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Phillip

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Ich sitze an meinem Schreibtisch und durchforste erneut im Internet die Seiten über den Tod von Tim Bendikowski. Lange starre ich auf die Bilder von seinem völlig zerstörten Mercedes, um das immer noch Unfassbare für mich begreiflich zu machen. Tim ist tot.

Ich stoße mich, mit einem tiefen Seufzer, vom Schreibtisch ab und lasse den Stuhl über den Holzfußboden rollen. Das mache ich immer, wenn ich mich schlecht von meinem PC loseisen kann. Dass ist dann wie das Durchtrennen einer Verbindung, die mich wieder in das Hier und Jetzt bringt. Aber bisher musste ich das nur wegen meinen Computerspielen.

Als der Stuhl ausgerollt ist, stehe ich auf. Ich muss mich anziehen. Gleich kommt Julian und wir fahren nach Wolfsburg zu Tims Beerdigung.

Es war ein Tag vor Weihnachten, als mein Vater einen Anruf bekam, der ihn in zweierlei Hinsicht völlig aus der Bahn warf. Erstens, weil der Anruf von einem Sohn von ihm war, dem er noch niemals begegnet ist. Und zweitens, weil dieser Sohn meinem Vater erzählte, dass sein anderer Sohn, den er erst vor wenigen Monaten kennengelernt hatte, tot ist. Meine Mutter hörte ihn wohl weinen und lief ins Zimmer, ein beunruhigtes: „Markus, was ist passiert?“, ausrufend.

Das und die gestammelten Worte meines Vaters weckten irgendwie mein Interesse. Aber es war sein folgender Zusammenbruch, der mich magisch ins Wohnzimmer zog.

„Was ist los?“, fragte ich und konnte nicht fassen, meinen Vater weinen zu sehen. Meine Mutter kam zu mir und zog mich in ihre Arme. „Tim ist tot. Er hatte einen Autounfall.“

Tja, was sollte ich dazu sagen?

Tim war erst vor einigen Monaten in unser Leben geschlittert. Ich hatte bis dahin nicht die leiseste Ahnung, dass es außer Tom, Agnes und mir noch mehr Kinder von meinem Vater gibt. Und dann stand plötzlich dieser Tim vor der Tür. Nach neunzehn Jahren wollte er plötzlich seinen Vater kennenlernen.

Ich war damals echt platt. Schließlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass es ihn gibt. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die wohl von Anfang an über die Jugendsünden meines Vaters unterrichtet war. Zumindest blieb sie bei der ganzen Sache echt locker.

Mich haute der Umstand, dass der Typ mein Bruder ist, allerdings aus den Socken.

Und dann kam auch noch dieser andere Halbbruder von uns vor zwei Tagen her.

Auch von dessen Existenz hatte ich bis vor wenigen Monaten noch nicht einmal etwas geahnt. Aber Tim hatte ihn mir gegenüber kurz erwähnt, wollte aber nichts weiter über ihn preisgeben, außer dass er Julian heißt und Papas ältester Sohn ist. Natürlich ging ich davon aus, dass Tim und Julian Geschwister sind, wie Tom, Agnes und ich auch. Aber weit gefehlt. Es war bei den beiden nur mein Vater, der sie verband.

Der war völlig außer sich, als diesmal Julian vor der Tür stand.

Ich wurde sogar Zeuge, wie er diesen völlig fremden Typen in seine Arme schloss und erneut anfing zu heulen.

Ich kam gerade die Treppe hinunter und wollte nur sehen, wer geklingelt hat. Verdattert blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen und bestaunte die unwirkliche Szene, als der Blick von dem jungen Mann auf mich fiel.

Mein Vater ließ ihn los und drehte sich zu mir um. „Phillip, das ist Julian. Dein Halbbruder.“

„Noch einer“, knurrte ich nur, weil ich auf diese Spielchen wirklich keinen Bock hatte. Mein Vater zerstörte mit diesen beiden unehelichen Söhnen gnadenlos mein Weltbild. Alles, was er mir bis dahin jemals gepredigt hatte und mir als Vorbild vorgab, war mit Tim schon ins Wanken geraten. Julians Existenz brachte alles komplett zum Erliegen. Was sollte ich mir als Sechzehnjähriger von einem Vater vordiktieren lassen, der selbst sein Leben niemals im Griff hatte. Und es war schon schwer genug, mich mit Tim zu arrangieren, dem großartigen Pianisten, dessen Werdegang genau im Internet verfolgbar ist. Er war sogar richtig berühmt!

Gegen ihn bin ich nur ein kleines Licht, dass sich durch die zehnte Klasse der Schule mogelt, gerne Partys macht, raucht, säuft und auch mal einen Joint zieht. In mir gibt es kein bisschen musikalisches Talent oder Interesse daran, obwohl mein Vater nie müde wurde, mich zum Erlernen eines Musikinstruments zu nötigen. Einige Zeit zerrte er mich sogar in seine Musikschule.

Aber ich bin ziemlich Lernresistent, was das angeht und brachte meinen Vater mit meinem Desinteresse immer wieder auf die Palme. Doch er musste damit leben, bis Tim auftauchte und zeigte, dass es doch bessere Söhne gibt.

Tim spielte seit seinem neunten Lebensjahr in Orchestern mit und gab sogar Konzerte. Sein Eindringen in mein Leben machte es nicht leichter. Von dem Tag an, als er plötzlich vor unserer Tür stand, änderte sich alles.

