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Tag drei von zwölf

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Um sechs klingelte der Wecker. Draußen war es noch dämmrig. Silvia beschloss wegen der anstehenden Ätna–Wanderung statt des Lauftrainings heute früh lieber schwimmen zu gehen.

Auf dem Sonnendeck war niemand. Im Osten schimmerte ein schmales gelbes Band am Himmel.

Während jeder Bahn, die Silvia zog, wurde das Band breiter. Es änderte seine Farbe in helles Silber, dann in Gold, bis schließlich die Sonne über den Horizont trat. Sie zog sich am Beckenrand hoch und legte sich den Bademantel um.

Im Frühstückssaal wurde sie freundlich von Sebastian und Manfred im Kreise ihrer Gruppe begrüßt.

„Wir haben es gestern versäumt, alle vorzustellen, das war ja blöd von uns. Aber das holen wir jetzt nach!“ Er sah aufmunternd in die Runde. Jeden der sechs blinden Männer am Tisch („Die anderen kommen mal wieder nicht aus den Federn“) stellte er kurz vor und Silvia schüttelte alle ausgestreckten Hände. Sie erfuhr, mit einem ganz leisen Kribbeln im Bauch, dass der bärtige Mann Frank hieß. Frank Hildendörfler. Er lächelte, als sie seine Hand fasste.

Tobias Pflüger kannte sie bereits. Er legte sofort wieder seine linke Hand über ihre rechte und schien sie durch seine dunkle Brille hindurch mit seinem Blick zu durchbohren. Sie zog die Hand schnell zurück, das war ihr unangenehm.

Die anderen Blinden winkten ihr nur kurz über den Tisch zu, als Sebastian sie als „Lüder, unsere Frohnatur“, „der stille Uwe“ und „Klaus und Alex, die Sportskanonen“, vorstellte.

Auf den Ätna würden Manfred und Sebastian als Begleiter mitkommen, nicht Christian, der, so Basti: „im Zitronenhain schnuppern geht.“

Ebenso gehörten Frank, Tobias, Klaus und Alex mit zu der kleinen Expedition. Alex und Klaus fielen Silvia aufgrund ihrer Größe, aber auch durch ihre Muskeln auf: Unter den eng anliegenden T–Shirts waren deutliche Sixpacks zu erkennen.

Silvia warf der Runde noch ein „Bis nachher dann“ zu, dann ging sie zu ihrem Tisch weiter.

Sie setzte sich an ihren schon fast angestammten Platz, an dem auch nur einige Minuten später Frau Menken eintraf, die ihr einen Morgengruß zuwarf, um dann gleich zum Thema zu kommen: „Gehen Sie ooch auf den Vulkan rauf?“ Irene Menkens Augen leuchteten.

„Ja, ich freue mich darauf besonders!“

„Ick ooch. Det wird ein Abenteuer!“

Na, prima, mit Frau Menkens Geschnatter durch den Tag. Aber der Vulkan ist hoch, 3.000 Meter, da ist die Luft ja dünner. Vielleicht verstummt dann ihr Redefluss mal.

„Wir nehmen auch an der Führung teil.“ Frau und Herr von Waldensrieth erschienen mit übervollen Tellern vom Frühstücksbüfett. Offenbar hatten sie die kleine Unterhaltung mitbekommen.

„Schön“, sagte Silvia freundlich, „nebenan am Tisch, dort sitzt die Gruppe der blinden Männer. Einige von ihnen werden auch teilnehmen. Ich finde das bemerkenswert!“

Herr von Waldensrieth zog verächtlich seine Augenbrauen in die Höhe. „Ich bin weniger beeindruckt. Weshalb sollte ein Mensch, der nicht sehen kann, das tun? Er hat nichts davon. Nimmt nur die Zeit und Fürsorge von Sehenden in Anspruch, die ihrerseits dann weit weniger davon haben. Also für mich ist das ein äußerst egoistisches, einseitiges und zweifelhaftes Unterfangen.“ Er biss herzhaft in eine Brötchenhälfte, die mit Lachsscheibchen lückenlos bedeckt war.

„Ich finde es beeindruckend, wenn man sich trotz seiner Behinderung Träume bewahrt und diese dann auch umsetzt und lebt.“ Silvias Stimme klang etwas trotzig.

„Ja, es stellt sich nur die Frage, welchen Preis man anderen zumuten darf! Ich würde das nicht machen, Blinde den Berg hoch– und runterzuzergeln, nur damit sie sagen können, sie wären auch mal oben gewesen.“

„Na, da sind wir wohl unterschiedlicher Meinung. Aber von uns muss das ja keiner tun, sie haben ja ihre eigenen Führer dabei.“ Sie konnte nicht ahnen, wie als wie falsch ihre Annahme sich erweisen würde.

Nach dem Frühstück musste Silvia sich beeilen: Schnell die Wandersachen angezogen, feste, knöchelhohe Schuhe und ab zum Bus, der sie zum Ätna bringen sollte.

Auf der eineinhalbstündigen Busfahrt wurde Silvia fast erschlagen von den Eindrücken. Sie war bisher nie auf Sizilien gewesen und fragte sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte, die Ätna–Wanderung gebucht zu haben.

Die herrliche Stadt Catania zog am Fenster vorüber, schöne alte verwinkelte Gassen, deren Nischen und dunkle Öffnungen Einladungen zum Erkunden aussprachen. Kleine, typische italienische Lädchen mit verlockenden Schaufenstern ... Leider viel zu schnell war der Bus aus den Siedlungen heraus und sie fuhren durch Plantagen aus Zitronenbäumen. Wie muss das duften! Etwas neidisch dachte sie an den anderen Tross mit den Blinden, die einen Zitronenhain besichtigen würden. Dann veränderte sich die Landschaft schlagartig und Silvia wusste, dass sie keinen Fehler gemacht hatte.

