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Aachen / Köln Kapitel 3

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Je älter ich werde, desto stärker denke ich an Freundschaften aus meiner Jugendzeit zurück. Es wächst in mir der Wunsch, auch meine alte Brieffreundin Simone mal wieder zu besuchen oder wenigstens mal mit ihr zu chatten.

Ich habe sie neulich mal gegoogelt. Bei Xing fand ich eine Simone Reuser, Projektmanagerin in Berlin. Die Frau auf dem Foto bei Xing ist dunkelhaarig. Ich weiß nicht, ob das meine frühere Brieffreundin ist.

Mone war früher rothaarig und auch fülliger als die abgebildete Projektmanagerin.

Es war die intensivste Brieffreundschaft, die ich jemals hatte. Kaum ein Tag verging, an dem ich ihr nicht geschrieben habe. Mein ganzes Taschengeld ging für Briefporto drauf.

Ständig radelte ich zu Inge Meineken, die bis vor zehn Jahren eine kleine Poststelle in Olde hatte. Über Tante Inge- die nicht meine richtige Tante war, die wir Dorfkinder aber alle so angeredet haben- wurde in Olde gesagt: „Se is nich neischierich, aver se möcht doch geern allens weeten“!

Sie verwickelte mich geschickt in eine Plauderei und erzählte mir von ihren Kindern oder von irgendwelchen Vorkommnissen im Ort. Tante Inge schaffte es immer, etwas aus mir herauszubekommen. Ich machte Bemerkungen zu ihren Äußerungen und beantwortete so ganz unbewusst höchst persönliche Fragen.

„Jens hat echt Stress in der Schule. Die Lehrer auf der Realschule sind ja teilweise echt schlecht. Er sagt, dass es auf dem Gymnasium wohl freundlicher zugeht und ihr mehr lernt!“, erzählte mir Tante Inge einmal fast beiläufig, während sie eine Briefmarke abstempelte.

„Ja, äh, weiß nicht… aber meine Mutter sagt immer, dass man auf der Realschule viel mehr praktische Sachen beigebracht bekommt ...und dass wir Gymnasiasten nur so abgehobenes Zeug lernen und nicht mal den Dreisatz beherrschen. Äh, und deshalb können wir auch nicht ausrechnen, welche Mengen wir brauchen, wenn die Zutaten im Rezept für sechs Personen angegeben sind, wir aber nur für vier Leute kochen. Also sagt Mama“, stotterte ich.

Damit hatte ich was über meine Mutter verraten und über mich und über den Unterrichtsstoff meiner Schule. Inge Meineken lehnte sich zufrieden zurück und grinste. Wieder hatte sie Gesprächsstoff für mehrere andere Kunden.

Inge Meineken lebte, wie viele Frauen in Olde, nach dem Motto Was ich weiß, macht auch andere heiß.

In meinen Briefen nannte ich Simone nur „Mone“. Sie wohnte damals mit ihren Eltern in Hückelhoven, eine kleine Stadt zwischen Mönchengladbach und Aachen. In den Ferien haben wir uns ein paar Mal gegenseitig besucht.

Meine erste Tour zu Mone nach NRW war 1983 in den Osterferien. Ich war sehr aufgeregt.

Immerhin fuhr ich das erste Mal ganz allein mit dem Zug. Ich wusste mit dreizehn immer noch nicht, wo genau in unserer Kreisstadt der Bahnhof war. Meine Eltern fuhren mit uns Kindern nie Zug. Urlaub war ein Fremdwort in meiner Familie. Zu Verwandtschaftsbesuchen oder Wochenendausflügen in den Harz oder an die Nordsee nahmen wir immer das Auto. Zum Glück gab es eine direkte Verbindung von Hamburg nach Mönchengladbach, so dass ich nicht umsteigen musste.

Mones Mutter war eine gutmütige Frau, die ihren beiden Töchtern vieles ermöglichte. Sie holte mich zusammen mit meiner Brieffreundin in Gladbach vom Bahnhof ab und erzählte in ihrem niederrheinischen Singsang alles Mögliche über die Gegend und die Zeche, in der ihr Mann arbeitete.

Frau Reuser kaufte beim Bäcker Kuchen für uns und wir kochten uns in Mones Zimmer mit ihrem eigenen Wasserkocher Tee. Mone besaß genau wie ich kleine Tee-Blechdosen für lose Teeblätter. In jedem Geschenke-Laden in Harburg oder in der Kreisstadt gab es diese Döschen, die mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt waren.

Mone war ein eingefleischter Borussia-Fan. Die Fohlen-Elf hatte es ihr seit Kindertagen angetan.

Meine Brieffreundin fuhr sogar zu Auswärtsspielen.

Damit stieg sie in die Fußstapfen ihres Vaters, der Tag und Nacht seinen grün-weißen Fan-Hut trug. Dementsprechend zerknittert und speckig sah der Hut aus.

Mones absoluter Topstar war der Abwehrspieler Michael Frontzeck. Seinen Namen hatte sie sich sogar mit Kugelschreiber auf den Arm „tätowiert“. Nach jeder Dusche wurde der Namenszug nachgeschrieben.

Mone akzeptierte meine Begeisterung für die Geißböcke und schickte mir sogar zum Geburtstag und zu Weihnachten Pakete mit rot-weißer Zahnpasta und FC Köln-Wimpeln. Wenn unsere Mannschaften gegeneinander kickten, herrschte allerdings eine Woche Funkstille zwischen uns.

