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Die verschwundenen Kinder

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Gleißendes Mondlicht fällt durch ein kleines Dachfenster in das Kinderzimmer, dessen Wände mit einer bunten Rennwagentapete beklebt sind. Die sonst so grellen Farben leuchten nur schwach und geben dem sonst so unruhig wirkenden Bild, ständig durch das Zimmer preschender Rennwagen, ein klein wenig Ruhe.

„Warte …, wo bist du?“, raunt eine Stimme im Schlaf und ein Körper wälzt sich in dem Kiefernbett unter dem Fenster hin und her. „Warte doch!“, stammelt es unter der hellblauen Decke, die zu beben scheint. „Nina! Warte auf mich!“

Gerrit schnellt hoch. Seine Haare kleben ihm schweißnass an der Stirn und sein Schlafanzug hängt ihm feucht am Leib. Starr blickt er in die dämmrige Dunkelheit des vom Mondlicht erhellten Zimmers.

Seine Decke sinkt zu Boden und sofort spürt er die Kälte der Nacht, die durch seinen Schlafanzug dringt. Das reißt ihn vollends in die Wirklichkeit.

„Wieder dieser Traum!“, denkt er und zieht die Decke auf das Bett zurück. Zitternd rollt er sich hinein und schließt die Augen.

Erneut sieht er die Gestalt aus seinem Traum vor sich, das Gesicht umrahmt von üppig blonden Locken und die blauen Augen, die ihm traurig entgegenstarren, wobei kleine Kinderfinger das seidige Fell einer Katze umklammern.

Wie jedes Mal, wenn er diesen Traum hat, fleht sie ihn an: „Bitte, Gerrit, hol mich wieder nach Hause.“

Er hatte das schon oft geträumt und es erscheint ihm mittlerweile so, als wenn seine kleine Schwester Nina ihn dringender ruft. Er weiß, in dieser Nacht wird er nicht mehr schlafen können. Wie immer lässt der Traum die Geschichte um seine Schwester wieder neu in ihm aufleben.

Erneut überrollt ihn die tiefe Traurigkeit und gibt ihm das Gefühl, dass er etwas unternehmen muss. Immer stärker setzt sich in ihm der Glaube fest, dass sie tatsächlich nach ihm ruft und dass das nicht nur ein Traum ist.

Er ist jetzt dreizehn Jahre alt, kein kleiner Junge mehr! Er spürt, dass es an der Zeit ist, die Dinge nicht mehr einfach hinzunehmen. Inzwischen kommt es ihm sogar so vor, als sei er als einziger dem Schicksal der anderen Kinder entronnen und vielleicht genau aus diesem Grunde auch der einzige, der herausfinden kann, was eigentlich mit ihnen geschehen war.

Sein Blick fällt auf seinen Radiowecker, den er zu seinem letzten Geburtstag von seiner Mutter bekommen hatte. Ein Geschenk, dass er aus tiefstem Herzen verabscheut, denn es symbolisiert einen weiteren Schritt seiner Mutter, sich ihm zu entziehen.

Seit Nina vor zwei Jahren spurlos verschwand, scheint es in diesem Haus keine Freude mehr zu geben. Außerdem kommt es Gerrit jeden Tag aufs Neue so vor, als seien seine Eltern mit Nina verschwunden. Er fühlt sich allein und verlassen. Keiner nimmt Notiz von ihm - und dann noch dieser Radiowecker!

„Jetzt kannst du morgens immer allein aufstehen“, hatte Mama zu ihm gesagt und ihn kurz an sich gedrückt. Doch das war nur ein winziger Moment gewesen und sie schien sofort wieder hinter ihrer Wand aus Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu verschwinden. Dafür hielt er diesen Radiowecker in der Hand, der ihr nun noch die wenigen Minuten abnimmt, die sie sich sonst morgens für ihn genommen hatte, um ihn zu wecken.