Gerade noch war alles blühend, grün und wirkte lebendig, plötzlich war sie in einer anderen Welt. Wie eine Mondlandschaft dehnten sich die graue Lava und die Schlackehänge des Ätnas aus, so weit sie aus dem Bus sehen konnte. Auch die Straße veränderte sich, statt auf dem ruhigen und gewohnten Asphalt fuhr der Bus nun auf erstarrtem Lavagestein deutlich unruhiger und holpriger. Bald kam die Talstation einer Seilbahn in Sicht. Der Bus hielt und alle stiegen aus. Obwohl sie nur eine kleine Gruppe von zwölf Leuten waren, warteten bereits zwei Führer auf sie. Einer von ihnen wandte sich sofort Sebastian, Manfred und ihren vier Begleitern zu.

Der andere „guida del vulcano“ ging auf Silvias Grüppchen, das sich vor dem Bus platziert hatte, zu. Er sprach gut Deutsch, mit der attraktiven italienischen Melodie:

„Na, alle gut angekommen? Ich bin Gianni, dort ist mein Kollege Massimo und wir führen Sie heute in die aufregende Welt des Ätnas. Wir fahren jetzt mit der Seilbahn, das dauert eine Viertelstunde, dann geht es weiter mit Geländewagen. Von der „Torre del Filosofo“ aus wandern wir dann los. Die Wettervorhersage ist sehr gut, aber das muss nichts heißen, hier oben wechselt das Wetter schneller, als das Internet nachkommt. Sie haben alle feste Schuhe an, keine High Heels?“, er grinste Silvia an. „Sie würden kaum glauben, was man hier so jeden Tag sieht.“ Silvia lächelte zurück.

Sie betraten eine Gondel der Seilbahn und Frau Menken setzte sich neben Silvia. Der Bergführer Gianni stieg bei ihnen ein. Das Ehepaar von Waldensrieth nahm lieber die nächste Kabine der Bahn.

„Det is’ wat, oder? Wie aufregend! Ein echter Vulkan! Haben Sie so was schon erlebt?“ Silvia schüttelte den Kopf und verneinte höflich. Die Kabine setzte sich in Bewegung und trug sie über die unwirklichste Landschaft, die sie je gesehen hatten.

„Da, det glaube ick ja nich, ist det gruselig, wa’?“

Silvia sah in die gedeutete Richtung: Wie ein mahnender Zeigefinger ragte aus einem Aschetal ein Trägermast der alten Seilbahn heraus. Wie nach einem apokalyptischen Angriff, die Reste der Zivilisation grüßen die Überlebenden... „Das ist wirklich gruselig, wie ein Mahnmal, dass wir es immer noch mit einem aktiven Vulkan zu tun haben, den man keinen Moment unterschätzen sollte.“ Der „guida del vulcano“ nickte den beiden Frauen zu. „Die alte Seilbahn ist 2002 begraben worden, und wenn dem Ätna morgen die neue nicht mehr gefallen sollte, ist damit dann auch Schluss!“ Er lachte, als er das besorgte Gesicht von Frau Menken sah. „Keine Sorge, wir sind gut vorbereitet. Der Vulkan wird besser überwacht als ein Terrorist in einer Einzelzelle. Wenn es nur die leisesten Hinweise auf einen drohenden Ausbruch gibt, sagen wir sofort alle Touristentouren ab. Nichts ist schlechter fürs Geschäft als eine Bilderstrecke im ‚Corriere della Sera‘ mit verkohlten und in Lava verkapselten Körpern, die mal zur eigenen Bergtruppe gehörten!“

„Na, det is’ ja beruhigend.“ Frau Menken wandte ihren Blick ab.

Als sie die Bergstation erreichten, stand schon ein Unimog bereit, in dem die andere Gruppe bereits Platz genommen hatte. Alle mussten sich anschnallen, dann begann eine wahrlich wilde Fahrt durch unwegsames Gelände. Sie wurden kräftig durchgeschüttelt, wenn Silvia auch den Verdacht hegte, dass der Fahrer dies beabsichtigte, um sie zu beeindrucken.

Dann stoppte das Gefährt scheinbar im Nichts. Auf der anderen Seite des Busses befand sich eine kleine Berghütte, die „Torre del Filosofo“.

Silvia sah sich um: eine atemberaubende Aussicht – um sie herum eine karge Mondlandschaft, in grauem und stellenweise rotem Lavagestein und locker scheinender Asche. Ein festgetretener Pfad führte von der Hütte weg, verzweigte sich vielfach und zeigte zu den vielen Kratern, die größten wie Berggipfel aufragend. Zarte Rauchschleier strömten aus ihnen, wie um anzudeuten, dass es sich eben nicht um gewöhnliche Berge handelte. Auch neben den Wegen, hier und da, stieg Rauch aus Spalten im Boden. Die Luft war deutlich dünner als im Tal und eiskalt. Nur wenige Grade über Null, vermutete Silvia. Sie war froh, trotz der sommerlichen Wärme an Bord genau für diesen Tag ihre Allwetterjacke mitgenommen zu haben. Auch die anderen Teilnehmer der Bergtour zogen die Reißverschlüsse dicker Jacken zu. Kapuzen wurden zurechtgerückt und Mützen aufgezogen.

Gianni sprach kurz mit dem anderen Bergführer, dann wandte er sich ihnen zu: „So, cari amici, da sind wir, am Ausgangspunkt unserer Wanderung. Wir gehen zusammen, die etwas besondere Gruppe bitte mit Massimo voraus, damit wir uns an ihr Tempo anpassen können. Bleiben Sie gerne ab und zu stehen, Sie können auch Fotos machen, genießen Sie die Aussicht, aber vergewissern Sie sich, dass Sie zu jedem Zeitpunkt wieder zu uns aufschließen können! Wenn Sie sich von uns entfernen, ist das sehr gefährlich und ausgesprochen completamente idiota!“

Der Tross setzte sich in Gang.

Die Blinden gingen in Dreiergruppen, zwischen Frank und Tobias ging Manfred, Alex und Klaus hatten sich bei Sebastian eingehakt. Massimo begleitete sie, um sie auf Besonderheiten des Weges hinzuweisen. Gianni gesellte sich zu den Übrigen.

Silvia war erstaunt über das Tempo, das die Gruppe nahm – und über ihre Trittsicherheit: Jeder der Blinden schien sich mit dem weißen Stock und an der Seite seines Führers so sicher zu fühlen, dass sie sehr zügig vorankamen.

