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Der Katze auf der Spur

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Über dem Ort liegen erneut Trauer und Schrecken. Wieder ist ein Kind verschwunden und wieder findet man keine Spur von ihm. Gerrit hatte die letzten Basketballtrainings ausfallen lassen. Er kann einfach nicht mehr dort hingehen, seit Thomas Mehring verschwunden ist. Er fühlt sich schuldig, weil er selbst noch nicht den Mut gefunden hat, nach der Katze zu suchen, um ihr bis zum Ende zu folgen. Er fürchtet sich davor, was er entdecken wird und was ihm dann bevorsteht.

Doch seine Träume lassen ihn nachts kaum mehr zur Ruhe kommen. Er hat niemanden, mit dem er reden kann und es gibt niemanden, der ihn versteht. Seine Eltern scheinen immer weniger am Leben teilnehmen zu wollen. Tief in seinem Inneren glaubt er, dass sie ihm die Schuld an Ninas Verschwinden geben und dass sein Schicksal sie deswegen auch nicht mehr interessiert.

Weihnachten verlief noch trostloser als im letzten Jahr. Er bekam zwar Schlittschuhe, die er sich eigentlich immer gewünscht hat, doch der See, der den Ort schmückt, war in diesem Winter bisher nicht einmal zugefroren. Das erscheint ihm wie eine Bestrafung.

Sylvester vergeht wie jeder andere Tag. Es gibt kaum jemanden im Ort, der diesen Tag feiern, geschweige denn um Mitternacht den nächtlichen Himmel mit lauten Raketen und bunter Lichterpracht erhellen will.

Ankum scheint in einem trostlosen und verängstigten Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Kein Kind darf mehr allein auf die Straße gehen und viele werden nach den Ferien sogar täglich in die Schule gebracht und wieder abgeholt.

Gerrits Eltern gehen nach wie vor ihrer Arbeit nach und allmählich ist er froh, dass sie erst spät abends nach Hause kommen. Denn nichts ist ihm unangenehmer, als sie so traurig und weltentrückt zu sehen. Das erhöht nur seine Schuldgefühle.

Seine Mutter sitzt abends wieder stundenlang auf Ninas Bett, den Blick starr ins nirgendwo gerichtet. Sein Vater verkriecht sich im Keller und baut angeblich an einem Modelschiff, das nie fertig zu werden scheint. Sie sind zu Marionetten geworden, wie so viele andere Eltern in Ankum auch.

Aber so achtet auch niemand darauf, dass er an den Nachmittagen immer öfter sein Fahrrad schnappt und durch die Gegend fährt. Die, die ihn sehen und das für Unverstand halten, sagen nichts. Es scheint fast so, als wären manche froh, dass er es ist, der als Köder allein durch die Gegend fährt und somit die eigenen Kinder verschont bleiben.

Ja, als Köder! Gerrit sieht sich mittlerweile auch schon so.

Er hat Angst! Doch etwas in ihm treibt ihn voran. Er will die Katze finden, sich vergewissern, dass es sie immer noch gibt und sie daher immer noch der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder sein kann. Und was, wenn er sie findet? Er weiß es nicht.

So wird es Frühjahr. Die Sonderkommission der Polizei arbeitete bisher erfolglos an der Aufklärung der Fälle. Immer und immer wieder wurden Befragungen durchgeführt, die nichts erbrachten. Auch Thomas Mehring bleibt verschwunden.

Im April, als die ersten warmen Sonnenstrahlen das Land zum Leuchten bringen, fährt Gerrit auf seinem Fahrrad zu seiner Tante Angelika. Sie wohnt in der Lerchenstraße, gleich neben dem Imbiss. Seine Mutter hatte ihm ein paar Tischdecken mitgegeben, die er seiner Tante bringen soll.

Als er an ihrer Tür klingelt, reißt sie diese in großer Erwartung auf und nimmt ihm freudig strahlend die Decken ab.

„Ach Gerrit, das ist aber nett, dass du die vorbeibringst. Ich hatte das ein klein wenig gehofft.“

Breit grinsend zieht sie ihn ins Haus, wobei ihr langes, wallendes Gewand um sie herum zu schweben scheint.

Tante Angelika trägt, seit sie in Japan Urlaub machte, nur noch seltsame Gewänder in grell bunten Farben. Sie wirkt darin immer wie ein Papagei. Dazu steckt sie ihr Haar zu einem Knoten auf, der kein Härchen entwischen lässt und aus dem immer irgendwelche seltsamen Stäbe in bunten Farben staken. Ihre schwarz gefärbten Haare glänzen stets ölig und ein seltsamer Geruch von Orangen und Vanille umgibt sie.