Es ist kurz nach fünf. Gerrit atmet auf. Nur eine schlaflose Stunde, bis er sowieso aufstehen muss. Eine Stunde wird er überstehen, zumal sein Entschluss schon lange feststeht. Er wartet nur noch auf ein Zeichen und hofft, der Mut wird ihn dann nicht verlassen. Obwohl er weiß, dass er mit seinem Entschluss seinen Eltern vollends das Herz brechen wird, gibt es für ihn kein Zurück mehr. Er kann mit der Ungewissheit und den ständig an ihm nagenden Selbstzweifeln nicht mehr leben. Wenn er recht behält, dann wird es eine Möglichkeit geben, die ihm zeigt, was aus Nina und den anderen Kindern geworden ist. Er braucht nur den Mut, den Zeichen zu folgen und sich der Ungewissheit zu stellen, mag sie ihm auch letztendlich den Tod vor Augen führen.

Am folgenden Sonntag ist der vierte Advent. Gerrit sitzt mit seinen Eltern am Frühstückstisch und zwischen der Butter und den Eiern prangt ein wunderschöner Adventskranz mit vier leuchtenden Kerzen.

Weihnachten steht vor der Tür und Gerrit graust es allein bei dem Gedanken daran.

In diesem Haus ist Weihnachten, Ostern oder der elfte September, Ninas Geburtstag, zu Tagen des Grauens geworden. Das sind die schwarzen Tage, an denen Nina allen besonders fehlt. An diesen Tagen überrollt sie die Erinnerungen an das Mädchen wie ein tonnenschwerer LKW und der Schmerz über ihren Verlust lebt wieder neu auf.

„Reichst du mir mal die Butter rüber?“, fragt sein Vater über den kleinen Tisch hinweg.

Sein braunes Haar ist in den letzten zwei Jahren sehr schnell grau geworden und seine blauen Augen blicken ihre Umwelt nur noch wie durch einen trüben Schleier an. Er hat seit Ninas Verschwinden bestimmt zwanzig Kilo abgenommen.

Gerrit muss oft daran denken, wie stark und gewaltig ihm sein Vater früher immer vorgekommen war. Nun scheint er in sich zusammenzufallen - zu schrumpfen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gestochen hatte.

Gerrit reicht ihm die Butter und nimmt sich noch eine Tasse Kakao. Seine Mutter pellt gerade ihr Ei, um es, wie jeden Sonntagmorgen, auf ihr Toast zu schneiden. Sie trägt ihre blonden Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was das schmale Gesicht noch unterstreicht. Auch sie hat einige Pfunde verloren. Aber sie war schon immer sehr schmal und daher fällt es bei ihr nicht so auf. Ihr Gesicht scheint jedoch für immer alle Farbe verloren zu haben und wirkt so weiß und transparent wie ihr Haar, auf das sie früher immer besonders stolz war und das alle auch an Nina so geliebt hatten.

Aus dem Radio auf der Fensterbank dringt gedämpft Weihnachtsmusik herüber.

Gerrit muss daran denken, wie sie früher selbst Weihnachtslieder sangen. Doch das gibt es schon lange nicht mehr. Nichts gibt es hier mehr als tristen, traurigen Alltag.

Die Weihnachtsmusik verstummt und ein Sprecher kündigt die Neun Uhr Nachrichten an. Gerrit sieht auf seine Armbanduhr und vergleicht die Zeit. Ansonsten scheint keiner am Tisch auch nur Notiz von der Stimme aus dem Radio zu nehmen.

Er trinkt seinen Kakao aus und setzt sich zurück. Dieses Jahr fragen sie nicht mal, was er sich zu Weihnachten wünscht. Aber er wünscht sich auch nichts. Auf jeden Fall nichts, was man kaufen kann. Wie hätte er auch erklären sollen, dass ihm etwas Wärme, einmal in den Arm nehmen, mal wieder ein gemeinsames Fußballspiel ansehen oder einfach nur wieder die Teilnahme seiner Eltern am Leben unterm Tannenbaum am liebsten wäre?

„… seit gestern in Ankum verschwunden“, dringt ein Nachrichtenfetzen aus dem Radio an sein Ohr und er horcht augenblicklich auf. Sein Herzschlag setzt einen Moment aus.

