Читать книгу Die Hoffnung aus dem Jenseits - Sabine von der Wellen - Страница 5
Julian
ОглавлениеIch kann einen Moment nicht verstehen, was geschehen ist. Erik klang viel zu aufgeregt, als dass es ein Scherz sein kann.
Er sagte, Carolin liegt im Krankenhaus. Er bat vollkommen aufgelöst darum, dass unsere Eltern schnell kommen sollen, um nach ihr zu sehen, weil niemand ihn zu ihr lässt. Sie glauben ihm offenbar nicht, dass er Carolins Verlobter ist. Völlig verrückt. Und er klang so fertig, als wenn Carolin sterben könnte. Aber das kann nicht sein!
Ich rufe meinen Vater an, weil ich mir denke, er bleibt bei allem besonnener. Mamas hysterischen Art bin ich im Moment nicht gewachsen.
Es dauert, bis Papa abnimmt.
„Papa, es ist was passiert!“, rufe ich aufgebracht. „Erik rief mich eben an. Carolin hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Ihr müsst sofort hinfahren, weil keiner Erik zu ihr lässt … wegen Verwandtschaft oder so.“ In meinem Kopf überschlägt sich alles. Aber ich bringe es nicht über mich, ihnen noch mehr zu sagen. Das schaffe ich nicht, weil mir dann mein Anteil an Schuld zu sehr ins Bewusstsein rückt. Warum habe ich Tim nicht energischer aufgehalten? Ich wusste doch, dass er völlig durchgeknallt ist. Und jetzt?
Erik hatte außerdem gesagt, dass Tim tot ist.
Erst jetzt kommt das ganze Ausmaß dieses Unfalls bei mir an.
TIM IST TOT!
Langsam begreife ich, warum Erik so am Ende ist und so klang, als glaube er, dass Carolin auch stirbt. Es war ein schwerer Unfall mit einem Toten. Dass Carolin überhaupt noch lebt ist wahrscheinlich ein Wunder. Und genauso klang Erik. Als rechne er immer noch mit dem Schlimmsten.
„Oh mein Gott! Wo liegt sie und was ist passiert?“, ruft mein Vater fassungslos.
Ich höre im Hintergrund das Kreischen von Sägen und Hammerschlägen. Er ist in der Arbeit.
„Sie hatte einen Autounfall und liegt in einem Krankenhaus bei Clausthal. Das ist irgendwo im Harz.“
„Was?“
„Ich weiß auch nichts Genaues. Aber es geht ihr angeblich wirklich schlecht. Bitte, könnt ihr da so schnell wie möglich hinfahren?“
Mein Vater scheint selbst wie erstarrt zu sein und zischt dann aufgebracht: „Sicher. Ich muss das eben hier klären, hole deine Mutter und fahre hin. Aber …“ Mein Vater schluchzt plötzlich seltsam auf und seine Stimme klingt zittrig. „Gib mir Eriks Nummer. Ich rufe ihn selbst an.“
„Ich schicke sie dir. Ich kann hier nicht weg, aber wenn ihr mehr wisst, ruft mich bitte an“, sage ich und weiß, mein Vater wird nicht verstehen, warum ich nicht alles stehen und liegen lasse, um mitzufahren. Aber er weiß schließlich auch nicht was läuft.
„Ja. Ja sicher“, stammelt mein Vater und legt auf.
Ich weiß, er ist völlig am Ende. Carolin ist seine Tochter. Sein einziges biologisches Kind. Mich hat er nur mitgeheiratet. Das sagten sie mir und Carolin aber erst vor ein paar Monaten … und auch, dass mein richtiger Vater noch lebt. Niklas dachte immer, mein biologischer Vater wäre tot. Aber er hatte meine Mutter nur schwanger hängengelassen, die Niclas daraufhin auftischte, dass ihr damaliger Lover Markus gestorben sei.
Ich gehe auf die Nummer von Erik und schicke sie an meinen Vater weiter.
Benommen lasse ich mich auf die Treppenstufen im Gang der Uni fallen. Ich wollte nur eine Vorlesung mitnehmen und mir damit einige Stunden Freizeit herausschinden. Aber nun weiß ich, ich muss ins Labor zurück.