Es war das erste Mal, dass ich Ostern nicht in Olde verbrachte, aber Heimweh hatte ich kaum. Die ganze Familie Reuser wirkte großzügig, herzlich und offen. Auch zum Osterfeuer am Ortsrand gingen wir mit den Eltern, der Oma und zwei Freundinnen von Mone. Es lief fast genauso ab wie bei uns in Olde. Auch hier gab es Getränke- und Bratwurstbuden, Musik aus Lautsprecherboxen, Geplauder und viele freiwillige Feuerwehrleute, die ihren Durst löschten.

Am Ostermontag marschierten Mone und ich schon um halb elf mit ihrem Vater zum Fußballplatz des FC Borussia Hückelhoven. Dort sollte ein Pokalspiel stattfinden.

Herr Reuser hatte ein Vereinstrikot über sein Hemd und seinen dicken Bierbauch gezogen. Mone trug einen Gladbach-Schal. Ich zeigte meine Vereinszugehörigkeit nicht.

Bevor das Spiel losging, spendierte uns Mones Vater an einer Bude neben dem Sportplatz Pommes mit Mayo.

Schon um halb neun waren wir aufgestanden. Ich hatte beim Frühstück nicht viel ´runterbekommen, denn die Stimmung in der Familie war angespannt.

So etwas schlug mir immer auf den Magen.

Frau Reuser war sehr wütend auf ihren Mann gewesen, denn sie war der Meinung, dass man an Ostern für die Kirche und die Familie da sein sollte.

„Mutti, ich gönne dir deinen Jesus, gönne du mir meine 90 Minuten am Spielfeldrand. Und die Mädchen nehme ich ja mit. Wie du siehst, kümmere ich mich um die Familie!“, hatte Herr Reuser klar gemacht und dabei kräftig geschnaubt.

Mone hatte gegrinst und den rechten Daumen hochgehalten. Ihre Mutter hatte weiter geschimpft und erst ihrem Mann Sturheit und dann ihrer Tochter mangelndes Einfühlungsvermögen vorgeworfen. Herr Reuser hatte energisch mit der flachen Hand auf den Esstisch gehauen und gedröhnt: „Ende der Diskussion!“

Dann hatte er das Radio lauter gemacht und Howard Carpendale hatte die motzende Frau Reuser übertönt.

Wie Mones Vater so selbstgefällig in Unterhemd und Hosenträgern am Frühstückstisch hockte, erinnerte er mich stark an jemanden aus einer Fernsehserie. Ich kam allerdings nicht drauf, an wen.

Auf dem Sportplatz standen wir zu dritt neben der Trainerbank auf dem Kreidestrich, den der Platzwart extra am Morgen neu nachgezogen hatte. Mones Vater fachsimpelte mit einem Mann, auf dessen Jacke Co-Trainer stand, über die Aufstellung. Er gestikulierte so kräftig mit den Händen, dass ihm ein Großteil der Mayonnaise aus der Pommes-Schachtel auf sein Trikot tropfte. Beim Versuch das fettige Zeug von seinem Bauch zu wischen, verteilte er es großräumig auf dem Logo des Werbepartners. Dann leckte er sich die Finger ab.

„Addi, das kannste nich machen, den Erwin musste spielen lassen. Der flippt sonst aus! Der saß doch schon letzte Woche auffer Bank“, schrie Herr Reuser den Co-Trainer an.

Der schmächtige Mann mit Locken und zerfurchtem Gesicht zuckte nur mit den Schultern. „Ich mach die Aufstellung nicht, Günter. Und du weißt genau, dass Kalle sich da nicht reinreden lässt. Der wird schon seine Gründe haben.“

Mones Vater schlug sich mit der Hand gegen seine Stirn und schüttelte energisch den Kopf. „Ihr wollt es nicht kapieren, oder? Der Erwin ist tausendmal schneller und fitter als der Bodo, der olle Knallkopp!“, regte er sich weiter auf.

Der Schiedsrichter kam angelaufen, pfiff auf seiner Trillerpfeife und ermahnte uns, gefälligst hinter die metallene Barrierestange zu gehen. Herr Reuser gehorchte widerwillig und wir dackelten ihm hinterher.

„Mein Vater hat einen Heidenrespekt vor dem doofen Schiri“, flüsterte Mone mir zu.

„Aha“, entfuhr es mir. Ich fragte mich, wieso Mones Vater bei angeblich so viel Respekt seine leere Pommes-Schachtel einfach auf den Rasen schmiss.

Der Anpfiff ertönte.

Verschwitzte Spieler der 1.Herren-Mannschaft rannten schnaufend an uns vorbei. Herr Reuser brüllte sich die Seele aus dem Leib und wurde knallrot im Gesicht.

Mone holte Bier für ihren Vater und zwei Flaschen Cola für uns. Ich staunte nicht schlecht, dass ein so kleiner Mann so viel Bier in so kurzer Zeit in sich ´reinschütten konnte. Es war seine dritte Flasche innerhalb einer Stunde und es war noch Vormittag.

Mein Vater trank auch gerne Bier, aber der ist fast zwei Meter lang. Und beim Trinken war er schon immer langsam. Außerdem ging er nur ganz selten zu Fußballspielen. Von März bis Oktober hatte er wegen der Feldarbeit keine Zeit dafür und im Winter hatten die Fußballer der Kreisliga Pause, weil ja die Plätze meistens unbespielbar waren.

Doch ich dachte nur kurz über meinen Vater nach, denn plötzlich fiel mir auf, dass ein Zuschauer, der rechts von uns stand, Pierre Littbarski sehr ähnlich sah.

