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Tag zwei von zwölf

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Silvias Wecker klingelte wie gewohnt um sechs Uhr. Auch im Urlaub wollte sie ihre seit drei Monaten gewonnene Routine beibehalten: eine Stunde Sport, Frühstück, dann den Tag beginnen.

Sie zog den Laufdress an und verließ die Kabine, um in das Fitnesscenter zu gelangen.

Trotz der frühen Stunde waren fünf der zehn Laufbänder bereits belegt. Silvia grüßte kurz nach rechts und links und legte dann ihr Handtuch über die Stange an der Seite und schaltete das Band ein. Zehn Kilometer, mit Steigungen und Sprints. Nach der Kreuzfahrt wollte sie ihren Dienst als Kommissarin wieder aufnehmen, dazu musste sie körperlich wie geistig wieder voll auf der Höhe sein. Ihr Ehrgeiz verlangte von ihr, dass sie ihrer alten Form in nichts nachstand. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich ein Jahr lang gehen lassen, aber seit einigen Monaten, seitdem sie die Perspektive gewonnen hatte, zurückzukehren, arbeitete sie wieder hart und hatte sich konkrete Trainingsziele gesetzt. Und wer weiß, bei einem Einsatz konnte eines Tages die Fitness über ihr Leben entscheiden ... Beim Laufen motivierte sie sich immer damit, dass sie auf alles zurückblickte, was sie in der Rehabilitation schon geschafft hatte. Immer wieder war sie versucht, wenn das Band eine Steigung simulierte, oder einen Sprint ansetzte, das Tempo herunterzusetzen. Dennoch tat sie es nicht: „Wenn ich einen Täter verfolgen muss, kann ich ihn auch nicht bitten, etwas langsamer zu laufen!“

Zuhause lief sie gerne im Tiergarten, lieber noch am Schlachtensee in Zehlendorf.

Das tat ihr immer sehr gut, und nichts macht den Kopf klarer, als diese Stunde jeden Morgen. Hinterher fühlte sie sich einfach nur super; frische Luft im Körper macht frische Gedanken im Kopf!

Es war so wohltuend, auf das Meer zu schauen, zu sehen, wie das Schiff langsam seinen Weg durch die blaue Unendlichkeit nahm, stetig, unbeirrbar auf das Ziel gerichtet. Auf der anderen Seite, von ihrer Kabine aus, hatte sie bereits die Küste gesehen. In einer Stunde würde die „Amerigo“ in Civitavecchia anlegen.

Silvia schnaufte sich eine vom Laufband vorgetäuschte Steigung hinauf. Nicht aufgeben, beiß dich durch, du schaffst das! Endlich wurde das Band wieder gnädiger. Sie lief langsam den letzten Kilometer aus, trat herunter und dehnte ihre Muskeln ausgiebig.

Nach der Dusche in der Kabine betrat sie wieder das Restaurant. Durch die voll verglaste Fassade war der Hafen zu erkennen, in der Ferne die Bergkette der Apenninen. Darüber ein strahlend blauer Himmel; einige wenige Schönwetterwölkchen sorgten für einen perfekten Kontrast.

Als sie den riesigen Saal durchquerte, fielen ihr etliche Gesichter auf, die sie schon am Abend vorher bemerkt hatte. Irre, über zweieinhalbtausend Leute auf dem Schiff und man trifft die gleichen Gesichter wieder, lächelte sie.

Auch Irene Menken saß an dem runden Tisch vom Vorabend, eifrig mit der Mutter von Claudius schnatternd und schien Silvia zunächst kaum zu bemerken. Als sie näher kam, brach Frau Menken ihr Gespräch jedoch ab und winkte begeistert: „Hallo, Frau Landwehr, na, det ist ja een Zufall, dat Sie och wieder hier sind! Hier, kommen Sie, kommen Sie.“ Sie rückte ihren Stuhl beiseite, um Silvia noch deutlicher auf den freien Platz neben sich hinzuweisen.

„Unsere blinden Freunde von jestern sind schon wieder weg, war ne Schau, die am Büfett zu sehen ... Eener hat allet erklärt und dann, wie normal, nich‘ zu glauben, haben die sich bedient. Nicht zu glauben, wa?“