Ich war damals nicht zu Hause, als das großartige Vater-Sohn-Zusammentreffen stattfand. Aber als ich nichtsahnend nach Hause kam, rief mich meine Mutter mit einem seltsamen Blick ins Wohnzimmer und erklärte mir: „Phillip, wir haben Besuch. Das ist Tim, dein Halbbruder.“

Ich starrte den jungen Mann an, der sich langsam aus unserem Sofa erhob, in dem außer ihm auch noch Tom und Agnes hockten. Ich sah gleich, dass Tom seinen neuen Halbbruder cool fand und Agnes, unser fünfjähriges Nesthäkchen, diesen langen, schlaksigen, dunkelhaarigen Kerl offensichtlich auch gleich in ihr Kinderherz geschlossen hatte. Sie wich nur widerwillig von seiner Seite und himmelte ihn regelrecht aus ihren blauen Augen an.

Sein Blick heftete sich in dem Moment auf mich und er baute sich zu seiner ganzen Größe vor mir auf, als wolle er mir gleich seine Überlegenheit demonstrieren. „Hallo Phillip“, sagte er nur und hielt mir seine Hand hin.

Ich nahm sie, ohne ein Wort hervorzubringen. Dann musste ich mich auch noch zu ihnen setzen und Tim erzählte meinen Eltern und Geschwistern weiteres von seinem ruhmreichen Leben als Pianist.

Ich glaubte damals, meinen Ohren nicht zu trauen. Da saß doch tatsächlich der leibhaftige Wunschsohn meines Vaters auf unserem Sofa. Ich konnte es nicht fassen.

Mein Vater war auch von Anfang an völlig hingerissen von dem, was Tim von sich gab und mehr als einmal fiel sein Blick auf mich, als könne er nicht fassen, dass ich so anders geraten war.

Und dem folgte dann vor zwei Tagen dieser Julian, ein weiterer Bruder und wohl der Älteste von uns allen. Außerdem scheint er ganz offensichtlich ein Klon meines Vaters zu sein. Zumindest nach den Bildern von ihm aus früheren Jahren, als er bestimmt jedes Frauenherz betörte.

Also, nachdem mein Vater mir mitgeteilt hatte, dass nun ein weiterer Halbbruder sein Stelldichein gab, meisterte ich ziemlich verdattert die Treppe ins Untergeschoss. Julian kam auf mich zu und hielt mir die Hand hin. „Phillip, schön dich kennen zu lernen, auch wenn die Umstände alles andere als schön sind. Tim hat mir von dir erzählt.“

„Aha!“, brachte ich nur hervor und konnte seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, was Tim über mich vom Stapel gelassen hatte. Ich kann mir aber nicht denken, dass es viel Gutes war.

Julian drückte meine Hand und zwinkerte mir zu, als wüsste er genau, wie seltsam das alles für mich sein muss. Das hatte wiederum etwas Verschwörerisches.

Meine Mutter kam aus der Küche und mein Vater erklärte ihr, und man merkte ihm an, wie unangenehm ihm das war: „Das ist Julian, mein Ältester.“

„Noch ein Sohn aus der Versenkung“, meinte Julian lapidar, gab Mama die Hand und schenkte ihr ein Lächeln, das sie sprachlos machte. Es muss sie stark an meinen Vater erinnert haben, als er noch nicht mit Übergewicht, Haarausfall und Falten kämpfte.

Aber mir erging es nicht anders. Schon seinen Spruch fand ich cool und den Sarkasmus, mit dem er ihn hervorbrachte. Außerdem erwähnte er Tims Namen, ohne gleich in eine Tiefentrauer zu fallen oder vor Ehrfurcht zu erstarren. Irgendwie fand ich ihn sofort sympathischer als Tim.

Ich folgte den dreien ins Wohnzimmer, in dem Julian meinem Vater wegen Tim Rede und Antwort stehen musste. Mich an den Türholm lehnend, wartete ich gespannt auf das, was Julian zu berichten hatte. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nur aus den Zeitungen und dem Internet, und dem wenigen, was Julian schon am Telefon gesagt hatte, dass Tim selbst das Auto gefahren hatte. Es war aus einer Kurve geflogen und an einem Baum zerschellt. Es hieß, dass Tim noch an der Unfallstelle gestorben war. Das zumindest waren die einen Fakten und Berichte, die mit Bildern hinterlegt glaubwürdig klangen. Aber es gab auch einige wilde Spekulationen und Storys, die man nicht alle ohne weiteres glauben konnte. Doch zu dem Zeitpunkt, als Julian meinen Vater angerufen hatte, wusste der auch noch nichts genaues und Papa hatte mit Tims Mutter kein vernünftiges Gespräch führen können. Aber wohl verständlich. Wie Papa meiner Mutter erklärt hatte, war Tim das einzige Kind dieser Frau. Ich hörte Papa sogar über Tims Mutter sagen: „Sie war schon immer sehr labil und psychisch grenzwertig. Das wird sie bestimmt völlig durchdrehen lassen.“

Meine Eltern hatten beschlossen, Tom und Agnes nicht mit Tims Tod zu belasten. Dafür kannten sie Tim zu wenig. Er sollte für sie genauso wieder in der Versenkung verschwinden, wie er aus ihr hervorgekrochen war. Nur ich wurde eingeweiht, weil ich Papas Zusammenbruch bei Julians Telefonanruf mitbekommen hatte und mir die nötigen Hintergrundinformationen über den Unfall und Tims Tod aus dem Internet geholt hatte.