„Little Pierres“ Steckbrief mit sämtlichen Lebensdaten kannte ich auswendig. Für einen Moment war ich irrsinnig aufgeregt und überlegte, Mone darauf hinzuweisen, dass mein Kölner Lieblingsspieler sich nach Hückelhoven verirrt hatte. Doch dann sah ich, dass der Mann, den ich für den Fußballstar hielt, eine Frau küsste, die ganz bestimmt nicht Frau Littbarski war. Als er einem Kind hinterherrief, merkte ich außerdem, dass es nicht die Stimme von „meinem“ Pierre war.

Die Heimmannschaft ging gnadenlos unter.

„Wären wir doch bloß mit Mama inne Kirche gegangen!“, schimpfte Mones Vater auf dem Heimweg aufgebracht und war nicht mehr zugänglich für ein Gespräch mit uns jungen Damen.

Voller Faszination beobachtete ich Herrn Reuser in seinem Groll und wusste plötzlich, dass er mich an „Ekel Alfred“ erinnerte.

Am nächsten Tag war Mones Vater wieder nüchtern und aufgeräumt.

Gut gelaunt machte er mit uns einen Ausflug nach Roermond in Holland, um dort Zigaretten und andere Grundnahrungsmittel zu kaufen.

Als ich Mone im Sommer 1984 besuchte, fuhr ich mit ihr für ein Wochenende zu ihrer Schwester Maike nach Aachen. Ich war mittlerweile fünfzehn und kannte mich in Hamburg nicht besonders gut aus. Wir wohnten so dicht an der Hansestadt, aber wer als Oldener nicht dort arbeitete, kam nicht oft ins Stadtgebiet.

Für größere Einkäufe oder Arztbesuche fuhren wir meistens in die Kreisstadt oder nach Lüneburg. In den kleineren Städten kam unsere Mutter besser klar und hatte dort auch weniger Angst vor dem Verkehr.

Ganz selten waren wir mal in der Mönckebergstraße oder an der Alster. Aachen war für mich also damals eine Großstadt. Hier gab es auch völlig andere Lebensentwürfe als die klassischen Familienkonstellationen, die ich vom Dorf kannte. Auch Frauen lebten hier mit Frauen zusammen. Und Männer mit Männern.

Mütter wohnten allein mit ihren Kindern in kleinen Mietwohnungen. Ohne Gärten, ohne Autos mit Garagen oder Garagen mit Gartengeräten.

Vor dem Haus, in dem Mones Schwester wohnte, gab es eine große Rasenfläche und einen riesigen Spielplatz mit modernen Spielgeräten und Bänken.

Überall lagen Pappbecher, Papiertüten von Schnell-restaurants und Kippen. Im Hausflur standen Kinderwagen und leichte Klappkarren, die nicht nagelneu aussahen.

Bei uns im Dorf wurde der Kinderwagen oder die erste Karre meistens von den Großeltern spendiert. Ein Kinderwagen musste dicke Reifen haben, um unbeschadet über die Feldwege geschoben zu werden. Manchmal wurde er auch weitervererbt, aber dann nur an weitere Mitglieder der Familie.

Hier in Aachen lehnten viele Fahrräder, die offensichtlich niemand pflegte, an der Hauswand.

Mein eigenes Fahrrad putzte ich andauernd. Mein Vater hatte mir eingehämmert, dass es sonst rostete. Mones Schwester war gar nicht zu Hause. Davon hatte Frau Reuser anscheinend nichts gewusst. Maike war mit einem Freund für ein paar Wochen nach Südfrankreich gefahren. Sie überließ solange ihre Wohnung den Freunden ihrer Nachbarn. Mone wusste davon und erzählte es mir, kurz bevor wir bei dem Mietshaus ankamen. Die zwei Wohnungssitter stammten aus Genf. Sie studierten an der Aachener RWTH Maschinenbau und waren auf Wohnungssuche.

Mir fiel auf, dass Gernot und Marcel sich etwas anders verhielten als die Jungs, die ich bisher kennengelernt hatte.

Die beiden hielten sich an den Händen, als sie uns in die Wohnung ließen. Marcel war um die Augen leicht geschminkt.

In der Sendereihe Was wollen Sie wissen? mit Dr. Erwin Marcus, die regelmäßig im NDR lief, hatte ich schon mal was von gleichgeschlechtlicher Liebe gehört, aber ich kannte bisher niemanden, der das offen lebte.

Die beiden Männer kochten uns Tee, boten uns Eierlikör an und plauderten mit uns über Gott und die Welt.

Gernot war sehr charmant und auch sehr direkt.

„Ela, wann hast Du gemerkt, dass du hetero bist?“, fragte er mich gleich am ersten Abend.

Gekünstelt lachte ich auf und verschluckte mich am heißen Tee. Ich hob die Schultern und wusste so recht keine Antwort. „Weiß nicht. Ich bin gerade sehr in Ulli verknallt, der hat mich neulich in der Schule auch ein wenig angelächelt“, gab ich nach einer Gesprächspause kleinlaut zu.

Ulli sah aus wie ein Skilehrer aus Südtirol. Oder besser wie ich mir einen Skilehrer aus Südtirol vorstellte. Er war auch im Winter braun gebrannt und zeigte meist mit einem breiten Lachen sein gutes Gebiss. Ulli wirkte ländlich und weltoffen zugleich. Die halbe Schule fand ihn toll. Wahrscheinlich auch einige Jungs.

Ich errötete leicht und fragte mich entsetzt, warum ich den beiden fremden Männern meine intimsten Geheimnisse anvertraute. Musste wohl am Eierlikör liegen, von dem ich etwas sorglos zwei Gläschen trank. Nicht einmal Mone hatte ich von Ulli erzählt. Sie guckte mich dementsprechend erstaunt an. Eigentlich mochte ich Pierre Littbarski auch viel lieber als diesen Ulli. Aber das wollte ich nicht zugeben.