Sie drehte sich nach rechts, um gleich weiter zu palavern. Silvia war das mehr als recht. Das Büfett war wieder gewaltig: Eine unfassbare Menge an verschiedenen Brötchen, Broten, Aufschnittsorten, Marmeladen – und das war nur der „kalte“ Teil! Es gab noch die Möglichkeit, sich ein ganzes Menü zusammenzustellen, mit verschiedensten Eierspeisen, Würstchen, Schinken, gegrilltem Gemüse, gebackenen Bohnen, heißen Waffeln und Pfannkuchen. Natürlich durfte auch eine Müslitheke nicht fehlen. Genau darauf steuerte Silvia gleich zu. Sie liebte morgens Müsli und die Auswahl hier stand der in einem großen Supermarkt in nichts nach. Dazu gab es ein riesiges Angebot an frischem Obst, bereits geschnitten, oder schon als Salat angerichtet – ein Paradies. Silvia nahm sich noch Bananen– und Pfirsichstückchen obenauf und garnierte alles mit Joghurt und, kleine Sünde, Schokostreuseln. Dann bugsierte sie ihre mittlerweile recht überladene Schüssel zurück an den Platz neben Frau Menken.

Ab und zu, wenn es in die Unterhaltung passte, warf sie ein „Nein, wirklich?“ oder „nicht zu glauben“ in die Konversation ein und stellte Frau Menken damit zufrieden, bis diese sich ihr gezielt zuwandte:

„Gehen Sie denn auch mit nach Rom?“

„Ich werde auf eigene Faust dahin fahren“, antwortete Silvia, „ich war schon mal mit meiner Tochter eine Woche lang dort und habe mir genau überlegt, wo ich noch gerne hin möchte.“

„Na, wir werden die Stadtführung mitnehmen. Sind ja nur ein paar Stunden und det muss man optimal ausnutzen, nich wa?“

„Sicher! Und das Programm ist hervorragend! Sie werden bestimmt viel erleben und diese atemberaubende Stadt kennen– und lieben lernen!“ Irene Menken nickte glücklich und wünschte auch Silvia einen schönen Tag.

„Viel Vergnügen dann, wir sehen uns heute Abend!“, Silvia stand auf und verließ den Saal, um sich in ihrer Kabine für den Ausflug fertig zu machen.

Auf dem Weg dorthin begegnete sie einigen aus der Gruppe der Blinden, die sich gerade, um ihre beiden Reiseleiter gescharrt, die Organisation des Tagesausfluges anhörten.

Blind in Rom. Spannend. Vielleicht gelingt es mir, mal mehr Kontakt zu denen zu knüpfen und mir erzählen zu lassen, wie sie so eine Reise erleben.

Zurück in ihrer Kabine packte sie die notwendigen Dinge in ihre große Handtasche aus hellbraunem Leder und ging von Bord.

Am Bahnhof von Civitavecchia herrschte das erwartete Gedränge. Zwei Kreuzfahrtschiffe hatten hunderte, wenn nicht tausende von Passagieren in die Hafenstadt entlassen. Silvia bestieg den nächsten Zug nach Rom und ergatterte sogar einen Sitzplatz.

Die Tür der Kabine öffnet sich, eigentlich hatte ich erwartet, dass der Passagier beim Landausflug ist oder den schönen Tag auf Deck genießt.

Ich sage in gebrochenem Englisch (eine Schande, dass ich es noch nicht besser gelernt habe!): „Room Service now!“, und lächele. Der Mann lächelt zurück. Er deutet an, an ihm vorbei in die Kabine zu gehen. Ich glaube zunächst, dass er sie gerade verlassen will, als er von innen hinter mir die Tür zuschlägt. Ich stehe nahezu im Dunklen. Die Rollos sind geschlossen, nur ein ganz knapper Streifen Licht ringt am Rand mit der überwältigenden Dunkelheit des Raumes.

„Light, please!“, meine Stimme klingt so verunsichert, wie ich mich fühle. Ich drehe mich zu ihm um, der Mann muss doch genau neben dem Lichtschalter stehen! Seine Silhouette ist von der Wand kaum zu unterscheiden, als er sich auf mich zubewegt.

„Please, more light!“, flehe ich. Seine Hände greifen nach mir, ein Arm legt sich um meine Schulter und presst meine Arme links und rechts an den Körper. Ich protestiere, jetzt auf Spanisch, wehre mich, zappele, um seinem Griff zu entkommen.

Ein Tuch legt sich mir auf Mund und Nase, er hält meine Arme weiterhin fest und ich versuche die Luft anzuhalten, solange es geht. Irgendwann muss ich einatmen. Ein stechender Schmerz fährt mir in Nase und Mund, ich muss husten, es brennt so, Tränen schießen mir in die Augen ...

Silvia folgte nicht dem Strom der Touristen zum Petersplatz, sondern stieg am Hauptbahnhof aus, um zur Domitilla–Katakombe zu gelangen.