Schnell gewannen sie an Höhe. Frau Menken, wie ein klebriges Bonbon an einer Schuhsohle an Silvia hängend, begann bald zu keuchen: „Mensch, die loofen, det ist ja nicht zu glauben. Ick komm’ schon schwer nach, aber so ins Dunkle, det is stark, wa’? Warum tun die det nur?“

„Nicht wegen der Aussicht, da wette ich“, Silvia grinste, „wir werden sie nachher auf dem Schiff mal fragen. Ich saß gestern Abend noch mit einigen von ihnen zusammen, das war ausgesprochen nett!“

„Nicht wegen der Aussicht“, echote Herr von Waldensrieth halblaut seiner Frau zu,„nicht wegen der Aussicht. Ist ja toll, zu viert drei Betreuer, die einem den Bauch pinseln, eine wahre Luxusführung ist das. Und natürlich, wir passen uns denen an, was auch sonst!“

„So, so, das ist ja schön.“ Irene tat, als hätte sie den bissigen Kommentar nicht gehört, „icke war gestern Abend im Theater, det ist ja ooch was, jeden Abend Show ...“

Sie stellte Silvia den vollständigen Plan der Abendveranstaltungen auf dem Schiff vor, inklusive allem, was sie demnächst so vorhaben würde.

Silvia hörte nur mit einem Ohr zu. Sie war viel zu beschäftigt, alle anderen Sinneseindrücke zu verarbeiten. Der Boden bestand aus gräulich–rötlichem Geröll, gelegentlich wehten Schwaden mit schwefligem Geruch durch die frostigklare Luft. Die Landschaft sah fremdartig aus, mit Kegeln und Kratern verschiedenster Größen um sie herum. Ab und zu waren Flecke von Blüten zu sehen, die wie kleine Polster aus dem Boden wuchsen, als hätte das Amt für Tourismus beschlossen, dass hier Farbkleckse hingehören und wahllos bunte Kissen verstreut.

Neben einer kleinen Spalte, aus der dichter weißlicher Rauch drang, hielt die Gruppe an. Der Geruch nach faulen Eiern verstärkte sich. Am Rand des Erdrisses waren Schwefelkristalle wie gelbe Flechten gewachsen. Auf Anleitung des Fremdenführers hin bückten sich die Blinden, um den Boden und die Kristalle zu befühlen, Silvia tat es ihnen aus einer Laune heraus gleich. Die Erde war mit einer dünnen Schicht staubartiger Asche bedeckt, die weich auflag. Am Rand der Spalte, die etwas wärmer war als die Umgebung, strich sie über die erstarrte Lava: Obwohl sie ganz glatt schien, war sie wie fein angeraut, das konnte man tatsächlich nur fühlen, nicht sehen. Die gelben Schwefelkristalle dagegen waren hart und brüchig.

„Das ist erstaunlich, wie unterschiedlich sich das anfühlt. Ich hätte nicht gedacht, dass der Lavaboden so angeraut ist!“

Frank, der neben ihr hockte, wandte sich ihr zu: „Kinder, ich sage ja immer: ‚Was entgeht euch alles, nur weil ihr sehen könnt.‘“

Silvia war diese Reaktion ein bisschen unangenehm, aber an seinem Grinsen merkte sie, dass es nicht schroff oder unhöflich gemeint war. Schnell entgegnete sie:

„Wirklich erstaunlich. Ich werde mich jetzt öfter in unwegsamem Gelände mit drohenden Vulkanausbrüchen im Nacken hinknien und den Boden betasten!“, sie lachte kurz auf und freute sich, als auch er lächelte.

Als der Weg sie um den Hang eines Kegels führte, stoppte die Gruppe wieder. Es war überwältigend: Die klare eisige Luft gab einen großartigen Ausblick frei.

Gianni beschrieb der Touristengruppe die Sicht sehr anschaulich, sodass auch die Blinden eine Vorstellung gewinnen konnten: „Genau auf zwölf Uhr sehen wir in Richtung Nordosten einen grünen Streifen unserer bellissima isola siciliana, die Meerenge von Messina und die Spitze des italienischen Stiefels. Auf ein Uhr ist eine Stadt zu erkennen, das ist Taormina. Auf vier Uhr geht der Blick über das weite Mittelmeer, das ganz ruhig daliegt und von hier aus wie ein dunkelblauer Spiegel wirkt.“ Sebastian fügte hinzu: „Und wieder auf zwei Uhr“, alle, Blinde wie Sehende, drehten den Kopf zurück, „sehen wir alle ... gar nichts. Es ist nicht zu erkennen, aber dort liegt unser nächstes Ziel in Griechenland.“ Alle lachten, bis auf Familie Waldensrieth, die verächtlich durch die Nase schnaubte.

Gianni versorgte die Gruppe beständig mit Details darüber, was man sehen konnte, welche Pflanzen nur zu dieser Zeit hier wuchsen und wie die unterschiedlichen Staub– und Geröllarten hießen. Auch wusste er zu jedem Krater das Jahr seiner Entstehung.

Sie umrundeten einen der Hauptkrater des Ätnas, der wie eingefasst aus einem Schneefeld ragte, das unter ihren Füßen knirschte. Frau Menken konnte sich nicht mehr einkriegen: „Det is’ ja Wahnsinn! Heute Morjen noch in’ne Sonne jelegen, jetzt im Schnee stapfen!“ Auch Silvia machte es viel Freude über den Schnee zu gehen, die klare Aussicht auf das Meer zu genießen, wo der Frühsommer schon eingezogen war. „Ist unglaublich, dieser Unterschied, ein paar tausend Meter hoch und schon ist es wieder Winter.“ Immer wieder sah sie den Wölkchen nach, die ihr Atem hinterließ und scharrte mit den Füßen im Schnee. Viele Fotos wurden von allen Sehenden gemacht; die von Waldensrieths knipsten sich gegenseitig so oft, dass Silvia sich fragte, ob sie zu Hause auch genug von der einzigartigen Landschaft hinter den Personen erkennen konnten. Natürlich half sie ihnen auch aus, als es um ein gemeinsames Bild ging, auf dem der Kegel des Hauptkraters sehr anschaulich aus dem Kopf von Herrn von Waldensrieth herauswuchs. Auch die Blinden hatten einen großen Spaß – sie rutschten auf dem Schnee herum, formten Bälle, riefen sich zu und versuchten sich dann gegenseitig abzuwerfen. Immer wieder ließen sie sich von ihren Begleitern die Umgebung beschreiben.