„Er wurde zuletzt auf einem Fahrradweg außerhalb des Ortes gesehen, der in Richtung Tütingen führt. Er trug eine schwarze Jacke mit gelben Streifen und eine blaue Jeans und fuhr ein blaues Mountainbike. Dies ist bereits der achte Fall in den letzten drei Jahren. Sieben Jungen und ein Mädchen werden im Raum Ankum vermisst und die Polizei steht vor einem Rätsel. Wer sachdienliche Hinweise geben kann oder ein blaues Mountainbike gefunden hat, wende sich bitte an die örtliche Polizei oder an jede andere Dienststelle.“

Gerrit erstarrt vollends. Er nimmt schnell die Hände vom Tisch, damit keiner bemerkt, wie sie zu zittern beginnen. Verstohlen schaut er in die Gesichter seiner Eltern, die sich leichenblass einen Blick zuwerfen. Die Welt scheint stehen zu bleiben. Gerrit kommt es so vor, als seien alle Geräusche verstummt. Seiner Mutter treten Tränen in die Augen und er weiß, dass er einem annähernd netten Weihnachten nun endgültig lebe wohl sagen kann.

Er springt auf und verlässt die Küche. Auf der Treppe nimmt er zwei Stufen auf einmal. Er hat das Gefühl, nur noch weg zu wollen. In seinem Zimmer angekommen, knallt er die Tür hinter sich zu. Das ist scheinbar das einzige Geräusch im ganzen Ort.

Er wirft sich auf sein Bett und schlägt mit den Fäusten auf seine Bettdecke ein.

Verdammt, es ist wieder passiert! Wieder ist ein Kind aus dem Ort spurlos verschwunden und er hatte nichts bemerkt. Er war wieder nicht zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Er hatte wieder eine Chance verpasst, endlich zu tun, was getan werden muss.

Gerrit mag gar nicht daran denken, dass es vielleicht diesmal einer seiner Klassenkameraden sein könnte oder der Junge von nebenan.

Er weiß genau, was nun passiert. Bald wird die Polizei wieder jeden Winkel in Ankum auf den Kopf stellen und die Wälder durchkämmen. Die Erwachsenen werden sich auf dem Kirchplatz versammeln, um große Suchaktionen zu starten. Flugzeuge mit Wärmebildkameras werden über den Ort knattern und die Menschen müssen trostlos und erschüttert zusehen, weil wieder nichts gefunden wird. Abermals werden einige Familien ihre Sachen packen und für immer fortziehen. Wieder darf kein Kind mehr allein vor die Tür gehen. Wieder gibt es eine Familie, die bleich und starr zu Hause sitzt und mit ihrem Schicksal hadert. Wieder gibt es ein Kind weniger.

Gerrit seufzt auf. Wenn ihm doch nur jemand glauben würde! Vielleicht wäre dieser Junge dann noch bei seiner Familie. Aber ihm glaubt keiner. Alle halten ihn für verrückt.

Wenn er doch nur beweisen könnte, dass diese verdammte Katze …

Durch das aufgekippte Fenster hört er eine Anzahl von Autos, die sich in der Straße und den nahen Nebenstraßen postieren. Autotüren werden zugeschlagen und Befehle gegeben. Jetzt kommen sie wieder und suchen den Jungen, als würde einer aus dem Ort Kinder zum Frühstück verspeisen.

Es ist schon seltsam, dass es sich auch diesmal wieder um einen Jungen handelt, den sie suchen. Nina war das einzige Mädchen, das verschwunden ist.

„Hoffentlich keiner, den ich kenne“, betet Gerrit im Stillen. Er starrt in stummem Entsetzen auf seine geballten Fäuste. Erneut überkommt ihn das ungute Gefühl, dass er der einzige ist, der dem Verschwinden der Kinder auf die Spur kommen kann. Doch er hat schreckliche Angst. Wenn sie nun alle tot sind, dann wird er es auch sein, sobald er sich auf die Suche nach ihnen macht. Doch was ist schrecklicher? So zu leben wie bisher und zuzusehen, wie immer mehr Kinder sich einfach in Luft auflösen oder endlich etwas zu unternehmen.

Aber er ist doch selbst fast noch ein Kind. Warum sind die Erwachsenen nicht in der Lage, der Sache auf den Grund zu gehen?

