefahren. Jaja, dein Vater war schon früher ein Kauz.“

Tante Tilda lacht kurz auf.

Onkel Wolfgang hat ihn früher auch mal Klapskalli genannt“, erinnere ich mich.

Meinen Vater halten viele für ziemlich verschroben und ich glaube, dass er darauf ein bisschen stolz ist.

Sag mal, warst du gar nicht in Sorge um Matzi bei dem schweren Gewitter damals?“, will ich wissen. TT starrt nachdenklich zur Zimmerdecke.

Klar, war ich etwas in Sorge um ihn. Er hatte ja auch öfter Fahrradunfälle und war nicht besonders sicher im Schwimmen. Aber ich wusste ja, dass er bei dir gut aufgehoben war. Außerdem hatte ich gar nicht so viel Zeit mir ständig Gedanken um ihn zu machen, ich hatte echt viel mit meinem Laden zu tun.“ Ich grinse.

Meine Tante vergisst immer, dass ich fast zwei Jahre jünger bin als ihr Sohn. Wie hätte ich als Neunjährige auf ihn aufpassen sollen?

Übrigens, Ela, Vera und ich haben herausgefunden, dass ihr an dem Nachmittag bei der Hexe gewesen seid.“ Meine Tante tätschelt meinen Arm.

Im Ernst?“ Ich gucke sie überrascht an.

Ja, Gunnar hat euch bei der Hexe, also bei Gertrud, vom Hof fahren sehen. Er hat euch bei Vera verpetzt. Außerdem haben wir natürlich mitbekommen, dass ihr gar nicht eure Sachen anhattet.“

Und dann hat Mama mich gar nicht zur Rede gestellt?“, wundere ich mich. TT zuckt mit den Schultern.

Unsere Vera hatte mehr verständnisvolle Momente als man denkt.“ Sie zwinkert mir zu. „Bei der Geschichte mit der Pille hat sie Rieke ja auch keine Vorhaltungen gemacht.“

Wir nicken beide und lächeln vor uns hin.

Dorf, Stadt Fluss

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