In der unterirdischen Basilika warteten etwa zwanzig Menschen auf den Beginn der nächsten Führung. Nach kurzer Zeit erschien ein kleiner, dunkelhaariger Mann mittleren Alters und stellte sich als ihr Fremdenführer, „La guida della catacomba“, vor. Er sprach Englisch mit solch ausgeprägter italienischer Melodie, dass Silvia schmunzeln musste. Höchst erfreut wies er mit der Hand auf eine Gruppe von Frauen, die in einer Ecke standen: ein kleiner Frauenchor aus Norditalien, der auf einem gemeinsamen Ausflug war. Verschämt und ein wenig schüchtern nahmen sie die Aufforderung des Fremdenführers an, ein Lied zu singen, um die herrliche Akustik der Basilika für alle erlebbar zu machen.

Es war überwältigend. Der Raum brachte die Töne zum Leuchten, sie umhüllten in ergreifender Klarheit und Schönheit die Zuhörer.

Silvia schloss die Augen und ließ sich ganz auf den Klangteppich der unbekannten Worte ein. Die Frauen berührten mit dem lateinischen Choral, tief ihr Herz. Als sie endeten, musste sie sich verstohlen ein paar Tränen wegwischen.

Die Führung war sehr interessant. Sie erfuhr, dass die Katakomben unter Rom ein kilometerlanges Netz zogen. Für jeden Toten wurden Nischen in den Stein gehauen, teilweise wunderschön mit christlichen Symbolen und Szenen aus der Bibel geschmückt. Über Treppen aufwärts und abwärts wurden sie durch das Labyrinth geführt, in dem sie allein schon nach kurzer Zeit verloren gewesen wären – trotz ihres Sehsinnes.

Wie würde sich ein Blinder hier orientieren? Solange man sehen kann, ist das mit etwas Übung ja ganz einfach: am heiligen Petrus drei Treppen abwärts, dann beim guten Hirten nach links um die Ecke ... Sie schloss die Augen, um zu probieren, was sie von dem Gang ohne zu sehen wahrnehmen könnte. Unwillkürlich tastete sie mit der Hand nach einem Halt und griff in eine Grabnische statt an die Felswand. Sofort stolperte sie, sie öffnete zwar als Reflex die Augen, konnte sich aber nur noch vor dem Sturz bewahren, indem sie sich in die Nische fallen ließ und gerade noch zu sitzen kam. Wie elektrisiert sprang sie hoch, knallrot im Gesicht. Der Fremdenführer sah sie streng an. Grabnischen waren nicht zum Ausruhen für fußlahme Touristen gedacht. Wirklich nicht.

Nach zwei Stunden gelangten sie wieder in die Basilika und bedankten sich für die gute Führung. Über eine Treppe kam Silvia zurück ans Tageslicht. Mittlerweile war es Mittag, die Sonne strahlte mit herrlicher Wärme vom Himmel und ein feuchter, angenehmer Wind streichelte Silvias Gesicht.

Sie beschloss, den nächsten Bus in die Stadt zu nehmen und dort einfach ein wenig herumzubummeln.

Ich habe solche Kopfschmerzen! Schnell wird mir meine neue Lage bewusst, meine Augen gewöhnen sich an das dämmrige Licht: Ich sitze auf dem kleinen Hocker, der sonst unter dem Spiegel steht. Auf meinem Mund klebt ein großer Streifen Klebeband, es tut so weh! Als ich versuche, meine Lippen zu bewegen, spüre ich, wie kleine Hautfetzchen abreißen. Dennoch will ich ihn ansprechen, ihn fragen, was er mit mir macht. Die Verzweiflung wird immer größer, ich beginne zu weinen, schluchzen.

Ich bin nackt! Oh, Gott, was hat der Typ mit mir gemacht? Was hat er vor? Ich versuche, Beine und Arme zu bewegen, nichts geschieht. Meine Beine sind an den Hocker gebunden, die Arme auf den Rücken geschnürt. An den Handknöcheln sind sie verklebt, auch mit Packband ...

Ich sehe einen Schatten vor mir knien, er scheint mein Gesicht zu begutachten ... eine Hand legt sich auf meine Wange, sie streicht eine Träne fast zärtlich weg. Und mit einem gewaltigem Ruck, ein Gefühl, als würde ein rot glühender Schürhaken in mein Gesicht gepresst, reißt er das Klebeband ab. Der Schmerz lässt mich aufkeuchen, meine Lippen bluten, die Haut ist abgezogen, alles ist wund und schmerzt. Sofort schnappe ich nach Luft und will schreien, da legt sich auch schon seine Hand wie eine Pranke auf meinen Mund. Er macht „Sch“, wie eine Mutter, die einen Finger auf die Lippen legt, wenn das Kind still sein soll. Ich kann ihn nicht richtig erkennen im Dunklen. Langsam nicke ich. Wenn ich jetzt mitspiele, nicht schreie, brav bin, passiert vielleicht nichts Schlimmeres.