Ich erhebe mich schwerfällig und seltsam innerlich gelähmt. Was geschehen ist will immer noch nicht meinen Kopf erreichen und ich bin über dieses hohle Gefühl in mir etwas erschrocken. Wahrscheinlich ist das der Schock.
Langsam gehe ich zum Ausgang und beschließe, zum Haus zu fahren und alle zusammenzutrommeln. Dann werde ich ihnen das Unfassbare mitteilen. Tim ist tot.
Ist damit die Weissagung der alchemistischen Freidenker vom Tisch?
Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr und langsam öffnet sich in mir das erschreckende Gefühl, dass Carolin auch bald tot sein könnte. Fassungslos putze ich mir eine Träne von der Wange und steige in mein Auto.
Warum habe ich Tim nicht aufgehalten? Warum haben SIE Tim nicht aufgehalten?
Ich fahre durch die Stadt und versuche meine Gefühle dazu zu analysieren, die um Tims Tod kreisen. Aber da ist nicht viel. Ich mochte den Typ nie besonders, auch wenn er mein Halbbruder ist. Ich weiß auch nicht viel von ihm. Er war Pianist und wohl ziemlich bekannt, und er war das zweite uneheliche Kind von meinem Vater, und er zog von Wolfsburg hierher, um sich an meine Schwester heranzumachen. Angeblich wegen Kurt Gräbler in ihm.
Das dieser alchemistische Vorfahre mich lenkt, seit ich denken kann, war für mich etwas ganz Natürliches. Ich kannte es nie anders. Und dass er auch in Carolin wütet, erkannte ich schon sehr früh, als sie als Kleinkind Dinge aus dessen Leben träumte.
Meine Eltern schnallten nichts. Ich aber. Ich wusste, was mit uns los war. Bloß mein Aussetzer war falsch. Da hatte mich irgendetwas seltsam fehlgeleitet. Oder es war gar nicht falsch, weil Tims Tod schon in den Arsenalen der Welt geschrieben stand. Vielleicht hätte ich die beiden wirklich da schon töten sollen?
Ich schüttele den Kopf. Nein, es gibt diese bekloppte Weissagung, dass Kurt Gräbler, durch ein Kind von mir und Carolin, und eins von ihr mit Tim, einer Auferstehung entgegenstreben kann. Darum gibt es uns angeblich. Aber … nun ist Tim tot.
Erneut erfasst mich die Fassungslosigkeit darüber. Erik hatte mich am vergangenen Abend angerufen und mir gesagt, dass Carolin verschwunden ist. Ich wusste gleich, dass Tim damit zu tun hat. Er hatte es quasi angekündigt.
Er war mehrmals bei den alchemistischen Freidenkern ausgeflippt und hatte ihnen vorgeworfen, dass sie nichts tun, um Carolin ihre tatsächliche Bestimmung klar zu machen. Selbst mich hatte er dazu bringen wollen, Carolin daran zu erinnern, dass sie zu ihm gehört. Dabei hatte er mir den Unsinn von einer geplanten Entführung von meiner Freundin Michaela und Eriks Schwester Ellen aufgetischt. Ich glaubte ihm das anfangs auch, weil Tim eigentlich nur durch die Alchemisten von meiner Freundin erfahren haben konnte. Aber es stimmte alles nicht. Nicht mal, dass diese Organisation so etwas überhaupt vorhatte. Sie wussten nicht mal, dass es Michaela überhaupt in meinem Leben gibt. Die Entführungsgeschichte hatte Tim sich nur aus den Fingern gesogen.
Ich stehe vor dem Tor des alchemistischen Anwesens und warte. Ich weiß, es schwenkt auf, sobald man mich in meinem alten Polo erkennt. Und tatsächlich öffnen sich einen Augenblick später die schweren Flügeltüren und sie gehen hinter mir wieder zu.
Ich fahre auf den Parkplatz und checke eben, wer da ist. Al Chalids Bentley steht neben einem dicken Mercedes und einem SUV. Mir schießt kurz in den Sinn, dass sie mir nun auch einen dicken Wagen kaufen werden, weil es nur noch mich gibt.