Gernot fragte neugierig: „Oh, wie sieht dein Ulli denn aus?“

„Äh, sehr gut, ich hab aber kein Foto dabei…“, sagte ich verunsichert.

Mone merkte, dass ich restlos überfordert war und rettete mich. „Du, lass Ela jetzt mal in Ruhe, das ist echt zu intim!“, forderte sie Gernot energisch auf.

Ich war ihr dankbar. Mich verwirrten diese neugierigen Fragen sehr.

Gernot und Marcel hüteten also für drei Wochen Maikes Wohnung. Allerdings waren sie die meiste Zeit auf Achse, um sich andere Wohnungen anzugucken.

Solche Arrangements kannte ich vom Dorf nicht. Eigentum war Eigentum, da wurde eher zögerlich was geteilt, geliehen oder verliehen.

Mit Dingen war man eigen. Ausgeholfen wurde sich in Olde schon, aber eher mit Taten wie Dachdecken oder Möbelschleppen. Unter direkten Nachbarn machte man das. Aber nur, wenn man sich schon sehr lange kannte und alteingesessen war. Am besten hatten schon die Großeltern der Nachbarsfamilien zusammen gefeiert - was meistens gleichbedeutend mit „gesoffen“ war.

Als Mädchen vom Dorf staunte ich folglich nicht schlecht über dieses Air´n´b in den frühen 80ern.

Fremden Menschen so was Persönliches wie Bad, Bett und Küche zu überlassen, war für mich ein vollkommen neues Lebensmodell.

Die Vorstellung, dass jemand Fremdes in den eigenen Sachen herumwühlte, war für die meisten Dorfleute bis vor ein paar Jahren eher gruselig.

Hier in Aachen sah das anders aus. Und es wurde nicht einmal etwas für die Mitnutzung verlangt.

Die Interims-Bewohner mussten lediglich den Kanarien-vogel füttern und mal lüften. Und sie sollten dafür sorgen, dass bei der Übergabe der Kühlschrank ähnlich gefüllt war, wie bei der Abfahrt der Wohnungsinhaber. Womit war praktisch egal.

Am nächsten Tag hatten Gernot und Marcel schon früh das Haus verlassen. Mone und ich begaben uns gegen zwölf in die Küche und wollten uns was kochen.

Bestürzt stellte ich fest, dass sich in den Schränken nur eine gähnende Leere befand. Nichts war auf Vorrat gekauft worden. Keine Milch, keine Kartoffeln und kein frisches Brot. Es gab weder Gemüse, noch Käse oder Eier.

Schon mit zwölf kochte ich häufiger für die ganze Familie und machte das auch sehr gerne. Aber aus Knäckebrot, zwei Teelöffeln Margarine und etwas Marmelade konnte ich nichts zaubern.

„Wieso haben die Typen denn nichts eingekauft?“, fragte ich ungläubig.

Mone grinste nur und schlug mir vor, eben was „vom Türken“ zu holen. Aber darauf hatte ich keine Lust.

Im Hause Brockmeyer gab es so gut wie immer frische Zutaten. Selten mal wurde etwas aus der Truhe geangelt. Und natürlich war die Kühltruhe immer gut gefüllt, größtenteils mit Schätzen aus dem eigenen Garten.

Meine Oma Bertha hatte stets alles auf Vorrat da. Ihre Töchter traten, was das betraf, in ihre Fußstapfen. Die einzige regelmäßige Ausnahme blieb bei uns sonnabends das Grillhähnchen mit Pommes vom Rastplatz-Imbiss.

Einmal die Woche machte meine Mutter ihren Großeinkauf im Supermarkt in der Kreisstadt. Alles andere besorgte sie bei Hildegard. Es kam vor, dass meine Mutter Rieke und mich auf dem Rückweg vom Aldi oder Penny bei Freundinnen abholte. Oft rief sie, wenn sie irgendwo in der Auffahrt stand, durch das Autofenster: „Mach zu, Ela, ich habe noch Hack im Auto!“

Rieke und ich machten uns daraus immer wieder einen Spaß und brüllten in den unpassendsten Situationen, indem wir die Stimme unserer Mutter nachahmten:„Ich glaub es haaaackt!“

Mone und ich entschieden uns schließlich auf den Markt zu gehen.

Wir kauften frisches Gemüse, Hähnchenfleisch, Obst, Brot, Eier und Käse.

Das Hähnchenfleisch briet ich an und wir ließen es uns mit Möhren und Erbsen schmecken. Mone amüsierte sich darüber, dass ich zu Möhren „Wurzeln“ sagte. Das Wort „Feudel“ kannte sie auch nicht. Ich hingegen konnte mit dem „Aufnehmer“ nichts anfangen; dachte da eher an eine Taste meines Kassettenrekorders.

Mone zeigte mir nachmittags ein bisschen was von Aachen.

Den Dom haben wir aber nur von außen gesehen. Die Führung war uns viel zu teuer und wir hatten keine große Lust auf alte Gemäuer. Es war ein heißer Tag. Trotzdem stürzten wir uns mit anderen Teenies in die Klamottenläden und durchwühlten Tische mit billigen T-Shirts und Shorts.

Nach zwei Stunden waren wir vollkommen verschwitzt und erledigt.

Wir setzten uns mit einem Softeis an einen Springbrunnen und zogen Schuhe und Strümpfe aus, um die Füße ins Wasser zu halten. Mone erzählte mir, dass ihr Ex-Freund in Aachen jobbte. Sie war zwei Jahre älter als ich und hatte schon mit vierzehn ihren ersten festen Freund gehabt.

Aachener Printen haben wir damals nicht gegessen. War ja auch Sommer.