In einer Sprache, die ich nicht verstehe, redet er auf mich ein. Beruhigend, beschwichtigend ist sein Tonfall. Liebevoll streicht er mir über das Haar. Weder berührt er meine Brust noch meine Haut … nur an meinen Haaren scheint er interessiert zu sein.

Ich flüstere leise auf Englisch: „Help. Let me go. Please. Now.“

Er redet auf mich ein, dann legt er seine Stirn an meine. Seine Hand hält meinen Hinterkopf ganz fest. Er sagt:

„I will help you. Now.“ Dabei drückt er mit einem Finger so fest auf die Stelle im Nacken, wo der Schädelknochen anfängt, dass es schmerzt.

Er steht auf, kreist um mich herum und gelähmt vor Angst und Spannung halte ich den Kopf auf die Brust gedrückt. Ich kann mich kaum bewegen und habe schreckliche Angst, einen Fehler zu machen, seine Gewalt erneut herauszufordern. Rodrigos Gesicht erscheint vor meinen Augen. Mein geliebter Mann, was wird er nur jetzt tun? Seine Schicht, genauso wie meine, endet erst in acht Stunden. Vorher wird mich niemand vermissen. Erschreckt höre ich, wie der Mann seine Hose öffnet, sie herunterrutscht und er sie mit Schwung auf das Bett schleudert. Was will er mir in dieser fest geschnürten Lage antun? Er packt meinen Hinterkopf und drückt meinen Schädel noch kräftiger auf die Brust. Er beginnt heftig zu atmen und befriedigt sich deutlich hörbar. Was wird er tun, wenn er fertig ist? Lässt er mich dann laufen? Ich beginne zu hoffen und zu beten. Kurz bevor seine Erregung ihren Höhepunkt findet, lässt er meinen Kopf los, ich bin erleichtert. Es ist überstanden. Ich bin erlöst! Dann … sehe ich von oben auf mich selbst herab. Er ejakuliert auf den Fußboden und stöhnt ein letztes Mal laut auf. Aus meinem Nacken ragt genau aus der Stelle, die er so fest gedrückt hatte, ein Messergriff aus geschnitztem Holz. Es tut nicht weh. Nichts tut mehr weh. Ich spüre keine Schmerzen mehr und die Angst ist auch weg. Ruhe und Frieden stellen sich ein. Endlose Liebe zu meinem Mann, meinem Schatz. Dann verlasse ich diesen Ort.

Es war heiß in Rom und wie immer voller Touristen. Silvia gönnte sich ein großes „Gelato“ aus einer der zahlreichen Eisdielen mit ihrer sensationellen Auswahl. Dann setzte sie sich auf die Spanische Treppe, um dem Treiben in der Stadt aus sicherer Distanz zuzusehen. Eine Filmszene aus einem alten Hollywoodstreifen kam ihr in den Sinn: Audrey Hepburn auf eben diesen Stufen als geflohene Prinzessin und Gregory Peck setzt sich zu ihr ... Nun, für sie war kein Traummann mit starken Muskeln in Sicht ... Bin mir auch nicht sicher, ob ich das möchte. Als ich das letzte Mal dachte, meinen Prinzen getroffen zu haben, hat das ganz böse geendet. So etwas brauche ich eigentlich nicht wieder. Auf diese Weise jedenfalls nie mehr.

„Sie sollten nicht so kompromisslos in die Zukunft sehen. Es kann gut sein, dass, wenn alles passt, auch wieder eine neue Beziehung im Raum steht“, Silvia glaubte die Stimme ihrer Therapeutin zu hören, „da werden dann Ihre Zweifel und Ihre alten Verletzungen nicht mehr im Wege stehen. Öffnen Sie sich Ihrem Glück!“

Silvia atmete tief durch und beschloss in Gedanken das Thema zu wechseln. Olle Kamellen! Wenn der Traumprinz auf einem Traumschimmel angeritten käme, würde sie schon auf ihn zugehen – um ihm zu sagen, dass sie Angst vor Pferden habe.

Sie bummelte noch durch die Stadt und sah sich in Boutiquen ein wenig um. Wenn sie jetzt ein Souvenir für ihre Tochter Anja fände, könnte sie dieses wichtige Thema gleich abhaken.

In einem kleinen Geschäft an einer Straßenecke fand sie einen Kleiderständer mit Seidenschals in allen Farben. Die würden ihrer Tochter gefallen! Sie wählte einen Schal aus, auf dem viele kräftige Farbtöne in einem Wirbel zusammenliefen. Eigentlich war er wirklich sehr, sehr schön ... und zu den bevorzugt grauen und schwarzen Oberteilen, die sie selber gerne trug, würde er ausgezeichnet aussehen.