Schließlich kamen sie zur anderen Seite des Kegels und begannen mit dem Rückweg.

Als sie vom Berg abstiegen und das Schneefeld weit hinter sich gelassen hatten, führte Massimo sie in ein steiles Gebiet voller Asche, durchsetzt mit kieselsteingroßen Lavabröckchen, den Lapilli.

Er machte der Gruppe vor, wie Menschen in der weichen, zentimeterdicken Staubschicht wie auf dem Mond den Berghang hinab springen konnten, halb hüpfend, halb rutschend. Es machte einen Riesenspaß! Silvia hatte nach kurzer Zeit eine Technik entwickelt, die es ihr erlaubte, immer gleich drei, manchmal sogar vier Meter voran zu gleiten. Auch Frau Menken juchzte und legte sich mehrfach in die schwarze Schlacke.

Plötzlich hörten sie einen Schrei, gefolgt von deutlicher Aufregung. Alle drehten sich in diese Richtung um und sahen Manfred mit seinen beiden Begleitern in der Asche liegen. Sie versuchten aufzustehen, was ihnen durch den weichen Untergrund sehr schwer fiel. Der Blindenführer aber stand nicht auf. Silvia eilte, wie der Rest der Gruppe, zu ihm – was nicht einfach war, denn bergauf hatte der Belag fast Treibsandqualität, so schnell zog er sie wieder abwärts. Dazu kam die dünne Luft, sodass das Ganze ihr einiges abforderte, aber sie kämpfte sich hoch. Gianni, Massimo und Sebastian waren bereits bei ihm und zogen das rechte Hosenbein langsam hoch, was von Stöhnen und Schmerzenslauten Manfreds begleitet wurde. Aus einer großen Wunde sickerte dunkelrotes Blut. Schlimmer: eine weiße Spitze ragte deutlich aus der Haut hervor. Ein Knochen. Manfred war über einen in der Asche verborgen liegenden Felsen gestürzt und hatte sich das Bein beim Fallen unglücklich verdreht. Er biss die Zähne zusammen, war ganz bleich: „Scheiße, das tut furchtbar weh. Ich gucke mal besser nicht hin, oder?“

„Nein, lass das. Schau in den Himmel, ist besser für dich!“ Auch Sebastian war ganz bleich geworden.

„Wie können wir helfen?“ Silvia schaute Gianni an.

Der Italiener holte aus seinem kleinen Rucksack ein Verbandsköfferchen hervor. Er schüttelte den Kopf: „Da ist mit unseren Mitteln nicht viel zu machen.“ Er legte eine Kompresse auf die Wunde und wickelte ganz vorsichtig eine Mullbinde darum, um die Wunde vor weiterer Verschmutzung zu schützen. Schon durch diese sachte Berührung verursachte er Manfred große Schmerzen.

„Es gibt einen Hubschrauberlandeplatz an der Bergstation der Seilbahn. Bis zum „Torre del Filosofo“ müssen wir ihn zu zweit tragen, da stehen die Unimogs. Gott sei Dank haben wir ja zwei Führer – einer geht mit und einer bleibt bei der anderen Gruppe.“

„Okay, aber wer kümmert sich dann um unsere Jungs?“ Alle Farbe war aus Manfreds Gesicht gewichen, er sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden.

Frank hatte bisher nur dagestanden: „Ich denke, dass wir das gut schaffen. Wir haben ja immer noch einen intakten Bergführer, der den Weg kennt.“

„Und“, ergänzte Silvia, „genug sehende Augen, um hier alle heil runterzubringen!“ Manfred versuchte sich etwas aufzurichten und übergab sich. „Tut mir so leid, aber es tut so weh!“ Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

Sebastian legte ihm die Hand auf die Schulter: „Glauben wir dir. Wir werden jetzt versuchen, dich hochzunehmen, um dich tragen zu können, das wird ganz sicher schlimm, aber es ist die einzige Möglichkeit.“

Er zog mit Gianni den Verletzten mit einer flüssig wirkenden Bewegung auf ihre verschränkten Hände und legte seine Arme um ihre Schultern. Manfred hatte sich beim Aufrichten so auf die Lippen gebissen, um nicht zu schreien, dass ihm nun auch Blut den Mund hinab lief.

Frau Menken hielt ein Taschentuch parat und goss aus ihrer Flasche etwas Wasser darauf. Sie tupfte das Blut ab: „Junge, det is‘ ja wat, wat de dir da einjehandelt hast.“ Ihr Gesicht war fast so weiß wie das von Manfred. Mitleidig schüttelte sie den Kopf. „Braucht ihr Wasser? Taschentücher? Pflaster? Hab’ allet dabei!“

Die drei nahmen gerne ihre Wasserflasche und Papiertücher für Manfred mit und machten sich auf zu dem Weg oberhalb des Aschefeldes, um so schnell wie möglich zur Bergstation zu kommen.

„So, ich denke, wir teilen uns dann mal neu auf: Frau Menken, helfen Sie mit?“, Silvia ergriff die Initiative. Lange tatenlos herumstehen war einfach nicht ihr Ding.

„Na klaro, bin bereit!“ sie fasste unbeholfen und für die beiden völlig überraschend die Hände von Klaus und Alex, die in ihrer Nähe standen. „Ick bin Irene Menken und führ’ Sie jetzt hinab. Wird schon werden, wa? So“, sie drehte sich auf dem tiefen Untergrund mit den beiden um und ließ sich von ihnen so unterhaken, wie sie es bei Manfred beobachtet hatte, „da jeht’s abwärts. Aber schön langsam, een Schwerverletzter am Tag ist jenug!“

Das ist ein Anblick! Silvia sah der Gruppe nach, die großen durchtrainierten Männer, an den Armen der kleinen stämmigen Frau. Toll, wie sie das macht. Einfach so.