Dort stieß ich seltsamerweise auf einen Bericht, in dem stand, dass dieser Unfall in Zusammenhang mit einer Entführung gestanden haben soll. Das war allerdings etwas, was nur einmal irgendwo Erwähnung fand und dann sogar irgendwann wieder aus dem Internet verschwand, als wolle man drüber nichts wissen … oder man sollte davon nichts erfahren. Genauso, wie die Aussage, dass Tim sich auf einer angeblichen Hochzeitsreise befunden hatte. Das war natürlich quatsch. Tim war neunzehn. Da heiratet man nicht. Außerdem hätte er uns darüber informiert. Schließlich war er in den letzten Monaten öfters hier aufgetaucht. Und nach seinem Krankenhausaufenthalt vor einigen Monaten hatte er sich hier sogar einige Tage erholt. Ich habe nie herausgefunden, weswegen er im Krankenhaus gewesen war. Aber ich sah einmal, als Tim aus der Dusche kam und ich versehentlich ins Badezimmer platzte, dass er ziemlich üble blaue Flecken am Körper hatte. Doch weder er noch meine Eltern wollten mir darüber eine Auskunft geben. Aber mein Vater war zu der Zeit wirklich bedrückt und erst Wochen später, als ich ein Gespräch zwischen ihm und Tim belauschte, erfuhr ich, dass Tim seinen Bruder Julian deswegen verklagt hatte. Das war ein seltsames Gespräch. Tim wollte nämlich seine Aussage zurücknehmen.

Mein Vater war wütend deshalb und hatte Tim aufgebracht gefragt, warum er ihn denn überhaupt mit einer Falschaussage belastet hatte. Tim hatte nur gemurrt, dass seine neue Aussage die Falschaussage ist und war gegangen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn hier im Haus sah und ist ungefähr zwei Monate her. Und plötzlich saß genau dieser Bruder bei uns, den Tim fast ins Gefängnis gebracht hatte, und berichtete uns von dem, was er über Tims Unfall wusste. Dabei erklärte er unter anderem: „Tim war mit meiner Schwester Carolin auf dem Weg zu einer Berghütte gewesen, die seinem Onkel gehört.“

Ich war völlig perplex über diese Aussage.

Auch mein Vater war überrascht. „Warum mit deiner Schwester? Und was ist mit ihr? Ist sie verletzt worden?“

„Sie liegt noch im Krankenhaus im künstlichen Koma. Sie hat einige Knochenbrüche und innerliche Verletzungen erlitten und war wohl mit dem Kopf böse angeschlagen. Aber sie hat zumindest überlebt.“

Ich sah Julian an, wie schwer ihn das mit seiner Schwester traf, als mein Vater raunte: „Oh mein Gott, das ist alles so schrecklich!“

Ja, das war es. Auch wenn mein Vater seinen zweitältesten Sohn eigentlich erst vor einigen Monaten kennengelernt hatte, traf ihn dessen Tod und ließ ihn um Jahre altern. Das erschreckte sogar mich.

Aber an diesem Nachmittag lag mir bei Julians Ausführungen auf der Zunge, etwas wegen dem Bericht wegen der Entführung einzuwerfen. Aber ich fand es dann doch nicht angebracht und hielt lieber den Mund, als der erklärte: „Tim wollte wohl mit ihr in der Hütte Weihnachten feiern. Dort war alles dementsprechend hergerichtet worden. Das sagte zumindest die Polizei. Und sein Navigationsgerät hatte das als Ziel gespeichert.“ Er klang niedergeschlagen, als er das sagte. Aber ich hatte auch irgendwie das Gefühl, er gab nicht alles Preis und er wirkte erschreckend nervös, als hätte er ein schlechtes Gewissen oder sogar selbst etwas zu verbergen. Aber ich schob dieses Gefühl auf die Berichte, die ich gelesen hatte. Sie ließen Tims Unfall mysteriös wirken und den Umstand, dass er die Schwester seines Halbbruders bei sich hatte, konnte ich auch nicht in Zusammenhang mit einer Entführung oder Hochzeit verstehen.

Julian blieb an diesem Nachmittag nicht lange. Er musste angeblich noch zur Arbeit.

Mein Vater fragte ihn, was er denn arbeiten würde. Darauf hatte er seltsam widerstrebend geantwortet, dass er Chemie und Biologie studiert und für eine Firma in einem Labor tätig ist. Und es klang bei ihm so, als wäre das etwas, was man besser nicht erwähnt. Dabei fiel sein Blick auf mich, als erwarte er von mir eine Reaktion. Dann gab er meinem Vater seine Handynummer und bat darum, dass er ihn anruft, wenn er nach Wolfsburg zu Tims Beerdigung fahren will. Julian wollte dann mit ihm mitfahren.

Ich beschloss sofort, dass ich auch mitfahre.

Es klingelt an unserer Haustür und ich denke, dass das Julian ist. Ich steige in meine Boots, schließe das Internet mit den Berichten von Tims Tod, damit Tom und Agnes sie nicht zufällig sehen und werfe mir die Jacke über. Als ich die Treppe hinunterlaufe, öffnet Mama gerade die Tür.