„Kannst du mit mir zu den Fischteichen fahren, bei denen deine Mama immer die geräucherten Forellen kauft? Ich bekomme heute Abend Besuch und will sie mit dieser Köstlichkeit überraschen. Aber leider weiß ich nicht genau, wo das ist. Du weißt das doch bestimmt.“

„Nah klar!“, antwortet er seiner Tante und freut sich, dass jemand seine Hilfe braucht. Es tut gut, wenigstens einmal als wichtig angesehen zu werden.

So lässt Tante Angelika auch alles stehen und liegen und geht mit ihm hinaus zu dem alten, klapprigen Golf, der sie schon seit mehr als fünfzehn Jahre durch ihr Leben begleitet. Tante Angelika ist der Meinung, dass sie niemals ein anderes Auto fahren kann.

„Wenn ihn mir der TÜV eines Tages stilllegt, dann werde ich auf die Busse umsteigen müssen“, sagte sie einmal.

So fahren sie bald auf einer langen, geraden Straße aus dem Ort heraus. Gerrit kennt die Strecke mittlerweile wie im Schlaf. Hier führt der Fahrradweg entlang, den er in den letzten Monaten so oft auf der Suche nach der Katze abgefahren war.

„Dort, bei der nächsten Einfahrt gegenüber dem Gasthaus müssen wir rechts abbiegenden“, erklärt er, und seine Tante fährt auf den Schotterweg.

„Das nennst du Straße?“, murrt sie und wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. „Meinst du wirklich, dass wir hier richtig sind?“

Doch Gerrit braucht nicht zu antworten. Hinter der nächsten Biegung erblickt man schon das glänzende Wasser der ersten Tischteiche.

„Ach Gerrit, du bist einfach toll! Das hätte ich ja nie gefunden!“ Tante Angelika wirft einen schmatzenden Luftkuss in Gerrits Richtung.

Der kann die Hitze in seinen Wangen regelrecht spüren. Schon lange hatte ihn keiner mehr gelobt. Er hatte fast schon vergessen, wie sich das anfühlt.

Sie fahren auf den Parkplatz und steigen aus. Die Sonne schimmert in dem grünen Wasser der Teiche und an einem sieht man einen Mann mit einem Kescher und Stiefeln, die ihm bis zu den Oberschenkeln reichen, fischen.

Unschlüssig sieht Tante Angelika sich um, bis sie schnurstracks und mit wehendem Gewand auf ein kleines Häuschen zuläuft.

„Ich bleibe beim Wagen“, ruft Gerrit ihr nach. Er möchte lieber sehen, was der Mann mit dem Kescher aus dem Teich zieht. Doch er kann aus dieser Entfernung nicht ausmachen, was der so eifrig aus dem Wasser zu fischen versucht.

Bald darauf kommt seine Tante freudig strahlend zurück. Sie hat eine Tüte unter dem Arm und wuselt Gerrit durch das Haar. „Nah, können wir wieder?“

Sie steigen in den alten, klapprigen Golf und fahren über den Schotterweg zur Hauptstraße zurück. Mit auf dem weichen Untergrund durchdrehenden Reifen biegt Tante Angelika auf die Hauptstraße ein, was Gerrit grinsend quittiert. Genau ihnen gegenüber liegt auf der Anhöhe das alte Gasthaus und oben auf der Mauer, neben einem alten, verrosteten Kinderkarussell, sitzt … die Katze!

Gerrit blickt erschrocken auf die kleine Gestalt, die scheinbar genauso zurückgafft. Es reißt ihn fast von seinem Sitz, als er durch das Heckfenster versucht, das Tier nicht aus den Augen zu verlieren. Aber seine Tante fährt mit durchgetretenem Gaspedal in einem irren Tempo nach Ankum zurück. Dabei pfeift sie gut gelaunt vor sich hin.

Die Katze verschwindet damit schnell aus Gerrits Sichtfeld und sein Herz klopft ihm bis zum Hals. Ein merkwürdiger Gedanke macht sich in ihm breit, der ihn plötzlich erschrocken zusammenfahren lässt. Ein neues Kind ist dran!

Nein, diesmal wird er das nicht zulassen.

„Tante Angelika, hast du die Katze bei der Kneipe gesehen?“, sprudelt es aus ihm hervor.