Sie sprach die zwei Blinden an, die neben ihr standen: „Wäre es in Ordnung, wenn ich Ihnen meine Hilfe anbiete?“ Sie hielt beiden ihre Hände hin und wunderte sich nur ganz kurz, dass sie nicht reagierten.

„Gerne“, sagte Tobias, „das ist sehr freundlich, dass Sie uns helfen wollen. Am einfachsten geht es für uns, wenn wir Sie unterhaken dürften, dann haben wir den besten Halt.“

„Natürlich!“, Silvia war erleichtert. Sie trat näher und berührte die Blinden mit ihren Ellbogen. Dann hakten sich Tobias links und Frank rechts ein. Zudem benutzten beide ihren Stock fast im Gleichtakt und so stapften die drei abwärts.

„Können Sie uns sagen, was genau passiert ist? Ich habe nur mitgekriegt, dass Manfred gestolpert ist, er hat uns mitgerissen und dann schrecklich geschrien. Dann die Aufregung, alle waren da und nun wird er, wenn ich es richtig verstanden habe, zu einem Rettungshubschrauber gebracht!“ Franks Stimme klang sehr besorgt.

„Mindestens das Schienbein ist gebrochen, der Knochen ist sogar durch die Haut getreten und hat eine tiefe Wunde gerissen. Sah ganz böse aus, gut, dass Sebastian verhindert hat, dass er es sich ansieht.“

„Furchtbar, gerade so ein aktiver Mann wie Manfred!“ Frank schüttelte den Kopf.

„Sie kennen sich schon lange, das hat er jedenfalls gestern Abend erzählt?“

„Ja, wir spielen zusammen Fußball. Nicht profimäßig, also ich bin nicht so gut darin, aber wir haben viel Spaß und er trainiert richtig und spielt in auch noch in einer Sehenden–Mannschaft.“

„Fußball? Wie? Fußball?“ Silvia blieb einfach stehen, was Tobias und Frank völlig aus dem Tritt brachte.

„Na, Fußball eben. Blindenfußball, fünf gegen fünf. Der Torwart kann sehen, wäre ja sonst blöde. Und Manfred ist eben in unserer Mannschaft der Torwart.“

„Und der Ball, wie finden Sie den Ball?“

„Ist eine Glocke drin. Ist eine Herausforderung, aber gerade das macht irre Spaß! Sie sollten uns mal sehen! Oder mitspielen, ich kann Ihnen eine Augenbinde besorgen!“

Nein, danke! Ich kann schon bei voller Sicht keine Mannschaftssportarten leiden.

„Ich glaube nicht, dass ich das je könnte!“

„Ich auch nicht“, meldete sich Tobias zu Wort, „ist mir zu verrückt.“

Silvia drehte sich um. Hinter ihnen kamen von Waldensrieths mit Massimo, der wild auf sie einredete.

Die haben sich einfach abseits gehalten und auch keine Hilfe angeboten, als sich Manfred verletzte. Seltsame Leute. Massimo gestikulierte wild zu Frau Menken und rief ihr zu, sie solle auf dem Weg, den sie gleich erreichen würde, warten. Dort sammelten sich die drei Grüppchen. Herr von Waldensrieth warf Silvia einen „Siehst–du–das–habe–ich–doch–gleich–gesagt“–Blick zu, den sie mit einem schnippischen Lächeln quittierte.

Massimo machte ihnen Mut: „So, da hätten wir den schwierigsten Teil, den durch das Lapilli–Aschefeld, geschafft. Normalerweise ist das immer einer der Höhepunkte unserer Wanderung, weil man sich in dem weichen Staub wie auf dem Mond fühlen kann. Jetzt geht es auf diesem festgetretenen Pfad weiter, da kommen wir besser voran. Wir brauchen nur noch eine halbe Stunde bis zu den Geländewagen, das schaffen wir doch!“ Er sah aufmunternd in die Runde.

„Klar, und das bei bester Unterhaltung!“ Frank grinste.

Von fern hörten sie das Knattern eines Hubschraubers. Massimo atmete hörbar aus: „Gott sei Dank, der Helikopter kommt. Sah ja furchtbar aus! So was habe ich noch nie erlebt. Schon mal den einen oder anderen Bänderriss, verstauchte Knöchel, aber so einen Bruch, meine Güte.“

Er drängte zum Aufbruch. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Jetzt auf dem befestigten Weg waren sie deutlich schneller.

Als sie die Bergstation nach der Fahrt in den Unimogs erreichten, war der Hubschrauber wieder abgeflogen. Sebastian sprach mit dem Bergführer und wartete auf sie.

Worte der gegenseitigen Anerkennung und Dankesbezeugungen wurden gewechselt, dann stiegen sie in die Gondeln der Seilbahn ein.

An der Talstation stand ihr Bus, der sie zum Schiff zurückbrachte. Kurz vor dem Einsteigen nahm Tobias Pflüger wieder Silvias Hand und strich über sie: „Ich danke für die Hilfe und hoffe, dass ich mich irgendwann revanchieren kann.“

„Kein Problem, das habe ich doch gerne gemacht.“ Silvia war verwirrt. Seltsamer Mann.

„Ich danke auch“, Frank war an sie herangetreten, „aber statt darauf zu warten, dass ich Sie auch mal einen Berg hinunterführen darf, lade ich Sie und Frau Menken heute Abend herzlich zu einem Glas Rotwein in die irische Bar ein!“

„Det is mal‘n Wort, da sagen wa glatt zu, wat, Frau Landwehr?“ Irene war begeistert und Silvia freute sich über die Einladung. Sie sah Frank lächeln und dabei fühlte sie ein angenehmes Kribbeln in ihrer Bauchgegend.

Sie betraten den Bus und genossen, erschöpft und von den Ereignissen mitgenommen, die Fahrt über Sizilien bis zum Hafen von Catania.

Als Silvia duschte, stellte sie fest, dass die grauschwarze Asche des Ätnas ihren Weg durch ihre Kleidung gefunden hatte: Das Wasser versickerte morastig und dunkelgrau im Abfluss. Sie entspannte sich ausgiebig unter der heißen Dusche und fühlte sich hinterher wie ein neuer Mensch.