Julian begrüßt sie und winkt nur ab, als sie ihn ins Haus bittet. Da sie schon ihren schwarzen Mantel anhat, geht er wohl davon aus, dass wir sofort losstarten wollen. Aus der Küche höre ich Mamas Freundin Silke rumoren. Sie soll wohl bei Tom und Agnes bleiben.

Wenig später sitze ich neben Julian in dem Opel meines Vaters. Meine Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz. Dass sie mitfährt, finde ich wirklich nett von ihr. Diese vielen Söhne meines Vaters hatten, seit Tims auftauchen bei uns, einige Wellen geschlagen. Und nun ist einer von ihnen tot.

Ich fühle in mich hinein und da ist nicht viel Trauer zu finden. Ich kannte Tim auch eigentlich nicht richtig und hatte keinen Bezug zu ihm. Ich war sogar anfangs ziemlich aufgebracht darüber, dass er überhaupt aufgetaucht war. Mein Vater tat immer so rechtschaffend, dass ein unehelicher Sohn nicht ins Bild passte … und zwei schon dreimal nicht. Dazu kam, dass Tim all das verkörperte, was mein Vater an mir vermisst. Er war das Musiktalent, dass ich niemals werde. Er nahm ihn auch ein paar Mal mit zur Musikschule, in der mein Vater arbeitet und schwärmte uns abends beim Abendbrot vor, wie unglaublich Tim Klavier spielen kann. Dabei leuchteten seine Augen auf und man sah ihm an, wie sehr ihn das freute.

Mich natürlich weniger. Ich glaubte an dem Blick meines Vaters zu sehen, wie sehr ich ihn in dieser Hinsicht enttäusche.

Aber Tim verkörperte halt alles, was mein Vater für wünschenswert hält und der Clou war, dass Tim sich mit seinen neunzehn Jahren damit sogar vollständig selbst finanzierte. Es wurde schnell klar, dass Tim nicht wegen Geld meinen Vater aufgesucht hatte. Er verdiente wahrscheinlich mehr als mein Vater mit seinem Lehrergehalt.

Wie sehr mein Vater Tim sofort ins Herz geschlossen hatte, sah man auch daran, dass er ihm seinen Opel überließ, um mich zu einer Schulveranstaltung zu fahren. Auf der Fahrt überraschte Tim mich mit der Aussage, dass er von Wolfsburg nach Osnabrück gezogen sei, weil er ein ganz bestimmtes Mädchen hier treffen wollte.

Ich dachte bis dahin, es ging ihm nur darum, sich in meiner Familie einzuschleimen. Aber dann wäre er nicht in so ein Kaff außerhalb von Osnabrück gezogen. Angeblich wohnt dieses Mädchen dort.

Ich fragte ihn, mir nicht ganz sicher, ob er mir nicht nur irgendeinen Quatsch auftischte: „Woher kennst du das Mädchen? Wo seid ihr euch das erste Mal begegnet?“ Schließlich wohnte Tim in Wolfsburg, bevor er hierherzog.

Der warf mir einen schnellen Blick zu, während er den Opel meines Vaters durch die Stadt lenkte: „Wir sind uns nicht irgendwo begegnet. Ich sah sie in meinen Träumen und wusste, ich muss sie finden.“ Dabei sah er mich so komisch an, als erwarte er etwas von mir.

Ich hatte oft bei ihm das Gefühl, als würde er nur darauf warten, dass ich irgendeine seltsame Regung zeige, die ihm etwas über mich verrät. Und auch bei dieser Traumgeschichte sah er mich an, als wäre es doch das natürlichste der Welt, dass man von jemandem träumt und dann hunderte von Kilometern weit fährt, um denjenigen auch ausfindig zu machen.

Für mich stand ab dem Tag fest, der Typ hat einen Sprung in der Schüssel und ich hielt mich lieber von ihm fern.

Es ist still im Auto. Nicht mal Musik läuft. Mein Blick gleitet zu Julian, der mich aus dem Augenwinkel zu beobachten scheint. Das macht mich nervös und ich schaue schnell weg.

„Was machst du so? Schule?“, fragt er und ich sehe ihn wieder an und nicke. „Ja, zehnte Klasse.“

„Realschule?“

„Hm“, antworte ich nur bejahend.

Er nickt und sieht aus dem Seitenfenster.

Leise frage ich ihn. „Wie alt bist du eigentlich?“

Julian sieht mich an und antwortet genauso: „Zwanzig. Und du? Fünfzehn?“

„Vor drei Wochen bin ich sechzehn geworden.“

„Hm …, sechzehn“, murmelt Julian nachdenklich. Er beugt sich ein Stück zu mir herüber und flüstert, damit meine Eltern das nicht hören: „Da war unser Alter aber fleißig.“

Ich kann nur nicken. Julian sieht diese Patchwork Familienverhältnisse ziemlich locker. Schnell füge ich hinzu: „Tom ist zehn. Und Agnes fünf. Aber ich glaube, die ist vom Postboten.“ Ich zwinkere Julian zu und er grinst wieder.

Tom hat, wie ich … und auch Julian, die dunklen, welligen Haare von Papa. Aber wir haben die dunkelblauen Augen unserer Mutter, während Agnes hellblaue Augen hat und rötlichblondes Haar. Wahrscheinlich kommt das, weil meine Mutter blond ist. Das mit dem Postboten ist nur so ein Spruch, den ich ganz lustig finde. Aber ich würde ihn nie vor meinen Eltern machen. Es reicht schließlich, dass mein Vater schon genug uneheliche Kinder in die Welt gesetzt hat.