Mal ein bisschen mehr Farbe, wäre nicht schlecht. Mal ein bisschen gewagter.

Sie lächelte und suchte einen weiteren Schal für Anja aus, mit ähnlichem Farbenspiel, aber ein ruhigeres Muster. Den „Wirbelschal“ legte sie sich gleich um die Schultern, um ihr graues Top aufzupeppen. Im Spiegel sah das richtig gut aus.

Beschwingt von ihrem Shoppingerfolg fuhr sie zum Bahnhof zurück, um den nächsten Zug nach Civitavecchia zu nehmen. Noch war der Zug fast leer, die meisten kosteten die Zeit in der „Ewigen Stadt“ bis zum Ende aus.

Sie ging zurück auf die „Amerigo“ und suchte ihre Kabine auf. Das riesige Schiff wirkte wie ausgestorben.

Es war so herrlich warm an diesem Nachmittag, sodass sie sich ihren Badeanzug anzog, ihren Schmöker mitnahm und zum Swimmingpool auf das Oberdeck ging.

Das Deck war recht gut besucht, aber nicht überfüllt.

Erstaunt sah sie den weißen Taststock eines Blinden am Rand liegen. Sein Besitzer, den sie an der schwarzen Sonnenbrille erkannte, zog gleichmäßig seine Bahnen.

Sie ließ sich ins Wasser gleiten und begann zu schwimmen. Sie genoss es, herrlich, das warme Wasser, die angenehme Luft. Schließlich legte sie sich dann auf einen der Liegestühle und holte ihr Buch hervor.

Nach einiger Zeit blickte Silvia hoch und sah, wie sich der Blinde aus dem Wasser zog und nach seinem Stock zu tasten begann – aber in die falsche Richtung unterwegs war. Sie sprang auf, ergriff den langen Stab und reichte ihn dem Mann. „Bitte sehr!“ Er lächelte ihr zu.

„Danke! Da muss ich jetzt eine andere Treppe genommen haben als zuerst beim Einstieg. Dann wird’s schon schwierig. Tobias Pflüger ist mein Name. Ich danke Ihnen!“ Er hielt ihr seine Hand hin.

„Silvia Landwehr. Hab’ ich gerne gemacht!“ Sie ergriff seine Hand und er legte seine andere auf ihre und strich darüber, tastend und fühlend. Irgendwie war ihr die Berührung unangenehm und sie zog die Hand zurück. „Dann bis später!“

„Ja, bis später!“ Er ging mit seinem Stock bis zu einem Liegestuhl, nahm den Bademantel, der darauf lag und ging von Deck.

Schon beeindruckend, wie schnell und selbstsicher er geht, nachdem er seinen Taststock zurückhat.

Als es Zeit für das Abendessen wurde, fanden sich alle wieder im Speisesaal ein. Viel wurde geredet, Erlebnisse und Eindrücke wurden ausgetauscht und Tipps für den nächsten Rombesuch, wann auch immer er stattfände, großzügig vergeben.

Silvia hörte zu und fühlte sich nach dem guten Essen plötzlich sehr müde und träge. Ein wenig Ruhe in der Kabine würde ihr guttun.

Als sie auf dem Weg zu ihrem Deck war, bekam sie mit, wie ein Steward zu einem anderen sagte: „Ich weiß es auch nicht. Vielleicht ist sie in Rom ausgestiegen?“

„Was sollte sie da? Sie konnte weder Englisch noch Italienisch. Rodrigo ist verzweifelt, er glaubt nicht, dass seine Frau getürmt ist und ihn verlassen hat. Heute Morgen haben sie noch gemeinsam gefrühstückt. Sie hatte Zimmerdienst, aber du weißt ja wie das ist, man geht von Zimmer zu Zimmer, je nachdem wie die Leute ihre Kabinen verlassen. Daher wissen wir nicht, wo sie war oder ob sie überhaupt angefangen hatte. Jetzt ist sie einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt! Ich habe ihm geholfen, alles abzusuchen, auch ihre Freundin Natalia hat überall geguckt!“ „Vielleicht klärt sich das noch, vielleicht sind sie auch schon längst wieder zusammen. Beide haben ja ein ordentlich heißblütiges spanisches Temperament, kann ja sein, dass da auch mal ein heftiger Streit stattfindet. Wahrscheinlich wollte sie ihn nur schocken, indem sie sich versteckt, damit er sich Sorgen macht!“

Seltsam, dachte Silvia, das habe ich doch so ähnlich schon mal gehört. Die haben wohl Schwierigkeiten, ihr Personal zusammenzuhalten. Vielleicht ist das auch nicht einfach, so viele Menschen aus vielen verschiedenen Nationen.