Mit gerunzelter Stirn sieht seine Tante ihn argwöhnisch an. „Nein, welche Katze?“ Ihre Augen verengen sich und Gerrit muss beunruhigt feststellen, dass sie ihn seltsam mustert. So sagt er lieber nichts mehr, denn ihm fällt im selben Augenblick ein, dass sie es gewesen war, die seinen Eltern damals den Psychologen empfohlen hatte. Bei ihm musste er zehn Sitzungen absitzen, in denen er alles über sich und sein Verhältnis zu seiner um ein Jahr jüngeren Schwester Nina erzählen sollte. Außerdem versuchte er herauszufinden, ob in Gerrits tiefstem Inneren ein übermäßiger Wunsch nach einem Haustier vorhanden ist, der die Geschichte mit der Katze heraufbeschwor.

Gerrit kam sich damals vor wie auf der Anklagebank. Doch alle anderen schienen von diesem Arzt begeistert zu sein und meinten auch, dass sich danach Gerrits „Zustand“ schon sehr gebessert hätte.

So ein Quatsch! Dabei hatte er doch nur allen begreiflich machen wollen, dass die Katze etwas mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun haben könnte und dass sie ihn damals regelrecht zum Wald gelockt hatte.

Dieser oberschlaue Doktor meinte dazu nur, dass er sich diese Hirngespinste ausdenkt, um Ninas Verschwinden besser verkraften zu können und er eine Katze in den Vordergrund seiner Verdrängung rücken lässt, weil das besser zu verkraften ist und weniger Angst macht.

Aber sein Schlusspladoie war eindeutig.

„Schließlich locken Katzen keine Kinder in einen Hinterhalt und lassen sie dann auch noch so unauffindbar verschwinden“, war sein abschließender Kommentar in seinem Bericht und Gerrit musste ihm widerwillig recht geben, sonst hätte er noch ein paar Sitzungen mehr aufgebrummt bekommen.

Nun scheint Tante Angelikas Blick zu sagen: „Ist es wieder soweit? Müssen wir Dr. Meer wieder aufsuchen? Armer Junge!“

Bei ihr zu Hause angekommen, schleppt sie ihn ohne Wenn und Aber mit ins Haus und braut ihm einen heißen Kakao.

Gerrit will schnell wieder los, sich auf sein Fahrrad schwingen und die Katze suchen. Aber irgendwie hat Tante Angelika wohl das Gefühl, ihm noch einiges Gutes tun zu müssen.

Der Kakao ist unglaublich heiß und die nun vor ihm abgestellten Plätzchen riesengroß.

„So mein Junge. Nun trink erst mal in Ruhe deinen Kakao und iss die Plätzchen. Du wirst mir viel zu dünn!“ Sie lächelt ihm zu und trinkt selbst einen schrecklich riechenden Tee aus undefinierbaren Wurzeln und Blättern.

Gerrit verbrüht sich zweimal den Mund und gibt es somit auf, das Zeug so heiß hinunterzuwürgen. Doch er schiebt sich zwei Plätzchen in den Mund, damit seine Tante ihn dann auch wirklich gehen lässt. Doch erst endlos lange zwanzig Minuten später entlässt sie ihn endlich.

„Du fährst sofort nach Hause, ja?“, ruft sie ihm noch hinterher und Gerrit winkt ihr zu, ein: „Nah, klar!“, rufend.

Wie ein Wahnsinniger kurvt er über die Straßen aus dem Ort heraus. Auf dem Fahrradweg durch Tütingen gibt er alles, was er an Kraft aufbringen kann und sieht bald schon das alte Gasthaus vor sich auftauchen.

Der Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter, als er seine Geschwindigkeit noch einmal erhöht. Er hofft inständig, dass die Katze noch an ihrem Platz sitzt.

Und dann sieht er sie. Erst als kleiner Punkt und dann immer größer werdend. Sie sitzt noch immer an dem Karussell, an dem er sie vom Auto aus gesehen hatte. Doch sie sieht nicht zu ihm, sondern zu einem kleinen Mädchen, dessen Eltern wohl in der Gaststätte zum Essen eingekehrt sind.

Die Katze erhebt sich gemächlich und stolziert zu dem Mädchen, die sie gleich auf den Arm nimmt und streichelt.

Gerrit ist wie von Sinnen. Ohne nachzusehen, ob ein Auto kommt, rast er über die Straße, fährt den steilen Weg hoch, der zu dem Gasthaus führt und springt noch während der Fahrt vom Fahrrad, das scheppernd in einem Busch landet.

Er rennt über die gepflasterte Terrasse und sieht das Mädchen, das gerade die Katze herunterlassen will, an der Tür stehen.

„Das ist meine Katze!“, schreit er und kommt keuchend vor dem Mädchen zum Stehen.