Er hatte versucht, ihnen klar zu machen, dass vielleicht diese Katze der Schlüssel zu allem ist. Doch die hatte niemand außer ihm je gesehen und darum glaubte ihm keiner, dass dieses Tier mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnte. Die Erwachsenen halten alle für tot und als er versucht hat, ihnen seine Träume zu schildern, in denen er Nina lebend sieht, brachte man ihn kurzerhand zu einem Psychiater, der ihn „ach so gut“ verstand und alles für die Auswirkung des schrecklichen Traumas hielt, das durch das Verschwinden seiner Schwester heraufbeschworen worden war.

Es klingelt an der Tür und Gerrit erhebt sich schwerfällig von seinem Bett. Er tritt an das kleine Fenster und sieht hinaus.

Einige Polizeiwagen stehen an der Straße. Im Nachbarhaus verschwinden gerade zwei uniformierte Männer durch die Haustür.

Es klingelt erneut und Gerrit verlässt sein Zimmer. Er weiß, dass seine Eltern nicht aufmachen können. Sie werden bestimmt wieder viele Stunden einfach nur dasitzen und zu keiner Reaktion fähig sein.

Er öffnet unten die Haustür und sieht auf zwei verlegen dreinblickende Polizeibeamte. Einer ist der Dorfpolizist Knut, bei dem Gerrit vor zwei Wochen noch die Fahrradprüfung bestanden hatte.

„Hallo Gerrit. Sind deine Eltern auch zu Hause?“

Gerrit nickt nur.

„Wir müssen leider alle Häuser durchsuchen. Könntest du deinen Vater oder deine Mutter holen?“

„Ich glaube nicht“, meint Gerrit nur und öffnet weit die Tür.

Die Polizeibeamten sehen an ihm vorbei direkt in die Küche, wo seine Eltern immer noch wie Wachsfiguren dasitzen.

„Gerrit, es tut uns schrecklich leid! Aber wir müssen alle Häuser durchsuchen“, meint der Polizist und wendet betroffen den Blick ab.

Es ist nicht das erste Haus, in das er an diesem Morgen geht und in dem spürbare Totenstille herrscht. Es ist schrecklich, gerade die Häuser durchsuchen zu müssen, aus dem auch schon ein Kind verschwunden ist. Doch man hatte ihm diese Häuser zugeteilt, weil er die Leute gut kennt. Kein toller Job!

„Wer ist es?“, fragt Gerrit betreten und weiß gar nicht so recht, ob er das überhaupt wissen will.

„Thomas Mehring“, meint der mittelgroße Polizeibeamte hinter dem Dorfpolizisten Knut. Dabei sieht er betroffen auf seine Schuhe. Noch nie hatte er so etwas wie hier erlebt. Schon wieder ist ein Kind verschwunden und schon wieder gibt es nicht die leiseste Spur oder einen Verdacht. Noch nie war die Polizei so machtlos gewesen. Das achte Kind in den letzten drei Jahren, und keines der Verbrechen wurde je aufgeklärt.

Gerrit nickt kurz und sein Magen scheint einem Fußballspieler auszuweichen, der ihn für einen Ball hält.

Thomas Mehring! Der Junge aus seiner Basketballmannschaft, der erst vor drei Wochen neu zu ihnen ins Team gestoßen war. Ein außerordentlich guter Spieler! Gerrit hatte sich am letzten Montag beim Training noch die Flasche Wasser mit ihm geteilt. Und nun …?

„Kommen Sie doch einfach rein und machen Sie ihre Durchsuchung. Meine Eltern werden schon nichts dagegen haben.“

Die beiden Polizeibeamten starren mit unsicherem Blick auf die Gestalten in der Küche und treten ins Haus. Dann teilen sie sich auf und sehen in jeden Raum, vom Dachboden bis zum Keller.

Gerrit geht unterdessen in sein Zimmer zurück und blickt aus tränenverschleierten Augen niedergeschlagen an die Wand. Thomas Mehring! Er war so ein guter Spieler!

Er sieht ihn vor sich, wie er ihm breit grinsend die Flasche gereicht hatte. Sein Trikot sah genauso dreckig und verknittert aus, wie Gerrits und seine Knie waren genauso aufgeschürft gewesen. Er hatte dunkles, wirres Haar, das sich wohl nur triefend Nass bändigen ließ.