Sie erreichte ihre Kabine und setzte sich auf den kleinen Balkon. Von hier aus konnte sie gut sehen, wie sich die Küste der Region Lazio immer weiter entfernte. Der Himmel war aus einem tiefen Blau gespannt. Erste Sterne glitzerten auf und flackerten. Das Meer zeigte leichte, weiße Schaumkrönchen und das Land war als dunkler Strich zu erkennen. In der Ferne leuchteten die Lichter kleiner Siedlungen und Städte.

Bevor ich jetzt schon um neun einschlafe, gehe ich noch auf einen Abendschluck in die Bar.

Sie raffte sich auf und legte sich das neu erworbene, bunte Tuch um die Schultern.

Für das Abendentertainment gab es etliche Gelegenheiten, Silvia hatte Lust, heute Abend den irischen Pub kennenzulernen, das verhieß Gemütlichkeit und gute Musik.

Als sie den Raum betrat, sah sie ihre Erwartungen noch übertroffen: Der Saal lag Richtung Bug des Schiffes und drei Viertel der Wände waren verglast, man sah auf das Meer, jetzt natürlich in die Dunkelheit, hinaus. Die Fensterfront war mit der Form des Bugs leicht oval geschwungen. In der Mitte des großen Raumes war eine ebenfalls ovale Theke, die von allen Seiten Zugang bot, und an der zwanzig Menschen an jeder Seite gut Platz finden konnten. In ihrer Mitte stand ein großes Regal mit Getränken aller Art. Um die Theke verstreut standen kleine Sofas, die bis zu vier Personen Platz boten, dazu gemütliche Sessel und Stühle, die allesamt mit braunem Leder bezogen waren. Dazwischen gab es Tischchen aus dunklem Holz, mit leuchtenden Windlichtern im Tiffany–Stil. Am der Wand entlang, die nicht zur Fensterfront gehörte, boten kleine Nischen, durch holzgetäfelte Wände abgeteilt, bis zu vier Personen auch die Möglichkeit eines Rückzugs. Alles strahlte wirklich die urige Gemütlichkeit eines irischen Pubs aus.

Ein Musiker spielte Klavier, angenehme, unaufdringliche Melodien. Silvia fühlte sich gleich wohl und bestellte sich an der Bar ein Glas Rotwein, einen Montepulciano. Eine Barkeeperin mit deutlich russischem Akzent gab ihr das Gewünschte. Danach wählte sie einen Sessel, der in Fahrtrichtung stand. Ihr bot sich zwischen den Spiegelungen des Raumes mit seinen vielen kleinen Lichtern und Kerzen eine gute Aussicht über den Bug des Schiffes hinweg auf das Meer, das, so dunkel wie es jetzt dalag, kaum vom Himmel zu unterscheiden war. Nur die Sterne fehlten in der Schwärze des nachtblauen Wassers. Silvia nippte an ihrem Wein und genoss die ruhige Atmosphäre, die hier herrschte.

Im nächsten Moment wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sich ein Mann von schräg hinten zu ihr herunterbeugte:

„Entschuldigung, dürfen wir Ihnen diese zwei Sessel entführen?“ Sie blickte auf und sah in das Gesicht des Reiseführers der Blindengruppe, der auf die Sitzgelegenheiten zeigte, die ihren kleinen Tisch umringten.

„Ja, gerne, ich bin schon vollzählig hier.“ Sie lächelte und sah über ihre Schulter. „Da brauchen Sie ja noch einige Stühle.“

Elf Männer mit Sonnenbrillen standen ein wenig verloren um eine Sitzgruppe mit einem Sofa und zwei Sesseln herum. Die beiden Reiseleiter waren bemüht, von den übrigen Tischen freie Stühle herbeizuholen.

„Das geht schon. Danke für die Spende!“ Er lachte und schob den ersten Sessel der Gruppe zu. Es kam Bewegung in die Männer, einige setzten sich, führten andere zum Platz – und schließlich, nach Geschiebe und Gedränge, saßen alle. Die Barkeeperin hatte erkannt, dass dies besondere Passagiere waren und kam, um die Bestellung aufzunehmen. Schnell waren Bier, Wein, Wasser und Whisky bestellt und mit Bordkarten bezahlt. Eine ausgelassene Stimmung machte sich breit, Anekdoten und Geschichtchen wurden erzählt. Silvia bemerkte, dass der Reiseführer immer wieder zu ihr hinübersah. Endlich stand er auf und sprach sie an: „Sie sitzen hier so alleine. Möchten Sie nicht mit zu uns an den Tisch? Wir können noch ein wenig zusammenrücken, dann passt das schon!“ Silvia lächelte ihn an und wandte sich ihm zu: „Das ist sehr freundlich. Aber ich habe gerade meinen Gute–Nacht–Trunk genommen und bin jetzt reif fürs Bett! Morgen wird’s anstrengend, ich werde an der Ätna–Wanderung teilnehmen.“