Als sie zum Abendessen kam, tratschte Frau Menken schon alle Details des Ausfluges an Familie Müller, die Eltern des kleinen Claudius’ weiter: „Und dann, man gloobt es nich, sind wir so gut runtergestiegen, hat man nich gemerkt, dass zweee blind sind. Und nett waren sie. Nicht wahr, Frau Landwehr, einjeladen haben sie uns für heute Abend!“ Sie strahlte Silvia an.

Herr von Waldensrieth schaltete sich ein: „Ich wusste es, habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt? Denken Sie nicht auch, dass der Ätna-Ausflug mehr Freude gemacht hätte, wenn Sie nicht zwischenzeitlich Babysitter hätten spielen müssen?“ Herr von Waldensrieth zerteilte seinen Seehecht in Kräuterkruste und sah Silvia mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Nein, und da bin ich mir auch ganz sicher. Ich habe den Ätna intensiver wahrgenommen, als ich es sonst getan hätte. Und zwei sehr nette Menschen kennengelernt. Da ist es mir egal, ob sie sehen können oder nicht!“ Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg – dieser blasierte Kerl, der sich gar nicht davon beeindrucken ließ: „Na, ich denke jedenfalls, dass wir ohne die Gesellschaft dieser Herren entspannter und besser reisen würden. Schon ständig von Personal umgeben zu sein, das kaum ein vernünftiges Englisch oder gar Deutsch spricht, ist meines Erachtens eine Zumutung – und dann noch die da!“

Er machte eine abfällige Kopfbewegung in Richtung der Blinden.

„Herr von Waldensrieth, ich möchte diese Unterhaltung jetzt beenden! Mir ist das zu unangenehm, in dieser Weise über Menschen zu reden, oder das auch nur mit anhören zu müssen!“ Silvia stand auf und ließ ihren halb vollen Teller stehen. Im Weggehen nahm sie seine Stimme überdeutlich laut wahr: „Typisch, gleich so empfindlich. Man wird doch seine Meinung noch äußern dürfen, oder ist das jetzt auch schon verboten?“ Als Silvia kurz zurückblickte, bemerkte sie, wie er seine Frau ansah, die aber den Kopf beschämt senkte.

Was zieht man an, wenn man von blinden Männern zu einem Drink eingeladen wird? Silvia schüttelte den Kopf. Macht ja eh nichts. Sie entschied sich für eine graue Bluse zu schwarzen Shorts. Dazu drapierte sie den farbenfrohen Schal aus Rom um die Schultern. Sie sah sich prüfend im Spiegel an. Mitte vierzig, da waren schon Fältchen an den Augen und den Mundwinkeln zu sehen ... ein bisschen Lippenstift, ein wenig Mascara, dann fühlte sie sich besser. Wie sah sie für einen blinden Mann aus? Silvia ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie Frank gefallen wollte. Ein paar Tröpfchen Parfum, dann lächelte sie ihrem Spiegelbild zu.

Als sie in die Bar trat, saßen Tobias, Frank, Klaus und Alex schon um einen Sechsertisch herum. Frau Menken stolzierte auf Schuhen herein, deren Absätze so hoch waren, dass Silvia nie gedacht hätte, dass die Menken darauf laufen konnte – dem Gestakse nach glaubte sie das selber auch nicht so recht.

„N‘Abend allerseits!“ Froh, die zwanzig Meter vom Eingang aus unfallfrei geschafft zu haben, ließ sie Irene Menken in das Lederpolster fallen.

„Guten Abend!“, sagte Silvia und nahm Platz. Neben ihr saß Tobias und ihr gegenüber Frank. In die Lücke der Rundcouch trat die kleine Barkeeperin.

„Darf ich Sie ein bisschen verwöhnen und Ihnen Ihre Getränke bringen?“

Wie höflich, dachte Silvia, wie sensibel. Kein Wort davon, dass man sich die eigentlich an der Theke holt. Gefällt mir.

Sie bestellten eine Flasche Rotwein, ihnen wurde der Montepulciano empfohlen, dazu sechs Gläser.

Silvia wandte sich an die Runde: „Gibt es etwas Neues, wie es Manfred geht?“

Betroffen antwortete ihr Klaus: „Sebastian hat mir erzählt, das sieht ganz schlimm aus. Sie haben ihn nach Palermo in die Klinik geflogen. Dort wurde er sofort operiert, ein böser Waden– und Schienbeinbruch. Er muss sechs Wochen in Gips liegen, dann kann man erst über einen Transport nach Deutschland nachdenken.“

„Oh, das tut mir sehr leid! Er war so guter Dinge und schien immer bestens gelaunt!“

Die Barkeeperin erschien und öffnete ihnen die Weinflasche. Sie verteilte die Gläser, schenkte ein und wünschte ihnen einen guten Genuss.

Frau Menken ergriff das Wort: „Ick bin der Meinung, dass wir sechse jetzt genug durchjemacht haben, sodass wir mal auf det steife ‚Sie‘ verzichten können.“ Alle nickten.

„Ick bin die Irene und freue mir, wenn ihr mich auch so nennt!“ Sie hob ihr Glas hoch. Silvia beeilte sich, „Einverstanden! Ich bin Silvia.“ zu sagen und anzustoßen. Schon reagierten die Männer, sagten ihre Vornamen und stießen ebenfalls an. Dann tranken alle einen großen Schluck.

Silvia zögerte einen Augenblick: „Darf ich etwas fragen? Ihr müsst auch nicht antworten, wenn es euch zu unangenehm ist...“

„Nur mal raus mit der Sprache!“, forderte sie Klaus auf.

„Wieso auf den Ätna? Das war ja von der Wanderung her recht anstrengend, und wenn man dann nicht mal die Aussicht genießen kann oder die Gipfel sehen kann, weil man, äh ...“ Sie stockte. Klingt wie ein Vorwurf. Na toll.