„Was gibt es dieses Jahr bei dir zu Weihnachten?“, hatte er Gerrit gefragt.

„Keine Ahnung.“

„Ich wünsche mir eine Katze“, hatte Thomas noch schnell gesagt, bevor der Trainer hereingestürmt kam und die beiden wieder auf das Spielfeld holte.

Eine Katze!

Wieder sieht Gerrit das blasse Gesicht seiner Schwester Nina vor sich. „Ich will wieder nach Hause!“, und er denkt wieder an die Katze auf ihrem Arm.

Gerrit kennt die Katze, die Nina in seinen Träumen umklammert hält. Nie wieder wird er sie vergessen. Sie spukt Tag und Nacht in seinem Kopf herum, unheilbringend und für ihn der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder.

Sie war eine besonders große Katze, mit derart leuchtend grünen Augen, wie Gerrit sie noch nie gesehen hatte. Ihr Fell war wuschelig, grau und mit schwarzen Streifen darin, die wie Ornamente wirkten.

Ja, Gerrit kennt diese Katze und war ihr schon begegnet.

Als er vor zwei Jahren bei einem Klassenkameraden den Nachmittag verbrachte, saß sie plötzlich auf dessen Gartenmauer und sah Gerrit an. Er dachte damals, dass sie Andreas gehört und streichelte sie. Als dieser dann mit einem Eis aus dem Haus kam, war sie schnell verschwunden.

Aber am Abend, als er auf dem Heimweg war, hatte sie mitten auf dem Fahrradweg gesessen.

Gerrit war angehalten und vorsichtig auf sie zugegangen, denn irgendetwas an dem Tier machte ihm Angst. Er war sowieso kein großer Katzenfreund. Sein Traum war immer ein Hund gewesen, so ein Colli wie Lessie oder ein Berner Sennenhund oder Golden Retriever.

„Hallo, Miezekatze! Was machst du denn hier, so weit weg von zu Hause?“

Er hatte ja zu diesem Zeitpunkt noch gedacht, sie gehöre Andreas.

Schnurrend hatte sie sich erhoben und war um seine Beine gestrichen, woraufhin er sie gestreichelt hatte. Sie war sogar schnurrend und nach Streicheleinheiten lechzend auf seinen Schoß geklettert, als er sich hinhockte.

Doch Gerrit hatte an diesem Tag nicht viel Zeit gehabt. Aber als er sein Fahrrad besteigen wollte, begann die Katze fürchterlich zu mauzen und zu jammern.

Er war trotzdem weggefahren, wollte aber am nächsten Tag nach ihr sehen und ihr etwas zum Fressen mitbringen.

Tatsächlich hatte die Katze am folgenden Tag fast an derselben Stelle auf ihn gewartet. Er hatte sie gefüttert und sie sich von ihm ihre Streicheleinheiten geholt.

Das war in etwa der Punkt gewesen, an dem Gerrit zum ersten Mal in seinem Leben dachte, dass auch Katzen unglaublich tolle Tiere sind. Doch dann war sie plötzlich unruhig geworden und von seinem Arm heruntergesprungen. Und sie war losgelaufen und hatte immer wieder geschaut, ob er ihr auch folgte. Und er tat es, weil sie sofort jämmerlich zu mauzen begann, wenn er ihr nicht mehr folgen wollte.

Sie hatte ihn damals zu dem alten Gasthaus in Tütingen gelockt, wo es den Schotterweg gibt, der zu den Tischteichen führt, von denen seine Mutter immer die Forellen kaufte. Dann war sie von der Hauptstraße in eine Nebenstraße eingebogen, die Gerrit damals noch nicht kannte.

Er weiß noch genau, dass ihm vor zwei Jahren das Ganze ziemlich unheimlich vorkam, denn zu dem Zeitpunkt beklagten drei Familien das Verschwinden ihrer Kinder.

Er war der Katze aber dennoch ein Stück gefolgt, bis es ihm zu dumm wurde. Da sie ihn auch nicht mehr an sich herankommen ließ, bis auf ein paar Meter, war er irgendwann stehen geblieben.