Ich hatte mich mit einem Kokos-Sonnenöl eingerieben. Meine Mutter und TT benutzten es immer. Meine Mutter hatte es mir für meine Fahrt zu Mone gekauft. Ich fand das Zeugs total eklig. Es stank penetrant und hatte sich auf meiner Haut mit dem Staub der Stadt vermischt.

Lachend zeigte Mone auf meine Arme, auf denen massenhaft Gewittertierchen klebten. Auch sie hatte genau wie ich einen üblen Sonnenbrand.

Abends saßen wir nach einer kühlen Dusche lange auf dem Balkon und laberten über Gott und die Welt, während über Aachen die Sonne unterging.

Mone hatte ihrer Mutter am Telefon erzählt, dass alles in Ordnung sei und es auch Maike gut ging. Nach dem Aktuellen Sportstudio wollten wir in unsere Schlafsäcke schlüpfen, da kam Gernot herein und fragte uns, ob wir noch Lust hätten auf eine kleine spontane Fete bei den Leuten in der Wohnung über uns. Ich zögerte. Mone war sofort begeistert und zog mich mit.

Wir brachten eine Flasche Eierlikör aus Maikes Bestand mit nach oben. Die Leute auf der Party waren alle rund zehn Jahre älter als ich. Eine Frau mit Batik-Klamotten stillte auf einem Küchenstuhl ein Baby. Ich saß nur da und glotzte, schlug die Beine übereinander und hielt mich an einer Apfelschorle fest. Man bot mir Zigaretten und Bier und härtere Sachen an, aber ich lehnte das alles ab. Im Wohnzimmer machten Leute zu Reggaemusik wilde Verrenkungen. An dem Abend hatte ich keine Lust zu tanzen, obwohl mir die Songs gefielen und ich mich eigentlich gern zu Musik bewegte. Mir war heiß und etwas schwindelig. Ich hatte wohl einen Sonnenstich.

Meine Haut war krebsrot und schälte sich bereits. Zu allem Überfluss bekam ich Regelschmerzen. Mit Schüttelfrost und brennender Haut schlich ich mich nach einer Stunde zurück in Maikes Wohnung.

Ich fischte mir noch eine Schmerztablette aus dem Badezimmerschrank und schlief auf der Stelle ein.

Sehr früh wachte ich auf und las fast komplett Das Tagebuch der Anne Frank durch, das ich in Maikes Bücherschrank gefunden hatte. Anne Franks Schreibstil packte mich. Die schrecklichen Geschehnisse, die sie beschrieb, ließen mir gewaltige Schauer über den Rücken laufen.

Wir hatten gerade in der Schule etwas über die Nazizeit gehört. Zu Weihnachten hatte ich zwei Jugendbücher über die HJ und die Weiße Rose bekommen. Ansonsten wusste ich fast nichts über diese dunkle Zeit.

Mone hatte die Fete erst spät verlassen und sah am nächsten Mittag im Gegensatz zu mir kreidebleich aus. Ein paar Mal rannte sie wie angestochen zum Klo.

Es stank in der ganzen Wohnung nach Kotze, Schnaps und Knoblauch.

Am späten Nachmittag ging unser Zug zurück nach Hückelhoven.

„Ela, warum weinst du denn?“, fragte mich Mone, als der Zug losfuhr. Sie guckte mich irritiert an. „Wärst du gerne noch länger geblieben?“ Sie gähnte.

„Nein, ich habe im Tagebuch von Anne Frank gelesen und das macht mich einfach traurig“, sagte ich.

„Ah, verstehe.“ Mone nickte müde. „Haben wir auch in der Schule gelesen.“

Meine Brieffreundin schlief ein. Als sie wieder aufwachte, kniff ich ihr in die Wangen, damit ihre Haut rosiger aussah. Außerdem lieh ich ihr meine Sonnenbrille, damit ihre Mutter die Ränder unter ihren Augen nicht sehen konnte.

Frau Reuser holte uns vom Bahnhof ab. Sie blickte ihre Tochter stirnrunzelnd an. Ich hätte mich auch gewundert, wenn mein Kind bei strömendem Regen mit einer Sonnenbrille aus dem Zug gestiegen wäre. Aber Mones Mutter sagte nichts dazu. Sie fragte nur, wie es dem Kanarienvogel ging.

Mit Mone und ihrer Mutter war ich dann auch zwei Tage später in Köln.

„So, Kinder, dann steigen wir da mal hoch!“, flötete Frau Reuser fröhlich und zeigte zu den Turmspitzen des Doms.

„Nö, Mama, bitte nicht. Das haben wir schon sooo oft gemacht“, stöhnte Mone auf.

„Ja, das macht man halt, wenn Besuch von auswärts kommt“, meinte ihre Mutter gleichmütig.

„Ähm, ich will gar nicht hoch, bin überhaupt nicht schwindelfrei“, bemerkte ich kleinlaut.

Frau Reuser gab nach und so standen wir nur auf der Domplatte ´rum und schauten zu den gigantischen Türmen hoch, kauften Ansichtskarten und schipperten eine Stunde lang mit einem Ausflugsdampfer auf dem Rhein herum.

In Köln war alles wuchtiger als in Aachen. Der Himmel über dem Rhein war gigantisch, so schrieb ich es jedenfalls damals in mein Tagebuch. Ich habe wohl schon immer zu Übertreibungen geneigt, behauptete jedenfalls meine Mutter. Als ich aber vor ein paar Jahren mit meinem Mann wieder über die Hohenzollern-Brücke gefahren bin, kam es mir wieder so vor, als wäre das Wolkenbild über dem Rhein dramatischer als über der Elbe. Vielleicht katholischer?!