Julians Blick gleitet zum Rückspiegel und er wird ernst.

Ich sitze hinter meiner Mutter und kann in das Profil meines Vaters sehen, der fährt. Auch sein Blick wandert immer wieder in den Rückspiegel.

Aha! Julian und Papa scheinen sich zu beobachten. Muss ein komisches Gefühl sein, wenn man sich nach zwanzig Jahren plötzlich zusammen in einem Auto wiederfindet, wo man sich vorher überhaupt nicht kannte. Ich stelle mir das zumindest komisch vor.

Ich sehe Julian an, der erneut aus dem Seitenfenster schaut.

Ich mag ihn. Ganz klar.

An einer Raststätte machen wir eine Pause. „Ich brauche einen Kaffee“, sagt mein Vater und sieht Julian an, der nur den Kopf schüttelt. Mich fragt er erst gar nicht und geht mit meiner Mutter zu dem Restaurant der Raststätte.

Ich bleibe mit Julian zurück und bin froh darüber. Ich ziehe seine Anwesenheit der meiner Eltern vor.

Als sie weg sind, holt Julian eine Zigarettenschachtel hervor und bietet mir eine an. Ich starre ihn einen Augenblick verwundert in seine braunen Augen und nehme mir dann eine.

Er gibt mir Feuer und lehnt sich an das Auto, den Kragen seiner Jacke höherschlagend.

Ich stelle mich neben ihn. Er ist mindestens einen Kopf größer als ich.

„Geht es dir sonst gut?“, fragt Julian mit einem seltsam besorgen Ausdruck in der Stimme.

Ich nicke verunsichert.

Julian sieht mich an. „Wenn es mal anders sein sollte oder du ein Problem hast … oder dir etwas bei dir seltsam vorkommt, ich meine, irgendwas in dir … ich meine …“, er bricht ab und zieht nervös an seiner Zigarette. Dann setzt er erneut an: „Du kannst mich auf alle Fälle immer anrufen. Wann immer und weswegen auch immer. Okay?“

„Ja, danke“, sage ich überrascht.

Julian zückt sein Handy, seine Zigarette cool im Mundwinkel. „Hast du ein Handy?“

„Sicher!“, sage ich und ziehe meins aus meiner Hosentasche. Ich hatte es zum Geburtstag bekommen. Mit einem Blick auf seins, sage ich erfreut: „Du hast ja auch ein Nokia. Meins ist ein 5800 Xpress Musik mit Touch Screen und 3,1 Megapixel Kamera. Was ist deins für eins?“

Julian sieht auf sein Handy, als frage ich ihn da etwas, was er wirklich nicht wissen kann. „Ähm, ein N 95? Das war bei meinem Vertrag mit dabei. Ich weiß nicht genau, was das für eins ist.“

Okay, mir wird klar, dass ihn Handys nicht sonderlich interessieren.

„Tim hatte ein Samsung Jet S8000. Das ist jetzt bestimmt kaputt“, werfe ich bedauernd ein. Dann sehe ich Julian erschrocken an. Das war mir so rausgerutscht. „Sorry!“, murmele ich.

Julian winkt ab. „Der war echt ein Spinner. Aber ich denke, sein Handy hat das wirklich nicht überstanden. Der hat das Auto böse zerlegt. Und wenn doch, dann liegt es bei der Polizei.“

Das Julian so lapidar über Tim spricht, lässt mich aufatmen. Mein unbedachter Ausspruch scheint ihm nichts auszumachen.

„Warum bei der Polizei?“, frage ich ihn und der Bericht aus dem Internet kommt mir in den Sinn.

Julian zieht nur die Schultern hoch, als wäre sein Ausspruch nur so daher gesagt gewesen.

Aus mir platzt hervor: „Im Internet stand etwas von einer Entführung und was wegen einer Hochzeit. Aber er hatte doch deine Schwester im Auto, hast du gesagt.“

Julians Blick, der mich trifft, drückt Überraschung aus. Dann murmelt er leise: „Ja, ich sagte doch, Tim war ein Spinner.“

Ich kann mit seiner Aussage nicht viel anfangen. „Dann war deine Schwester im Auto, aber das mit der Entführung stimmt nicht?“, hake ich nach.

Julian sieht mich unschlüssig an und sieht sich um, ob wir auch wirklich noch allein sind. „Phillip, es gibt Dinge in unserer Familie, die solltest du besser nicht wissen.“

Das sehe ich allerdings anders. „Warum schreiben die sowas? Ich meine, wegen der Entführung? Waren die beiden denn irgendwie … zusammen? Ich meine Tim und deine Schwester.“

„Carolin ist verlobt. Mit dem Typ der Zeiss-Clarkson Sportgeschäfte“, brummt Julian, als würde das alles erklären.

Ich starre ihn mit offenem Mund an. Auch darüber hatte ich mal einen Bericht im Internet gelesen. Der Sohn dieser Sportkette, der ein ziemlicher Frauenheld sein soll und immer wieder Probleme wegen Drogen gehabt hat und deshalb sogar eine Bewährungsstrafe aufgebrummt bekam, hatte sich verlobt. War noch gar nicht so lange her und interessierte mich eigentlich null, wenn man mal davon absah, dass ich kurz vorher meine Bewerbungsunterlagen zu dessen Geschäftsstelle in Osnabrück geschickt hatte. Sie suchen für den kommenden Sommer Lehrlinge und ich hatte mich als Bürokaufmann beworben, statt als Einzelhandelskaufmann. Mein Vater meinte, ich solle Letzteres nehmen. Deshalb nahm ich es nicht. Aber davon erzähle ich Julian nichts.