Das hatte die Katze erneut mit lautem Gejammer honoriert. Aber Gerrit hatte sein Fahrrad unten auf dem Fahrradweg zurückgelassen und befürchtete, dass es ihm jemand klauen könnte. Daher war er zurückgelaufen, was vielleicht sein Glück war.

Doch am nächsten Tag war er wieder mit einer Tüte voller Leckereien zu der alten Gaststätte geradelt. Dabei hatte er immer wieder Ausschau nach der Katze gehalten und sie tatsächlich auf einem Holzstoß, nicht weit von der Stelle, wo er sie am vorangegangenen Tag stehen gelassen hatte, sitzen gesehen.

Er war zu ihr gegangen und sie hatte sich erneut von ihm streicheln lassen. Doch dann war sie wieder unruhig geworden und wollte auf den Boden gesetzt werden.

Gerrit hatte sich damals gedacht, dass sie ihm vielleicht ein Nest mit kleinen Katzen zeigen wollte, die sie selbst nicht mehr ernähren konnte. Für den Fall hatte er in einer Tüte auf seinem Gepäckträger eine kleine Schüssel und eine Flasche Katzenmilch, die er vor seiner Tour aus dem großen Einkaufsladen gegenüber der Schule geholt hatte.

Als die Katze merkte, dass er ihr folgen wollte, lief sie schnell und zielstrebig dem Wald entgegen, der am Ende der schmalen Straße begann.

Wie leichtgläubig er ihr gefolgt war!

Er kann sich sehr gut vorstellen, dass auch andere Kinder vor ihm das getan hatten … und nach ihm seine Schwester ebenfalls.

Doch die Polizei hatte ihm die Geschichte nicht abgekauft. Dass eine Katze Kinder so weit aus dem Ort lockt, hielten sie für schwachsinnig.

Doch Gerrit ist sich sicher, dass es da einen Zusammenhang gibt. Aber nur er weiß, mit welch einer Beharrlichkeit sie ihn hinter sich hergelockt hatte.

Die Katze war an diesem Tag in die Querstraße eingebogen, die am Waldrand entlangführt. In diesem Wald war er als kleiner Junge mit seinem Vater hin und wieder zum Pilze suchen gegangen und an diesem Tag sollte er der Katze in den Wald folgen.

Der Weg, auf dem sie in den Wald gelaufen war, war sandig und schwer mit dem Fahrrad zu befahren und Gerrit hatte keine große Lust, ihr dort hinein zu folgen. Er war sich nicht sicher, ob er aus dem Wald auch wieder herausfinden würde. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, dass dieses Waldgebiet sehr groß ist. So war er stehengeblieben.

Daraufhin hatte die Katze erneut herzzerreißend gejammert.

„Ich kann dir nicht weiter folgen. Das geht nicht!“, hatte er ihr noch mit einem schlechten Gewissen zugerufen, als könne sie ihn verstehen.

In dem Moment war das Auto seines Nachbarn die Straße hochgefahren und neben ihm angehalten.

„Was machst du denn hier?“, hatte er erbost zu hören gekommen.

Gerrit war es natürlich unangenehm gewesen, dass er von seinem Nachbarn dort draußen erwischt worden war. Er wusste, dass seine Eltern fürchterlich toben würden, wenn sie davon wüssten. Der ganze Ort war damals sowieso schon genug in Aufruhe, weil man immer noch nicht die verschwundenen Kinder gefunden hatte.

„Ich habe mich, glaube ich, verfahren. Ich wollte zu einem Klassenkameraden“, hatte Gerrit seinen Nachbarn angelogen und Stefan war kurzerhand ausgestiegen, hatte Gerrits Fahrrad in den Kofferraum geworfen und Gerrit auf den Beifahrersitz gepflanzt. „Nah, dann ist es ja gut, dass ich hier gerade vorbeigekommen bin.“

Vielleicht war es das wirklich!

Er lieferte Gerrit zu Hause ab, der bedröppelt in sein Zimmer geschlichen war. Er hatte damals wegen der armen Katze ein wirklich schlechtes Gewissen gehabt.

Als Nina mit ein paar Keksen in sein Zimmer kam, erzählte er ihr von dem Tier und er sagte ihr auch, dass die Katze ihm vielleicht ihre Babys zeigen wolle. Und Nina hatte sich genau nachgefragt, wo er alles wegen dem Tier herumgekurvt war. Doch er hatte sich an diesem Abend nichts dabei gedacht.