Ich steige aus und weiß, die Kameras verfolgen jeden meiner Schritte. Ich gehe zur Tür und sie öffnet sich. Ich trete in den großen, weißen Vorraum mit den bunten, abstrakten Bildern an den Wänden, steuere direkt auf die Treppe zu und rufe laut: „Wir treffen uns alle im Clubraum. Es ist etwas Schreckliches passiert!“
Ich weiß, dass meine Worte gehört werden und gehe in den angekündigten Raum, in dem Al Chalid an einem Tisch sitzt und seinen Laptop bearbeitet.
Ich erschrecke erst, weil ich mit ihm hier nicht gerechnet hatte. Er hat eigentlich oben im ersten Stock ein Büro, in dem er als Anwalt dieser Vereinigung alles rechtliche Ungemach abzuwenden versucht. Er hatte auch mich vertreten, als ich wegen versuchten Mordes angeklagt war.
„Was ist los?“, zischt er, weil er es gar nicht mag, wenn ich mich hier so aufspiele. Er mag mich sowieso nicht besonders. Ihm war Tim immer wesentlich lieber.
„Tim ist tot“, sage ich nur und lasse mich auf eines der Sofas fallen.
Ich weiß, für diese Vereinigung alchemistische Anhänger ist das der schwärzeste Tag in ihrem Leben.
Al Chalid verliert seine braune Gesichtsfarbe, erhebt sich langsam und knurrt: „Spinn nicht rum.“
„Er hatte einen Autounfall.“ Mir macht es fast ein wenig Freude, ihm das mittteilen zu können. „Er hat erst Carolin entführt, sie bis in den Harz verschleppt und sich dann mit ihr umbringen wollen“, füge ich noch hinzu, obwohl das reine Spekulation ist.
Al Chalid starrt mich nur aus seinen schwarzen Augen an, als die Tür auffliegt und einige der finsteren Alten hereinschlurfen.
Dann folgt der tattergreisige Sicherheitschef, der mich ständig über die Kameras beobachtet. Zumindest weiß er über jeden meiner Schritte Bescheid, egal in welchem Haus von ihnen ich mich aufhalte.
Al Chalid sieht auf die Neuankömmlinge und seine Stimme zittert leicht, als er sagt: „Julian meint, dass Tim einen Unfall hatte und tot ist.“
„Ich meine das nicht nur, ich weiß es. Erik rief mich vor gut einer halben Stunde an und sagte mir das“, murre ich und sehe von meinem Sofa in die fahlen Gesichter, die immer blasser werden.
„Das kann nicht sein!“, höre ich verdatterte Ausrufe und der Sicherheitschef spurtet los, um sich wohl die Bestätigung anderweitig zu holen.
Ich erkläre: „Tim hat Carolin in sein Auto gezerrt, ist mit ihr in den Harz gefahren und hat sich dort mit seinem Auto vor einen Baum gesetzt. Carolin liegt im Krankenhaus. Aber ich weiß nicht, wie es ihr geht.“
Die Tür geht auf und weitere Mitglieder kommen in den Clubraum. Sie werden sofort mit dem Unfassbaren konfrontiert und sind sichtlich geschockt.
Ich beschließe zu gehen. Für mich ist hier alles geklärt. Jetzt liegt es an diesen Spinnern, an mich heranzutreten und mich anzubetteln, damit ich weiter für sie arbeite. Die Weissagung ist vom Tisch und ich bin nun der uneingeschränkte und alleinige King, dem sie die Füße küssen müssen, statt mich im Labor einzusperren, damit ich ihnen etwas zusammenbraue, dass sie ewig leben lässt.
Ich gehe, ohne dass mich jemand aufhält oder Fragen stellt. Offensichtlich wollen alle lieber auf den Bericht des Sicherheitschefs warten, dem sie mehr vertrauen als mir.
Draußen an meinem Auto rauche ich eine Zigarette … und noch eine. Dann rufe ich Papa an. Er hat es eilig und ruft nur: „Julian, wir sind unterwegs. Wir rufen dich an, wenn wir mehr wissen.“
„Okay. Macht das. Bis dann.“
Ich steige unschlüssig in mein Auto und fahre erst mal in die Stadt zurück. Aber so kurz vor Weihnachten ist dort die Hölle los. Darum beschließe ich zu Michaela zu fahren. Ich brauche sie jetzt, um mit dem ganzen konfusen Scheiß in meinem Kopf klarzukommen. Sie kann das. Sie kann mich auf andere Gedanken bringen.