„Erstmal wollen wir uns mal abgewöhnen, Scheu zu empfinden, einen blinden Mann einen blinden Mann zu nennen“, Frank fiel ihr ins Wort. „Und dann gibt es für uns genauso viele Gründe wie für euch! War denn für euch die Aussicht der einzige Beweggrund?“

„Nee“, plapperte Irene Menken los, „det allet mal sehen! Die Krater! Die Kegel! Die Löcher im Boden, aus denen Rauch kommt!“

„Stimmt schon, wenn ich drüber nachdenke“, fügte Silvia hinzu, „auch diese besondere Luft mit dem leichten Schwefelgeruch zu riechen, die Asche unter den Füßen zu spüren ...“

„Und zu Hause sagen können: Ich bin da oben gewesen!“ Klaus vervollständigte ihren Satz.

„Natürlich ist das immer für uns und auch unsere Begleiter eine besondere Herausforderung“, Frank sprach jetzt ganz ernst, „wir wissen, dass es keine Kleinigkeit ist, einen Blinden einen Berg hoch und sicher wieder runter zu bringen. Aber dieses Gefühl, da oben zu stehen, zu spüren, ich habe das geschafft, ich lasse mich von meiner Behinderung nicht kleinkriegen, das ist unvergleichlich. Seit ich ein kleiner Junge war, als ich noch sehen konnte und ein Bilderbuch über Vulkane verschlungen hatte, ist es mein großer Traum, einmal einen zu besteigen. Und dieses Ziel habe ich mir heute, dank Sebastian, Manfred und“, er nickte Irene und Silvia zu, „euch beiden erfüllen dürfen.“ Er lachte kurz: „Ich lade euch alle wieder herzlich ein, wenn es um die Verwirklichung meines zweiten großen Traumes geht!“

„Was ist das, du Verrückter?“, fragte Tobias, „Etwa ...?“

Alex fiel ihm ins Wort: „Wasserski? Mit Delfinen schwimmen? Auf die Akropolis?“

„Nee, Alex, du denkst zu sportlich! Ich möchte – und ich werde es auf der letzten Station der Reise auch tun –“, er machte eine dramatische Pause, um die Spannung zu steigern, „auf einem Kamel reiten und mindestens zwei Minuten oben bleiben!“ Alle lachten herzlich.

„Aber wenn wir schon dabei sind, von unseren Lebensträumen zu sprechen, was macht ihr beide so beruflich?“ Klaus blickte erwartungsvoll in die Richtung der beiden Frauen. Silvia fühlte sich unwohl. Immerhin übte sie eine Tätigkeit aus, die viele für viel spannender hielten als sie war.

Aber Irene Menken plapperte gleich begeistert los: „Ick bin in der Küche von der Charité, ist ein riesijet Krankenhaus in Berlin, kennt ihr wahrscheinlich. Und mein Lebenstraum ist diese Reise hier. Fünf Jahre hab’ ich jespart, is’ ja ooch janz nett teuer. Aber hat sich jelohnt, wa’?“ Alle nickten.

Silvia räusperte sich kurz. „Ich bin Kommissarin bei der Berliner Mordkommission. Ich hatte allerdings ein blödes Erlebnis vor zwei Jahren und kann seitdem nicht mehr arbeiten. Diese Reise habe ich mir geschenkt, weil ich es durch eine Therapie geschafft habe, es zu verarbeiten und im nächsten Monat werde ich wieder zurück in den Job gehen.“ Alle schwiegen taktvoll, sie war froh, dass keiner nachfragte. Sie blickte nach unten und hoffte auf einen Themawechsel.

Die Barkeeperin war plötzlich hinter Silvia aufgetaucht und hatte höflich gewartet, bis sie zu Ende gesprochen hatte. Jetzt fragte sie mit ihrem russischen Akzent, ob sie noch etwas bringen dürfte. Alex bestellte eine weitere Flasche Rotwein und Silvia Mineralwasser.

„So, so, eine Kommissarin. Da sollten wir uns besonders gut benehmen, was?“ Klaus grinste sie an.

„Ach, Mordkommission, hast du nicht zugehört?“, Frank wies ihn im Spaß zurecht, „wenn du dich mal beherrschen kannst und zwei Wochen lang niemanden umbringst, interessiert sie sich gar nicht für dich, du kleiner Gauner!“

„Danke, das wäre nett, wenn wir hier ohne Morde auskämen, ich bin schließlich im Urlaub!“

Irene sah sie mit einem Blick zwischen Bewunderung und Verehrung an, der ihr gar nicht recht war.

Silvia sah die Runde an, sie war ein wenig unsicher.

Kann ich die fragen, was sie für Berufe haben? Nachher ist das eine Fettnäpfchenfrage. Was tun Blinde? Arbeiten die überhaupt? Aber Irene war schon dabei: „Und? Wat macht ihr so? Kenn’ mich ja nich aus, so mit Blindenarbeit? Jibt’s da wat extra für euch?“

Freundliches Lachen war die Antwort. Frank ergriff als Erster das Wort: „Ach, Irene, nee, in Wirklichkeit sitzen wir alle in einer dunklen Werkstätte und sortieren Briefmarken nach Größe und Geschmack der Gummierung.“

Irene machte große Augen und wurde rot, während Silvia schon ahnte, dass Frank sie wieder mal auf die Schippe nahm. Er fuhr fort: „Blinde findest du in fast allen Bereichen. Das ist dem Fortschritt der Computer zu verdanken. Es gibt mittlerweile hervorragende PCs mit Tastaturen, die eine Braillezeile haben, wo in Blindenschrift der Text steht, der auf der Seite zu sehen ist. Oder die Programme haben eine Sprachausgabe, die einem vorliest, was angezeigt wird. Wir haben dadurch das uneingeschränkte Vergnügen, uns genauso über Computerprogramme zu ärgern und zu fluchen wie Sehende. Und damit das nicht zu oft passiert, bin ich da. Ich arbeite bei einer Softwarefirma als Fachinformatiker und bearbeite Programme, um sie blindentauglich zu machen.“ Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Rotwein.