Am nächsten Tag hatte Gerrit sein Training und konnte nicht nach dem Tier sehen. Doch er tröstete sich damit, dass er am darauffolgenden Tag wieder Zeit hätte.

Als er nach dem Training nach Hause kam, hatte er sich nichtsahnend an seine Hausaufgaben gesetzt und war danach zum Abendessen gegangen, zu dem seine Mutter gutgelaunt gerufen hatte.

Bis zu dem Zeitpunkt war ihre Welt noch in Ordnung. Dass sich das in kürzester Zeit ändern kann und das Schicksal da schon längst seinen Lauf genommen hatte, ohne dass irgendjemand noch etwas daran ändern konnte, erfüllt Gerrit noch jetzt mit einer Fassungslosigkeit, die ihn erkennen lässt, wie unberechenbar das Leben ist.

„Wo steckt Nina heute nur? Sie müsste doch schon längst zu Hause sein“, hatte seine Mutter gesagt und sein Vater war nach draußen gegangen, um sie zu rufen. Aber er fand Nina nicht. Auch nicht, als er die Straßen des Ortes abfuhr.

Seine Mutter hatte sich unterdes die Finger wund telefoniert. Aber keiner wusste, wo Nina steckte.

Gerrit hatte das ganze Haus nach ihr abgesucht und bemerkt, dass die Tüte mit der Katzenmilch nicht mehr an dem Platz lag, an dem er sie am Abend zuvor hingelegt hatte. Da war ihm ein schrecklicher Verdacht gekommen.

Er war damals mit pochendem Herzen und einer schrecklichen Angst um seine Schwester zu seinen Eltern gegangen und hatte ihnen von der Katze erzählt, die er bei Andreas gesehen hatte und die wohl irgendwo ihre Jungen versteckt hielt, die sie ihm zeigen wollte. Er deutete an, dass Nina sie vielleicht suchen gegangen war, weil er ihr von dem Tier erzählt hatte.

Er war daraufhin von seinem Vater ins Auto gezerrt worden und der fuhr mit ihm die Strecke ab. Die ganze Fahrt über hatte Gerrit sich die Beschimpfungen seines Vaters anhören müssen, die immer mehr mit bösen Worten bespickt wurden, je weiter Gerrit seinen Vater in Richtung Wald führte.

„Was, so weit bist du gestern gefahren?“, hatte sein Vater gerade getobt, als sie auf die Straße einbogen, die direkt am Wald vorbeiführte, und sie Ninas Fahrrad an einem Baum gelehnt dort stehen sahen, wo die Katze Gerrit in den Wald zu locken versucht hatte.

Er wird niemals den Blick vergessen, den sein Vater ihm in diesem Augenblick zuwarf.

Sie waren ausgestiegen und hatten Ninas Namen in den Wald gerufen. Gerrits Vater war weit in den Wald hineingelaufen, ohne von Nina etwas zu sehen oder zu hören.

Auch die Feuerwehr und Polizei, die sein Vater zur Verstärkung angefordert hatte, fanden Nina nicht. Auch die Katze blieb verschwunden. Es gab noch nicht einmal verwertbare Spuren, die überhaupt darauf hinwiesen, dass Nina den Wald betreten hatte. Auch die Theorie von der kinderlockenden Katze wurde bald mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und eine neue Theorie schien sich zu erhärten. Demnach hatte ein Autofahrer sie an der Stelle mitgenommen, an der man ihr Fahrrad gefunden hatte. Warum sie allerdings so weit gefahren war, wusste keiner zu sagen. Vielleicht auf der Suche nach einer Phantomkatze, von der ihr Bruder ihr erzählt hatte.

Aber mit wie viel Nachdruck das Tier versucht hatte, Gerrit in den Wald zu locken, das weiß nur er selbst. Niemals wieder wurde er das Gefühl los, dass eigentlich er es hätte sein sollen, der der Katze damals folgen sollte - und nicht seine Schwester Nina.

Er hätte an ihrer Stelle verschwinden sollen, wie all die anderen Jungen.

Eine unglaubliche Welt

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