Vor ein paar Jahren habe ich Ulla Hahns autobiographischen Romane und Elke Heidenreichs Alles fließt gelesen und fand in diesen Büchern, was den Rhein betrifft, Bestätigungen für meine Beobachtungen.

Den Kölner Karneval und die Rosenmontagsumzüge, die sich TT und meine Mutter wahlweise mit Eierlikör oder Sekt vor der Glotze reingezogen haben, fand ich zu grell und zu laut. Und irgendwie nicht von Herzen. Eher aufgesetzt und langweilig.

Kölle Alaaf interessierte mich null. Den 1.FC hingegen fand ich in jenem Sommer immer noch echt gut. Das war damals schon ein cooler Verein und ich habe so manche Träne vergossen, wenn die Spieler um Toni Schumacher und Pierre Littbarski verloren hatten.

Doch rein gar nichts an dieser alten Stadt am Rhein hat mich Anfang der 80er Jahre so beeindruckt wie Saturn. Damals der Plattenladen schlechthin.

Meine Oma sagte vor meiner Fahrt nach NRW zu mir: “Geht auf jeden Fall auch zu 4711!“

Ach, das war mir total egal.

Nach dem Touristenprogramm steuerten Mone und ich schnurstracks Saturn an. Ihre Mutter ging derweil zum Friseur und zur Pediküre. Und zwar bei beiden Dienstleistern das volle Programm. So hatten wir vier Stunden für uns.

Es duftete in diesem Laden so irrsinnig gut nach frisch ausgepackten elektronischen Geräten, nach Plastik und nach Freiheit. Coole Rhythmen und Beats waberten durch den riesigen Verkaufsraum.

Ehrfürchtig ließ ich meinen Blick über das wahnsinnig große Angebot schweifen und war hin und weg, als Mone mir erzählte, dass man in diesem Laden in die Platten per Kopfhörer reinhören konnte.

Wir ließen uns von den äußerst freundlichen und zuvorkommenden Verkäufern immer neue LP´ s und Singles auflegen.

Frauen arbeiteten dort nicht. Jedenfalls nicht an dem Tag, an dem wir uns im Kölner Saturn aufhielten.

Ich hörte etwas von Cindy Lauper. „Boah, cool!“, schrie ich. Doch Mone guckte mich nur stirnrunzelnd an und zeigte auf ihre Kopfhörer.

Auch sie rief irgendwas, das ich nicht verstehen konnte. Ich nahm die Kopfhörer ab und hörte so was ähnliches wie „Alter, Bowie is geil“.

Gerne hätte ich mir viel mehr Scheiben gekauft. Aber ich hatte nur noch dreißig Mark übrig und so konnte ich mir nur das Album Born in the USA von Bruce Springsteen und die Single Time after time von Cindy Lauper leisten.

Der „Boss“ war in meinem Freundeskreis heiß begehrt. Johanna und andere Schulfreundinnen schwärmten von seiner Musik und von seinem Hintern auf dem Plattencover.

Ich vergötterte Springsteen auch und hatte mir das Geld für seine neue Platte mühsam zusammengespart.

In der Bravo informierte ich mich über das Privatleben der Stars. Inzwischen kaufte ich mir das Heft selber. Mit meinen Freundinnen und einigen Jungs aus der Schule veranstalteten wir regelmäßig Plattenabende, an denen wir bei irgendjemandem im Zimmer hockten und mit geschlossenen Augen den Songs einer neu erstandenen Scheibe lauschten. Manchmal tanzten wir Mädchen auch zu The Police, Nena oder Hubert Kah. Ulli war leider nie dabei.

Ich las wahnsinnig viel und gerne, aber Musik begleitete wirklich jede Ritze meines Teenagerlebens. Sie war immer da und nur durch bestimmte Songs kam ich an meine Gefühle.

Johanna ging es damals sehr ähnlich. Mone auch.

Auf Konzerte ging ich so gut wie gar nicht. Ich war zu träge, mich rechtzeitig um Karten zu kümmern und sie waren mir meistens auch zu teuer. Mein Babysitter-Lohn plus Taschengeld reichte dafür nicht aus. Auf der Zugfahrt von Mone nach Hause hörte ich mit dem Walkman meine Kassetten. Das Gerät hatte mir Tante Tilda zur Konfirmation geschenkt. Herbert Grönemeyer, Alison Moyet, The Police und Bruce Springsteen versüßten mir die Heimfahrt.

Ganze Sonnabende im Herbst und im Winter haben Johanna und ich damit zugebracht, Hüllen von Leerkassetten zu beschriften. Wir haben die Linien auf den kleinen Blanko-Booklets der Kassettenhüllen mit Wachsmalstiften grundiert und dann mit Filzstiften Interpret und Kurztitel darauf geschrieben. Meistens hockten wir im Schneidersitz auf dem Fußboden oder auf dem Bett. Meine Zunge kippte mir aus dem Mund, wenn ich die Kassetten in höchster Konzentration beschriftete.

Wolf-Dieter Stubel war der Moderator, dessen Stimme auf sehr vielen Tapes der frühen 80er zu hören war. Er lieferte aus dem Funkhaus in Hamburg direkt vom Plattenteller in norddeutsche Jugendzimmer.

Ich träumte also bei cooler Musik in meinem Abteil vor mich hin, als es plötzlich passierte: eine Art Würgegeräusch kündigte einen Bandsalat an. Das Kassettenband hatte sich verheddert und war vollkommen aus der Spur geraten. Ich versuchte, mit Hilfe eines Bleistiftes das Band wieder auf die Spulen aufzuwickeln. Dabei riss das ohnehin poröse Magnetband durch.