„Und warum wollte deine Schwester dann mit Tim über Weihnachten wegfahren?“ Das Ganze scheint wirklich interessant zu werden. Hatte Carolin ihren Verlobten betrügen wollen? Mit meinem Bruder? Oh Mann, dann Lehre Ade.

Julian sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. Dann raunt er leise, seine Zigarette auf dem Boden austretend: „Die beiden meinten mal ineinander verliebt gewesen zu sein. Dann hat Carolin sich aber in diesen reichen Schnösel verguckt und damit kam Tim nicht klar. Er hat sie entführt und es kam zu dem Unfall. Jetzt ist er tot und alles vorbei. Hoffe ich zumindest.“ Er sieht mich wieder abschätzend an.

Ich stehe nur da und starre in die braunen Augen meines Bruders, der knurrt: „Das bleibt unter uns. Tim ist tot und keiner will einen Wirbel um die Sache machen. Verstanden?“

Ich nicke schnell. Manoman.

Meine Eltern kommen aus dem Restaurant und Julian raunt mit einem Blick in ihre Richtung: „Also, deine Nummer …“

Ich gebe sie ihm und mein Handy klingelt, als er mich anruft, damit ich seine habe. „Okay, also egal was ist, du kannst mich jederzeit anrufen. Verstanden?“

Ich nicke wieder nur und wir steigen schon mal in das Auto ein.

Mein Vater wirft sich auf den Fahrersitz und meine Mutter erneut auf den Beifahrersitz. Sie dreht sich zu mir um und zischt: „Phillip, hast du wieder geraucht?“

„Sorry, nein, das war ich“, meint Julian sofort und sieht meine Mutter an.

Ihr Blick schwenkt zu ihm und er lächelt sie an. Während ihre Wangen sich rosa färben, dreht sie sich schnell nach vorne.

Ich starre von ihr zu Julian, der mir zuzwinkert. Das will ich auch können … wie immer er das auch macht. Meine Mutter wird zu Wachs unter seinem Blick.

Julian wird in dem Moment zu meinem Vorbild.

Unser Navi bringt uns zum Friedhof. Aber es ist überall kein Parkplatz zu finden und mein Vater kurvt lange herum. Endlich schert er in eine gerade frei gewordene Lücke und wir steigen schnell aus und laufen in einem Pulk von Menschen, die alle wie wir dunkel gekleidet sind, zum Friedhof. Kann es denn sein, dass die alle ausgerechnet heute zu einer Beerdigung müssen? Ich frage mich, wie viele Beerdigungen heute stattfinden?

Nicht nur ich bin erstaunt, sondern auch Julian, dass Tims Beerdigung die Einzige ist und wir uns schon am Tor zum Friedhof durch die Menge kämpfen müssen.

„Hey!“, schnauzt eine junge Frau uns an und mein Vater brummt: „Wir gehören zur Familie.“

Man lässt uns widerwillig durch.

In der Kapelle werden wir in die vorderen Reihen gelassen, wo für Familienangehörige die Plätze reserviert sind.

Mein Vater geht zu einer Frau, die erschreckend aufgelöst wirkt und sich hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt. Er gibt ihr die Hand und redet mit ihr.

Sie sieht mich und Julian an und mein Vater scheint ihr etwas zu erklären. Sie nickt nur und dreht sich weg.

Ich starre auf den Sarg und kann irgendwie nicht fassen, dass Tim darin liegen soll. Das dunkle, hochpolierte Holz ist mit Unmengen von Blumen und Kränzen geschmückt.

Wir schieben uns in eine der Bänke und ich sehe, dass die Kapelle bis auf den letzten Millimeter vollgestopft ist. Es drängen sich dennoch immer mehr Menschen hinein. Sogar durch die Seitentüren schieben sie sich in den riesigen Raum.

Und dann erklingt Klaviermusik und alles verstummt. Ein junger Mann tritt vor und erzählt, was Tim für ein großartiger Künstler war und wie sehr er mit seiner freundlichen und aufrichtigen Art das Ensemble bei der Musicaltour bereichert hatte.

Ich erinnere mich daran, dass Tim die Musicaltour vor meinem Vater erwähnt hatte. Er war in den letzten Monaten dafür unterwegs gewesen.

Auch andere treten vor und erzählen von einem jungen Mann, den ich so nicht kannte. Er war beliebt und ich denke mir, so ein schlechter Kerl kann er nicht gewesen sein. Und zum ersten Mal frage ich mich, was das mit Julians Schwester war und warum er sie entführte und dabei ums Leben kam. Was hatte ihn dazu gebracht? Konnte man sich so sehr verlieben, dass man so weit geht? Ich kann mir das nicht vorstellen.

Als wir hinter dem Sarg her über den Friedhof gehen, bin ich froh, Julian neben mir zu haben. Langsam setzt mir die Sache mit Tim und seine Beerdigung doch zu und die vielen Menschen, die ihm die letzte Ehre erweisen. Ich habe so viele Tränen gesehen, dass sie einen See füllen könnten und die Stimmung drückt mir mittlerweile schrecklich aufs Gemüt. Das ist meine erste Beerdigung in meinem Leben und ich hatte nicht erwartet, dass sie mich so mitnimmt.

