Читать книгу Gesundheit – ein Gut und sein Preis - Sabine Predehl - Страница 6
I. Die „modernen Volksseuchen“
ОглавлениеDie ganze Welt, die öffentliche wie die private, ist voll von Gesundheitstipps. An jeder Ecke, aus berufenem und unberufenem Mund, erwünscht oder nicht, sind Ratschläge zu haben, wie man fit und gesund bleibt, den Krankheiten entgeht, an denen die Masse der hochzivilisierten Zeitgenossen laboriert und stirbt, was vorbeugend gegen die und begleitend zu den häufigsten Leiden zu tun ist. Offenbar ist ganz selbstverständlich, gilt jedenfalls unwidersprochen, dass viele und gerade die am meisten verbreiteten Gebrechen eine Sache des „Lifestyle“, des Umgangs der Menschen mit ihren Lebensumständen sind. Und irgendwie ist in all diesen wohlmeinenden zweckdienlichen Hinweisen explizit oder stillschweigend unterstellt, dass mit diesen „Umständen“ selber etwas nicht in Ordnung sein kann, wenn die Menschen ihnen mit Vorsicht und Geschick die Erhaltung ihrer Gesundheit abringen müssen.
Tatsächlich ist überhaupt nicht unbekannt, dass die alles andere als natürlichen Gegebenheiten, die ein durchschnittliches bürgerliches Leben bestimmen, mehr oder weniger ursächlich sind für eine Mehrzahl der Leiden, die die moderne Menschheit quälen und am Ende umbringen. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat sogar einen Namen: Was früher Pest und Seuchen waren, das sind heute die Zivilisationskrankheiten. Der einschlägigen Begriffsbestimmung – Leiden, „deren Häufigkeit (Inzidenz) einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten bzw. -verhältnissen aufweist, wie sie in Industrieländern vorherrschen“ – lässt der medizinische Sachverstand zwar postwendend eine Art Dementi folgen:
„Der Begriff der ‚Zivilisationskrankheit‘ ist insofern missverständlich, als dass eine verbesserte soziale und ökonomische Infrastruktur nicht automatisch Krankheiten nach sich zieht, sondern – im Gegenteil – eine Verbesserung der medizinischen Versorgung bedeutet. Zivilisationskrankheiten werden nicht durch die Zivilisation selbst, sondern durch einen ungesunden, der menschlichen Physiologie nicht entsprechenden Lebensstil verursacht...“ (flexikon.doccheck.com)
Doch was hilft schon der gutgemeinte Hinweis, dass eine „Infrastruktur“ „nicht automatisch“ krank macht, sondern immer noch jemand dazugehört, der tatsächlich „ungesund“ lebt? Wenn der entsprechende „Lebensstil“ eine so hohe „Inzidenz“ aufweist und dessen gesundheitliche Folgen einen so „wahrscheinlichen Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten bzw. -verhältnissen“ in den „Industrieländern“, dann wird der Stil schon zu den Verhältnissen passen. Und am Ende ist dann doch gar nicht so entscheidend, wie sich einer den Umgang mit seinen Existenzbedingungen zurechtstilisiert – sehr individuell scheint das ja ohnehin nicht zu gelingen –, sondern was der Mensch im Rahmen seiner stilvollen Lebensführung tagaus tagein zu bewältigen hat.
Fest steht jedenfalls, statistisch ordentlich ermittelt: Es ist relativ überschaubar, woran die Masse der industrialisierten Wohlstandsbürger in der zivilisierten Welt typischerweise zu leiden und zu sterben pflegt:
„Eine relativ kleine Gruppe von Erkrankungen ist für einen Großteil der Krankheitslast in Europa verantwortlich. Von den sechs WHO-Regionen ist Europa von nichtübertragbaren Krankheiten am stärksten betroffen, und ihr Anstieg ist erschreckend. Die praktische Bedeutung der am stärksten verbreiteten nichtübertragbaren Krankheiten (Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen und psychische Störungen) ist ebenso alarmierend: Zusammengenommen machen diese fünf Krankheiten geschätzte 86 % der Todesfälle und 77 % der Krankheitslast in der Europäischen Region aus.“ 1)
Der Befund dürfte weder Zufall sein noch Folge eines massenhaften Beschlusses, mit eigentlich ganz gut verträglichen europäischen Lebensbedingungen konsequent unvernünftig umzugehen. Er verweist auf Belastungen, und zwar sehr stereotype, die diese zivilisierten Verhältnisse ihren Insassen zumuten, deren Bewältigung die sich auch selber im Rahmen eines ebenso stereotypen Lebensstils abverlangen – und die auf Dauer eben nicht auszuhalten sind. Welche Belastungen und welche Leistungen das sind, das ist an den pathologischen Folgen manchmal noch deutlich zu sehen und manchmal auch nicht. Insgesamt sprechen die „Volksseuchen“ deutlich genug für sich – sollte man meinen.