„Scheiße, Scheiße“, fluchte ich laut vor mich hin. Meine Sitznachbarn im Abteil guckten mich an, als sei ich nicht ganz dicht.

Ich wagte nicht, ein weiteres Tape einzulegen. Zu Hause würde ich das Teil mit Tesa reparieren. Gestresst schob ich mir ein Kaugummi in den Mund.

Während die Landschaft an mir vorüberzog, dachte ich über Köln und Aachen nach. Was es doch in Städten für unendliche Möglichkeiten gab.

Jugendliche trafen sich dort in Discos, Jugendkellern oder Billardclubs. In Plattenläden, Bistros und Eisdielen. Sie schlenderten mit coolen Jeansjacken am Rheinufer entlang, hörten auf der Kölner Domplatte mit Ghettoblastern gemeinsam Musik oder führten Breakdance-Einlagen vor, für die sie auch Geld zugeworfen bekamen.

Die Treffpunkte unseres Dorfes für Jugendliche waren schlichterer Natur. Das Kriegerdenkmal, zwei Bushaltestellen, eine Telefonzelle und das Kühlhaus standen in Olde zur Verfügung.

An diesen Orten lagen immer Kippen, und auch mal Kondome. An der Bushaltestelle gab es dann noch den orangefarbenen Kaugummiautomaten. Allerdings war der Schlitz für das Münzgeld total verklebt.

Ziemlich ausgelaugt kam ich gegen Abend in Hamburg an. Zum Glück waren die beiden Schallplatten unversehrt geblieben.

Meine Mutter holte mich am Hamburger Hauptbahnhof ab. Ich freute mich sehr, sie wiederzusehen. Abgehetzt erzählte sie mir, dass mein Vater mit dem Mähdrescher zur Landmaschinenwerkstatt musste und Opa auch keine Zeit hatte, mich zu fahren.

„Los, Ela, wir müssen zum Abendbrot zu Hause sein! Dein Vater will was in den Bauch kriegen, wenn er wieder da ist“, trieb meine Mutter mich an.

Und dann kam tatsächlich: „Ich hab außerdem Hack im Kofferraum!“ Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

Meine Mutter musste sich auf den Hamburger Feierabend-verkehr konzentrieren und klebte an der Windschutzscheibe.

Die Fahrt vom Hauptbahnhof zu unserem Hof glich einem Höllentrip. Ich schwitzte vor Angst, aber ich schwieg.

Aus lauter Dankbarkeit, dass wir unfallfrei zu Hause ankamen, schmiegte ich mich auf dem Hof an meine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Verdutzt schaute sie mich an.

Nach dem Abendbrot machte ich mich daran, das Kassettenband zu reparieren.

Rieke kam ohne Anklopfen in mein Zimmer gestürzt. „Bitte gib mir mal die Springsteen-Platte!“, bettelte sie mich an.

„Nö, da höre ich erst selbst in Ruhe rein! Außerdem geht bei dir immer alles kaputt“, sagte ich mit Nachdruck und hielt die LP versteckt hinter meinem Rücken.

„Ela, du hättest mir auch gerne was von den Eurythmics mitbringen können“, nervte meine Schwester mich weiter.

„Ich hatte kein Geld mehr. Hol dir das doch selber“, sagte ich und streckte ihr die Zunge raus. „Irgendwo in der Weltstadt Hamburg wird es diese Platten schon geben.“

Beim Versuch, Rieke aus meinem Zimmer zu schieben, fiel mir die Springsteen-Scheibe runter. Vor Schreck machte ich völlig kopflos einen Schritt nach hinten, trat auf das gute Stück und es zerbrach. Verzweifelt schrie ich auf und sprang aufgeregt herum.

„Da siehst du, was du angerichtet hast!“, brüllte ich meine Schwester an. Die rannte aus dem Zimmer und ich schmiss mich heulend auf mein Bett.

***

„Michaela, hast du dir weder den Aachener, noch den Kölner Dom von innen angesehen?“, fragt TT entsetzt nach. „Beide gehören doch zum UNESCO-Kulturerbe, Kind! Und man muss doch in Köln auf die Besucherplattform des Domes... Mensch, dieser Wahnsinns-Blick!“

Um Himmels Willen, ich bin doch nicht schwindelfrei…“, erinnere ich meine Tante. „Ich habe mir aber einiges von Mones Eltern über den Kölner Dom anhören müssen und später auch darüber gelesen. Wir Mädels haben uns damals für ganz andere Dinge interessiert als alte Kirchen, Geschichte und Architektur.“

TT bringt kein weiteres Wort heraus. Kopfschüttelnd liest sie meinen Text. Ihr Mund steht vor Bestürzung weit offen.

Wieso hast du den Ausflug nach Roermond nicht näher beschrieben? Hätte mich interessiert, was ihr bei dem Abstecher nach Holland noch so erlebt habt“, insistiert sie weiterhin hartnäckig.

Ich kann ja nicht über alles schreiben“, entgegne ich.

Schön war es da! Wir haben Leute beobachtet, Frikandeln gegessen und Zigaretten, Lakritze, Tassen und Schuhe gekauft. Wir waren noch kurz auf einer Kirmes und auch in einem Coffeeshop!“

Coffeeshop?“ Entgeistert guckt mich meine Tante an. „Mit dreizehn? Das hat die Mutter von Simone euch doch sicher nicht erlaubt!“ Sie schnappt nach Luft.

Okay, das hätte mich auch mal interessiert“, fährt sie dann in ruhigerem Ton fort.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Der Vater ist mit ´rein gekommen und Mone war ja schon älter. Wir haben auch nix probiert, nur mal gerochen. Ihre Mutter wusste davon gar nichts“, beruhige ich sie.