Julian bleibt an meiner Seite und legt mir mehrmals seine Hand auf den Rücken, um mich in der Masse weiter zu dirigieren oder nimmt meinen Arm, um mich zu sich zu ziehen, wenn ich drohe von ihm weggeschoben zu werden. Ich stehe mittlerweile ziemlich neben mir, von der ganzen Situation erdrückt. Meine Eltern sehe ich direkt am Sarg neben meiner Oma stehen. Ich wusste nicht, dass sie Tim überhaupt kannte.

Nachdem der Sarg in das Loch versenkt wurde, ziehen alle an ihm vorbei und lassen eine Schüppe Erde auf das Holz rieseln oder werfen eine Blume hinein.

Ich bekomme, als wir uns etwas abseits stellen, die Gelegenheit, meine Oma zu begrüßen. „Oma, dass du extra gekommen bist“, sage ich und lasse mich von ihr auf die Wangen küssen. „Das war Papas zweiter Sohn“, erkläre ich ihr unschlüssig, ob sie das überhaupt weiß.

Sie sieht mich an und lächelt wage. „Ich weiß, Phillip. Tim war einige Male bei mir Zuhause. Er war so ein guter Junge. Es ist so schlimm, was ihm passierte. So schlimm.“

Ich starre sie überrascht an. Sie kannte Tim also. Das wusste ich nicht.

Julian baut sich neben mir auf und sieht sich um, als müsse er mich beschützen.

„Oma, das ist Julian, Papas erster Sohn“, erkläre ich meiner Oma, die Julian verdattert anstarrt. Ihr scheint die Ähnlichkeit schon selbst aufgefallen zu sein.

„Julian“, spreche ich ihn an. „Das ist dann wohl auch deine Oma.“

Julian sieht die alte Frau an. Dabei wirkt er einen Moment, als wolle er lieber weglaufen und reicht ihr dann verunsichert die Hand.

„Julian …“, raunt meine Oma mit großen Augen und ich weiß, den kannte sie noch nicht. „Dass ich dich auch noch kennenlernen darf. Auch wenn das nicht gerade der Anlass ist, den man sich dafür wünscht, bin ich dennoch froh, dass ich das noch erleben darf. So unglaublich froh.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen und ich greife sie schnell unter, weil sie etwas wacklig auf den Beinen wird.

Julian nickt nur und scheint etwas seine Fassung zu verlieren. „Meine Oma. Hm, ich freue mich auch, Sie kennenzulernen. Ich weiß erst seit einigen Monaten, dass mein Vater gar nicht mein Vater ist“, raunt er, als müsse er sich rechtfertigen.

Wir werden weitergeschoben und nehmen die alte Frau in unsere Mitte, um sie vor der Menge etwas abzuschirmen.

Ich sehe Julian irritiert an. Tims Beerdigung scheint ihn nicht halb so herzunehmen, wie das Zusammentreffen mit unserer Oma.

Wir liefern sie in dem Gasthaus ab, in dem es noch Kuchen und belegte Brötchen gibt und sie setzt sich an einen Tisch, völlig von allem erschöpft.

Ich will mich gerade neben sie setzen, als Julian neben mir raunt: „Ich muss hier raus. Tut mir leid.“ Er dreht sich um und geht zur Tür.

„Oma, ich komme gleich wieder“, sage ich schnell und folge ihm.

Ich muss mich durch die hereinströmende Menge kämpfen und sehe Julian im schnellen Schritt die Straße hinunterlaufen. Ich renne hinter ihm her und als ich neben ihm bin, laufe ich an seiner Seite weiter, als wäre das selbstverständlich.

Er sieht mich an, sagt aber nichts.

Wir biegen in eine Straße ein und er greift nach seinen Zigaretten. Er sieht sich noch einmal um und hält mir seine Schachtel hin. Dann nimmt er sich selbst eine und lehnt sich an die Hauswand. „Was für eine verfickte Scheiße!“, knurrt er aufgebracht und ich sehe ihn verunsichert an, als er zischt: „Das hätte alles so nicht laufen müssen. Diese ganze verdammte Scheiße hätte nicht sein müssen.“

Er lässt sich an der Hauswand zu Boden sinken und ich starre ihn beunruhigt an. Langsam hocke ich mich neben ihn und frage verunsichert: „Was hätte nicht sein müssen?“

Julian sieht mich an. „Phillip, bitte verspreche mir, wenn du irgendwie das Gefühl hast, das …“, er stutzt und setzt dann wieder an: „Wenn du dich anders fühlst als sonst immer …“ Und dann erstarrt er und sieht mich lange an. „Du hast doch keine seltsamen Träume oder so? Ich meine … von irgendjemandem oder irgendwas. Oder! Hast du doch nicht?“

Ich schüttele den Kopf und weiß gar nicht, von was er da redet. Er wirkt völlig durcheinander.

„Hör zu, wenn dich seltsame Träume quälen oder du das Gefühl hast, dass du dich veränderst, dann musst du mir das sofort sagen.“

Ich nicke nur und glaube, dass er langsam durchdreht.