Der junge Mann strahlte: „Toll! Dann wandern wir zusammen! Ich bin mit vier unserer Schützlinge auch dabei! Ich bin übrigens Sebastian Rother, bitte nennen Sie mich ‚Basti’, wie der Rest der Welt.“ Silvia war nun doch aufgestanden und folgte ihrer neuen Bekanntschaft an den Tisch: „Gerne, Basti, ich bin Silvia. Sie gehen mit den ... äh, den ...“

Oh, Mann, nichts Falsches sagen. Die sind alle ganz leise und hören genau zu. Und du stammelst hier herum, weil es dir peinlich ist, Nicht–Sehende als blind zu bezeichnen?

„... mit den blinden Passagieren auf den Ätna.“ Brüllendes Gelächter war die Folge, als einer der Männer den Satz beendete. Silvia wurde rot.

Macht nichts, sieht ja fast keiner. Blinde Passagiere, alles klar. Nette Umschreibung. Volltreffer.

Sie sah den Mann an, der gesprochen hatte und immer noch breit grinste. Er hatte sie gestern nach dem Stuhl auf dem Sonnendeck gefragt. Wie die anderen Männer trug auch er eine Sonnenbrille. Er war groß, stämmig und hatte einen sehr gepflegten, gestutzten Bart, in dem, wie in seinem kurzgeschnittenen Haar, graue Haare das schwarze melierten. Silvia fand seine Ausstrahlung sehr attraktiv, mit seinem jungenhaften, herzlichen Lachen. Sein kurzärmeliges, gemustertes Hemd passte hervorragend zur dunkelblauen Jeans.

Wie stellt man seine Kleidung zusammen, wenn man blind ist? Fragt man jeden Tag jemanden um Rat? Legt man sich kleine Zettelchen mit Blindenschrift in die Schubladen: ‚Achtung, Hemd hat pinke Streifen, nicht zur grünen Hose anziehen?‘

Sie stellte fest, dass diesbezüglich offenbar keiner der Männer Probleme hatte. Sie waren genauso gekleidet wie andere Herren an Bord auch. Nur dass sie trotz der schummrigen Barbeleuchtung dunkle Brillen trugen.

Die Bedienung kam ein weiteres Mal und fragte nach Getränkewünschen. Silvia bestellte sich noch ein Glas Rotwein. Nachdem Sebastian zwei der Männer gebeten hatte, zu rücken, passte sie noch mit auf das halbrunde Sofa.

„Also Sie gehen mit auf den Ätna?“ Sie blickte den Mann an, der die Bemerkung mit den blinden Passagieren gemacht hatte. Als er nicht reagierte, schlug sie sich innerlich mit der Hand auf die Stirn.

Anstarren kannst du den lange! Und angesprochen fühlt der sich so auch nicht!

Sie wandte sich an Sebastian: „Sie führen Ihre Gruppe auf den Ätna?“

„Nun fragen Sie schon: ‚Warum? Was haben denn die armen Blinden davon, auf einem Berg herumzukraxeln, wenn sie nicht mal die Aussicht genießen können?‘“

Tobias Pflüger, den sie heute Nachmittag am Swimmingpool getroffen hatte, hatte ihr sein Gesicht zugewandt. Er klang zwar aufgebracht, lächelte sie aber an, als sei das sarkastisch gewesen. Sebastian griff ein:

„He, Tobi, mal nicht so aggressiv. Ist doch klar, dass man erst mal Schwierigkeiten hat, das nachzuvollziehen. Für diese Männer ist das im gleichen Sinne ein großartiges Erlebnis wie für Sie. Sie sehen zwar nichts, aber man hört, riecht, nimmt die Höhe und die Welt ganz verändert wahr. Das schafft genauso unvergleichliche Sinneseindrücke wie das Sehen.“

Silvia nickte. Spannende Parallelwelt.

„Sie leiten diese Reise?“

„Wir sind von einem Reiseveranstalter, der Blindenreisen organisiert. Immer vier Blinde und ein sehender Betreuer. Mein Kollege Manfred“, er zeigte auf einen blonden, großen Mann, der ein Guinness vor sich stehen hatte, „und ich machen das seit Jahren im Sommerurlaub. Mein anderer Kollege, Christian, hat sich schon hingelegt.