Ich bin mir sicher, dass TT auf jeden Fall mit uns in einen Coffeeshop gegangen wäre. Allein schon zu Forschungszwecken. Es wundert mich, dass sie sich so aufregt.

In Aachen hättet ihr auch die Carolus- Thermen besuchen können“, doziert TT.

Ist das so was wie ein Hamam?“, frage ich neugierig.

Ja, vergleichbar. Aber ich war leider noch nie dort. Es soll dort heilsame Mineralthermen geben. Bestimmt gut zum Entspannen. Ist ja auch wichtig auf Reisen“, schwärmt meine Tante.

Manchmal langweilt mich ihr Wellness-Fimmel.

Übrigens hat mir mal jemand erzählt, dass es in Aachen einen gravierenden Männerüberschuss gibt“, merke ich ruhig an.

TT zuckt gelangweilt mit den Schultern. „Ja, hab ich auch mal gehört, das hängt angeblich mit der renommierten RWTH zusammen.“

Ich stöhne auf. Mich nervt es tierisch, dass meine Tante immer so gut informiert ist. Wie kann das bloß sein, dass sie immer alles weiß? Surft sie den ganzen Tag im Internet herum oder liest sie ständig in Wartezimmern oder bei der Kosmetikerin Artikel über die demographische Entwicklung in unserem Land?

Die RWTH in Aachen gilt doch als Eliteuniversität für Ingenieurfächer.“ TT lässt nicht locker und denkt garantiert noch dazu „was ja jeder weiß“.

Außerdem war ich mit Onkel Wolfgang auch schon öfter in Aachen. Tante Irma wohnte doch im Rheinland.“

Aha“, meckere ich los, „und Frauen studieren ja solche Fächer natürlich nicht.“ Ich strecke TT leicht meine Zunge raus.

Ela, lass dich doch nicht immer so provozieren“, lacht meine Tante gekünstelt auf. „Du bist wirklich eine kleine Kampf-Emanze.“ TT tätschelt mein Knie.

Aufgebracht fege ich ihre Hand von meinem Bein.

So klein bin ich gar nicht“, kontere ich mit zusammengekniffenen Augen.

Tante Tilda nickt leicht amüsiert und zündet sich eine Zigarette an.

Aber sag mal, mein Kind, findest du dieses Kapitel nicht sehr überfrachtet? Und dann so komplexe Themen wie die Nazizeit und Homosexualität da rein zu packen...das ist nicht ohne.“ TT zieht angespannt an ihrer Zigarette.

Ich stutze. Mir ist gar nicht mehr klar, dass ich über das Dritte Reich geschrieben habe. Doch dann fällt mir Anne Frank mit ihrem Tagebuch ein.

Äh, ja, das gehörte doch zu unserer Entwicklung und Bildung dazu. Wir haben in der Oberstufe viele Sachbücher und Romane über das Dritte Reich gelesen.“

Das ist mir schon klar.“ TT macht sich gerade. „Aber muss das in dein Buch?“

Ja!“, sage ich bestimmt, „auf jeden Fall! Ich wollte viel darüber wissen und es irgendwie verstehen. Und es hat mich aufgewühlt. Und nicht nur mich. Johanna, Mone und andere Freundinnen auch. Ich hab auch Oma und Opa ausgefragt, aber da kam nicht viel.“

Das hätte ich dir so sagen können, dass da nix kommt.“ TT winkt ab. „Die wollten sich einfach nicht mehr damit beschäftigen. Ich kann es auch zum Teil verstehen.“

TT wird nachdenklich und seufzt.

Ach, lass uns nicht weiter darüber reden, der ganze Schiet hat mir auch irgendwie meine Kindheit kaputtgemacht.“

Ich nicke mitfühlend. Meine Mutter hatte immer mal wieder Ähnliches gesagt.

Ich wechsle das Thema. „Und das mit den schwulen Männern habe ich erzählt, weil es eben so war und ich kannte bis dahin wirklich keine Schwulen.“

Meine Tante drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus.

Ich dachte nur, dass es für die Leser vielleicht etwas viele Themen sind. Aber du machst das schon, Ela.“

Ich bin weiter in Plauderlaune.

Manchmal hatte ich den Eindruck, dass hier damals sogar Linkshänder als Leute galten, die aus der Reihe tanzen. Allerdings hab ich nicht mitbekommen, dass Mama und Papa Vorbehalte gegen Leute hatten, die andere Lebensstile hatten oder sich sexuell anders orientiert haben.“

TT wiegt ihren Kopf hin und her.

Ja, im Großen und Ganzen waren sie recht tolerant. Deine Mutter tickte da schon ähnlich wie ich. Oma hat uns das eigentlich auch vorgelebt. Bei Hanno weiß ich das nicht so recht. Ich glaube, der hatte immer zu wenig Zeit und Ruhe, sich über solche Dinge Gedanken zu machen.“

Ich nicke nachdenklich.

TT legt mein Manuskript zur Seite. Sie schnappt sich ihre Autoschlüssel und zieht sich ihren Trenchcoat über.

Übrigens, die Rosenmontagsumzüge lass ich mir nicht vermiesen“, ruft meine Tante mir noch zu, bevor sie aus der Tür ist. Ein Abschiedsgruß kommt nicht mehr.

Was meint sie mit den Rosenmontagsumzügen? Dann begreife ich, dass ich ja auch was zum Kölner Karneval geschrieben habe.

Ich frage mich, ob sie sauer ist, weil sie so abrupt aufbricht.

In manchen Momenten werde ich aus TT nicht schlau. Aber ich weiß, dass sie nicht nachtragend ist und wiederkommen wird.

Dorf, Stadt Fluss

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