„Versprich mir das. Ich will nicht, dass es noch jemanden trifft. Versprich mir das hoch und heilig.“

Ich nicke wieder und Julian zündet seine Zigarette an und hält mir das Feuerzeug hin. Er sieht mich lange an und murmelt: „Lass mich erst sehen was passiert. Dann werde ich dir erklären, was los ist … was in unserer Familie so abgeht. Aber nicht heute! Irgendwann, wenn ich glaube, die Zeit ist reif. Vertrau mir. Und sag mir, wenn du meinst, etwas stimmt nicht in deinem Leben. Dass ist alles, was ich dir jetzt sagen kann und worum ich dich bitte.“

Ich nicke wieder nur und er hebt die Hand und wuselt mir durch die Haare.

„Kleiner Bruder, du bist in Ordnung“, murmelt er und ich habe meine Stimme wieder und antworte ihm: „Du auch.“

Es ist seltsam. Seine Worte erschrecken mich und seine ständigen Forderungen, dass ich ihm sofort Bescheid sagen muss, wenn etwas nicht stimmt, beunruhigen mich. Ich weiß nicht, was er auch nur im Ansatz meinen könnte und dennoch bin ich mir sicher, was auch immer passiert, ich habe jetzt jemanden, der mich vor allem beschützt. Einen großen Bruder.

Wir kehren nicht zum Gasthaus zurück. Mein Vater ruft mich an und fragt, wo wir stecken und Julian nimmt mir mein Handy aus der Hand und sagt ihm, wir würden beim Auto warten, egal wie lange es dauert. Mein Vater teilt ihm daraufhin wohl mit, dass sie auch aufbrechen möchten und wir uns dort treffen.

Julian und ich gehen frierend zu unserem Auto, das ich allein nicht mal wiedergefunden hätte.

„Können wir uns mal treffen? In der Stadt vielleicht?“, frage ich ihn und sehe ihn erwartungsvoll an.

„Ich habe zwar nicht viel Zeit, aber natürlich. Ruf mich einfach an.“

„Okay“, sage ich und sehe meinen Eltern entgegen.

Mein Vater sieht erschreckend blass aus und meine Mutter fährt uns nach Hause. Im Auto ist es still und jeder hängt seinen Gedanken nach.

Ich sehe immer wieder Julian an und frage mich, worüber er nachdenkt. Und dann fällt mir wieder die Geschichte von Tim und Carolin ein und ich versuche mir die Zusammenhänge vorzustellen. Eine unglückliche Liebe die zum Tode führte.

Wenn ich die Lehrstelle bekomme, dann wird ihr Verlobter mein Chef sein. Und sie? Ich möchte sie kennenlernen. Wie sie wohl ist?

Diese ganze Geschichte will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Tim hat sie vielleicht so sehr geliebt, dass er sie entführte und dann durch den Unfall starb, den sie schwer verletzt überlebte. Das klingt alles nach tödlicher Romantik.

Ich versuche mir Carolin vorzustellen. Halt Julian in weiblich.

In meinem Kopf bildet sich die Vorstellung von einem brünetten Mädchen mit einer gertenschlanken Figur und einem ebenmäßigen, wunderschönen Gesicht, aus dem mir dunkelbraune Augen feurig entgegensehen. Wow!

Ich nehme mir vor, im Internet nach Bildern von ihr zu suchen. Sie ist mit einem reichen Jungen aus der Osnabrücker Geschäftswelt verlobt, da muss sich doch etwas finden lassen.

Mein Handy zückend, beginne ich darin das Internet zu durchforsten, während wir über die Autobahn preschen. Julian starrt seit einiger Zeit wieder nur aus dem Seitenfenster und scheint in seiner eigenen Welt versunken zu sein.

Ich finde auf die Schnelle kein Bild von Carolin. Aber es gibt ein Bild von Erik Zeiss-Clarkson nach seiner Verurteilung. Hm, naja, er sieht ganz annehmbar aus. Die Locken sind vielleicht gewöhnungsbedürftig. Und er sieht völlig anders aus als Tim. Er ist blond und wirkt nicht gerade schmächtig. Seine Augenfarbe lässt sich auf dem Bild nicht definieren. Aber sie wirken hell.

Ich werde warten müssen, bis ich Carolin kennenlerne. Dass ich das irgendwann tue, steht wohl fest. Schließlich ist mein Bruder auch ihrer.

Bei uns Zuhause möchte Julian nicht noch mit hineinkommen. Er bedankt sich bei meinen Eltern, dass er mitfahren konnte und geht zu seinem Polo. Ich folge ihm und murmele, als er in sein Auto steigt: „Gar nicht schlecht einen großen Bruder zu haben.“ Irgendwie möchte ich ihn mit meinen Worten aufbauen und auch unsere Zusammengehörigkeit noch mal klarstellen.

Julian grinst, wirft die Autotür zu und fährt los. Ich sehe ihm hinterher.

Tim war anders als Julian. Ihn hatte es hauptsächlich zu meinem Vater gezogen und wir waren nur so etwas wie Anhängsel, die man ertragen musste. Er hatte mich mit seinem dicken Mercedes einmal mitgenommen, den er sich erst vor einigen Monaten zulegte und der jetzt Schrott ist. Da hatte ich zu ihm dasselbe gesagt, wie zu Julian. Aber ich hatte es nicht so gemeint.

Julian hoffe ich bald wiederzusehen.


Die Hoffnung aus dem Jenseits

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