„Genau, Frankie schreibt die Programme, die ich ihm als Anwender dann am liebsten um die Ohren hauen möchte!“ Alex grinste ihn an, „ich bin bei der Bank, Fachmann für Bürokommunikation und muss die Dinger zum Laufen bringen, sodass sogar Sehende damit klarkommen!“

„Ick gloob et nicht, det hätte ick mir nie jedacht“, Irene konnte es nicht fassen, „so was Schwierijes macht ihr?“

„Ja“, antwortete Frank, etwas genervt, „weil wir nur nicht sehen können. Wir haben genauso viel Spaß und Frust am PC wie alle anderen Jungs der Welt auch!“

„Faszinierend“, sie wandte sich Tobias zu, „und, biste auch so’n PC–Spezi?“ Er lächelte etwas verkniffen.

„Nein, ich bin Physiotherapeut mit der Zusatzausbildung zum Masseur. Das ist sehr hilfreich, wenn man es gewohnt ist, mit den Händen zu sehen.“

„Det glaub ick sofort!“, Irene war ganz begeistert: „Das ist ja ganz toll!“ Tobias schien sichtlich zufrieden, dass sein Beruf auch als „ganz toll“ empfunden wurde und lehnte sich zurück.

„Und du, Klaus?“, Silvia sprach den Letzten an, der sich noch nicht geäußert hatte: „Was machst du so?“

„Tja“, er zögerte es etwas genussvoll hinaus, „ich habe als Einziger, möchte ich mal behaupten, einen klassischen Blindenberuf. Ich bin Klavierstimmer. Habe als Spezialität ein absolutes Gehör mit auf den Weg bekommen, da hat der Designer wohl gedacht, aufs Gucken kommt es dann nicht mehr so an. Habe immer schon Klavier und Orgel gespielt und dann war der Weg nicht weit, in einen Zweig zu gehen, der chronisch unterbesetzt ist. Nebenbei spiele ich aber noch in einigen Bands und arbeite in einem Tonstudio. Das gibt Extra–Taschengeld, damit kann man so eine Reise gut finanzieren.“

„Spannend. Det is’ ja wat.“ Irene hob ihr Glas und alle schwiegen einen Moment.

U nd ich hatte denen das wirklich alles nicht zugetraut. Hab’ mich nicht mal getraut zu fragen, zu blöd.

Silvia wechselte das Thema: „Und, was habt ihr noch für Ausflüge mitgebucht? Wo geht’s noch so hin?“

Sie verbrachten einen netten Abend, noch eine Flasche Wein wurde geleert und es wurde viel gelacht. Immer wieder ertappte Silvia sich, wie sie zu Frank hinüberschaute.

Sein Bart ist so gepflegt, seine Haare sitzen perfekt, wie bekommt das ein Blinder hin? Er hat so ein nettes Gesicht und die Lachfältchen um seine Augenwinkel zeigen seinen Humor und den Spaß, den er hat. Ich mag ihn wirklich sehr gerne.

Natürlich konnte er das nicht sehen, aber manchmal schien es ihr, als spüre er ihre Blicke und wandte den Kopf in ihre Richtung.

Erst als es zwei Uhr morgens war, löste sich die Runde auf. Man schüttelte sich einander die Hände und wünschte sich eine gute Nacht. Als Silvia die Hand von Tobias Pflüger ergriff, legte er seine linke wieder auf die ihre. Das kannte sie ja schon von ihm, aber jedes Mal kam es ihr so vor, als berühre sie eine kalte Fischflosse.

Frank reichte ihr die Hand und gab ihr einen altmodischen, perfekten Handkuss. Sie lachte auf und verabschiedete sich. Sie alle würden ja einander zum Frühstück wiedersehen. Doch da fiel Frank noch etwas ein: „Übrigens“, wandte er sich an Irene und Silvia, „ich habe ja nicht gelauscht, aber einige Menschen sind mit einer durchdringenden Stimme gesegnet... Wenn euch also die menschenverachtenden Kommentare auf die Nerven gehen, die ihr so allmahlzeitlich aushalten müsst, an unserem Tisch sind noch zwei Plätze frei!“ Frank grinste Silvia an: „Starker Abgang heute. Sogar ich konnte die rote Wutwolke sehen, die du hinter dir hergezogen hast!“

„Das ist ein sehr nettes Angebot, ich setze mich gerne um. Irene?“

„Ja, der von Waldensrieth is’n Dummschwätzer, aber seine Frau is’ eijentlich ganz nett. Kann ick sie wohl mit ihm alleene lassen?“

Klaus lachte: „Na, wenn sie ihn geheiratet hat, wird sie damit das Risiko eingegangen sein, mal mit ihm allein zu sein, oder?“

„Ist ja allet richtig. Ich wechsle ooch die Seite!“ Sie sah Silvia so rebellisch an, als ginge es um einen Militärputsch und nicht nur um einen einfachen Tischwechsel. „Gut, dann sehen wir uns morjen, nee, heute früh!“

„Ich freue mich auf unsere neuen Tischgenossinnen.“ Frank sprach eigentlich mit Tobias, aber er schaute zu Silvia hinüber – oder bildete sie sich das nur ein?

Als sie ihre Kabine betrat, ging sie auf den Balkon. Es war völlig dunkel, nur ganz ferne Lichter ließen die Küste Kalabriens erahnen. Die leuchtenden Punkte spiegelten sich im weichen Samtteppich des Mittelmeeres, durch das das Schiff mit leisem Brummen seinen Weg verfolgte. Silvia schloss die Augen und spürte das Ruckeln und Schaukeln, wie ein Wiegen so zart, deutlicher. Sie ließ den Abend noch einmal Revue passieren. Sie hatte, so wie es ihr nun erschien, fast nur auf Frank geachtet. Hatte er nur mit ihr gesprochen? Auf jeden Fall hatte er nur ihr einen Handkuss gegeben.

Sie ging zu Bett und schaltete das Licht auf dem Nachtschränkchen aus.

Reiß dich zusammen. Du bist keine vierzehn mehr und schwärmst für einen Mann, den du nur vom Vorübergehen kennst. So ein lockerer Urlaubsflirt ist nichts für dich. Für so was bist du wirklich nicht der Typ. Sie drehte sich entschlossen um und fiel fast sofort in den Schlaf.

Konnte schon sein, dass ihr im Traum ein Mann mit einem auffällig gut gepflegten Vollbart und einer sehr angenehmen Stimme begegnete, der ihr einen Handkuss gab ... .

Blinde Passagiere

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