Michaela macht mir im Schlafanzug die Tür auf und ist vollkommen überrascht, dass ich vor ihrer Tür stehe. Sie hat Ferien und wollte bis zum Mittag im Bett bleiben. Das hatte sie mir zumindest am Abend zuvor erklärt, als ich sie vertröstete, dass ich aus dem Labor nicht vor Mitternacht herauskommen werde.
„Julian!“, ruft sie und ihre blauen Augen blitzen auf. Sie wirft ihr langes, blondes Haar zurück, dass noch etwas zerzaust ist. „Ich dachte, du wolltest erst heute Abend kommen.“
Ich ziehe sie in meine Arme.
„Julian, was ist los?“, höre ich sie beunruhigt fragen.
Ohne sie loszulassen, flüstere ich mit zittriger Stimme, weil ich plötzlich das Gefühl habe, dass alles um mich herum zusammenbricht: „Tim hat Carolin entführt und sie hatten einen Unfall.“
Michaela drückt mich von sich weg, starrt betroffen in mein Gesicht und fragt entgeistert: „Ist Carolin was passiert?“
„Tim ist tot und Carolin liegt verletzt in einem Krankenhaus.“
„Oh mein Gott!“ Sie zieht mich ins Haus und schließt schnell die Tür hinter uns, um die vorweihnachtliche Kälte auszusperren. „Das ist ja schrecklich!“
Wenig später sitzen wir in ihrem Zimmer auf dem Bett und ich schaue auf meine Hände, während ich ihr erzähle, dass Erik mich anrief und mir von dem Unfall erzählte.
„Und deine Eltern sind jetzt hingefahren?“, fragt sie mich und ist um einige Nuancen blasser.
Ich nicke nur.
„Oh Mann!“, stammelt sie. „Tim war so alt wie wir. Echt schlimm, dass er tot ist.“
Ich sehe sie an und frage mich, inwieweit sie Tim überhaupt kannte. Und mit dieser Frage baut sich noch eine andere auf. Wer sagt es meinem biologischen Vater, der auch Tims biologischer Vater ist … und unseren anderen Halbgeschwistern?
Plötzlich wird mir übel. Tim ist tot … aber es gibt noch diesen Phillip, dessen Alter ich nicht genau weiß. Tim hatte etwas von nur wenige Jahre jünger als er selbst gesagt, und dass Phillip nicht unser Alchemistenproblem hat. Ich frage mich in diesem Moment, ob sich das irgendwie ändern kann und Phillip zu einem neuen Tim werden könnte. Ich hatte nie verstanden, wie das mit diesem Alchemistenvorfahren in uns passiert ist und wieso er überhaupt in uns ist.
Michaela zieht mich auf das Bett und in ihre Arme. Ihre Umarmung ist tröstlich und ich bin froh, bei ihr sein zu können. Vielleicht sollte ich später diesen Markus anrufen und ihm von Tims Unfall erzählen. Da er sich neunzehn Jahre nicht um Tim gekümmert hat, wird ihn auch jetzt niemand anrufen. Er hat sich auch zwanzig Jahre nicht um mich gekümmert und ich könnte mich somit etwas in sein Leben spielen.
Bisher war mir das nicht wichtig. Aber mich drängt es, diesen Phillip kennenzulernen. Zu wissen, dass es ihn gibt, macht mich seltsam nervös. Ich muss einfach wissen, ob er wirklich nicht mit dem Alchemisten belastet ist und in Tims Fußstapfen treten kann. Denn dann könnte die Weissagung mit ihm weitergehen und die alchemistischen Freidenker könnten doch noch verlangen, dass ich mit Carolin dieses Kind zeuge. Vorausgesetzt, dass Carolin überlebt. Stirbt sie auch, werde ich für diese Vereinigung an alchemistischen Spinnern zum Wichtigsten, was es für sie noch gibt. Und zum einzigen, was ihren Traum vom ewigen Leben noch erfüllen kann. Und dann weht hier ein anderer Wind!