Ist eine tolle Sache, immer andere Ecken der Welt entdecken. Gerade diese Gruppe kennen wir schon lange. Sie waren früher am gleichen Blindeninternat, an dem Manfred und ich im normalen Berufsalltag als Sozialarbeiter tätig sind. Wir helfen bei allen Alltagsdingen, die so anfallen. Die Jungs haben sich überlegt, jedes Jahr eine gemeinsame Reise zu machen, um in Kontakt zu bleiben. Dieses Jahr ist es so eine außergewöhnliche Tour, weil einige von ihnen damit das ‚Silberne Abitur‘ feiern und die anderen dabei kräftig helfen!“ Er lachte in die Gruppe, alle nickten zufrieden.

„Das Schöne an einer Kreuzfahrt ist“, der bärtige Blinde sprach wieder, „dass das Schlafzimmer immer mitfährt. Man erobert einmal seine Kabine und das Schiff und diese vertraute Umgebung bleibt dann bestehen. Bei einer normalen Rundreise müssten wir uns jede Nacht auf neue Quartiere einstellen. Ist machbar, aber ziemlich stressig. So haben wir unser Bett und unsere Bar für die nächsten elf Nächte gefunden. Und fast jeden Morgen wachen wir an einem neuen, spannenden Ort auf.“

Silvia nickte, besann sich eines Besseren und sagte: „Klar, verstehe ich sehr gut. Und was planen die anderen, die nicht auf den Ätna mitkommen?“

„Die bummeln erst durch Catania und fahren dann zu einem Zitronenhain. Soll zu dieser Jahreszeit fantastisch sein!“ Manfred nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas.

„Ich konnte mich zunächst auch nicht recht entscheiden, aber der Ätna hat dann gewonnen“, Silvia lächelte, „danke für die nette Unterhaltung, bis morgen dann!“

„Bis morgen“, echote die Männergruppe und wandte sich wieder einander zu.

Als sie wieder in ihrer Kabine angekommen war, spürte sie, wie müde sie war. Mittlerweile zeigte die Uhr bereits nach Mitternacht an.

Ein schöner Abend, eine interessante Runde.

Als sie zum Einschlafen das Licht ausschaltete, sah sie ganz kurz das breite Grinsen des bärtigen Blinden vor sich. Trotz der dunklen Brille hatte sie kleine Lachfältchen um die Augenwinkel zum Vorschein kommen sehen. Seine strahlend weißen, gepflegten Zähne hatten ihr entgegengeblitzt, als er sie anlächelte.

Nett war es gewesen. Sehr nett.

Klein und zusammengekrümmt saß die Frau auf dem Hocker. Er fuhr ihren Hals entlang und zog mit einem kräftigen Ruck das Messer aus dem Nacken. Dann ließ er seinen Gefährten das Haargummi lösen, das ihre Haare so streng nach hinten gebändigt hatte. Er strich sie ihr sorgfältig in zwei Strähnen, die er über die Schultern legte. Frauenhaar ... er roch daran, sog den Duft tief in sich ein ... göttlich. Zärtlich strich er über ihren Kopf. Wie weich, wie angenehm sich das anfühlte.

Vorsichtig legte er das aufgeschnittene Haargummi in die kleine Pappschachtel, in der schon der Knopf vom Steward lag.

Er verspürte wieder diese unglaubliche Ruhe und Befriedigung. Wieder hatte er geholfen, ihr, die ihm so nett die Kabine zurechtgemacht hatte. So nett. So nett, dass seine Freunde gesagt hatten, dass ihre Nettigkeit ein Zeichen sein musste.

Seine Freunde sollten stolz auf ihn sein.

Wieder schnitt er den benötigten Bindfaden ab, brachte die Kleidung der Cabin Stewardess in Ordnung, nahm Stück für Stück und legte sie ordentlich zusammen. Zwischen der Hose und der Bluse der kleinen Spanierin schob er das Werk „Roter Drache“.

Wieder ging er in das Badezimmer und genoss die Pflege seines Gefährten. Er reinigte ihn, er lobte ihn. Stolz und dankbar blitzte der Dolch in seiner Hand, glücklich über die guten Taten, die er, von fester Hand geführt, vollbrachte. Wieder ein leichtes Einölen, damit sein Kamerad seine Eleganz und Leichtigkeit nicht verlieren würde. Er berührte ihn vorsichtig mit den Lippen, nur ganz sanft, um die Kühle der Klinge zu spüren, mit dem Zittern seines Atems die Schärfe zu fühlen. Dann schob er ihn in das Lederetui und versteckte ihn in seinem Koffer, in der kleinen Innentasche.

Danach war es Zeit zu warten, bis es so weit war und die kleine, leichte Frau dem Meer anvertraut werden konnte ...

Blinde Passagiere

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