Die sieht ihn nur ängstlich an. „Ist ja schon gut. Ich wollte sie doch nur mal streicheln.“

„Die kann man nicht streicheln!“, zischt er aufgebracht und erkennt sofort, was für einen Unsinn er da redet.

Die Katze sieht Gerrit mit ihren grünen Augen seltsam an, so als wundert sie sich darüber, dass ausgerechnet er zu ihr kommt.

Schnell nimmt Gerrit dem Mädchen die Katze ab und lässt sie, als wäre sie aus heißem Eisen, zu Boden gleiten. Irgendwie hat er Angst vor dem Tier und will sie nicht einmal auf dem Arm behalten.

Das Mädchen hebt die Nase und stolziert beleidigt durch die Tür in das Gasthaus.

„Du hast Glück gehabt“, denkt Gerrit und sieht ihr nach. Dann wendet er sich der Katze zu, die ihn immer noch anstarrt. „Na los, du Vieh! Zeig mir, was du mir damals schon zeigen wolltest“, flüstert er nur hörbar für die Katze, die sich sofort erhebt und in Bewegung setzt, als hätte sie ihn verstanden.

Gerrit läuft zu seinem Fahrrad und folgt ihr. Tatsächlich hat er das Gefühl, als weiß sie genau, dass er ihr folgen wird. Sie dreht sich kein einziges Mal nach ihm um.

Wieder überquert er die Straße, fährt ein Stück den Fahrradweg entlang und biegt dann links in den schmalen, geteerten Weg ein. Angst beschleicht ihn, ob er wohl das Richtige tut.

Die Katze läuft in einem schnellen Gang die Straße entlang, vorbei an Häusern, bei denen Gerrit einen Moment glaubt, es wäre besser, wenn er jemandem eben Bescheid sagt. Doch er hat Angst, dass das Tier ihm dann davonläuft. Das will er auf gar keinen Fall riskieren.

Er wünscht sich, dass jemanden in einem der Gärten ist, den er auf sich und die Katze aufmerksam machen kann. Doch da ist niemand und außerdem hatte er der Polizei damals erzählt, dass seine Schwester der Katze auf diesem Weg gefolgt sein könnte.

Die hatten aber nichts herausgefunden, außer dass der arme Gerrit offenbar eine Schraube locker hat und vom Wunschdenken getrieben, dass eine Katze mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun hat, sich Geschichten ausdachte.

Gerrit sieht schon bald die Querstraße und den dunklen Wald, der sich vor der nun schnell untergehenden Sonne dieses Apriltages abhebt. Mit Erschrecken fällt ihm ein, dass es schon spät ist und es bald dunkel sein wird. Er bremst sein Fahrrad unschlüssig ab. Soll er der Katze wirklich weiter folgen?

Die scheint sich nicht nach ihm umzusehen und rennt die Querstraße hinab. Bald wird er sie nicht mehr sehen können.

Er gibt sich einen Ruck und treibt sein Fahrrad erneut an. Schnell folgt er dem Tier und holt bald wieder auf. Kurz darauf fährt er direkt am Wald vorbei, das graue Fell nicht aus den Augen lassend. Jeden Moment wird sie an die Stelle kommen, an der sie ihn damals vergeblich in den Wald locken wollte, und an der er und sein Vater Ninas Fahrrad gefunden hatten.

Tatsächlich bleibt die Katze stehen und sieht ihn an.

Gerrit fährt dicht an sie heran und steigt vom Fahrrad.

„Hier haben wir damals Ninas Fahrrad gefunden. Wo hast du sie hingebracht?“, flüstert er der Katze zu und starrt wütend und ängstlich in die grünen Augen des Tieres. Sein Blick fällt auf einen der Baumstämme und er sieht in Gedanken das rote Fahrrad daran lehnen.

Die Katze dreht sich um und hebt ihren buschigen Schwanz in die Höhe. Hoch erhobenen Hauptes stolziert sie weiter … in den Wald hinein.

Gerrit sieht ihr blass hinterher. Er hat schreckliche Angst, ihr in den Wald zu folgen, weiß aber, dass er sie bald aus den Augen verliert, wenn er sich nicht beeilt.

Weil es zu dämmern beginnt, kann er die Katze bald nur noch als Schatten ausmachen. So nimmt er allen Mut zusammen und folgt ihr.

Doch nun achtet er darauf, dass er genügend Abstand zu ihr hält. Auch wandert sein Blick ständig umher, denn er befürchtet, dass dort irgendwo jemand auf ihn lauert.

Die Katze führt ihn immer tiefer in den Wald hinein und Gerrit versucht sich den Weg zu merken, den er geht. Bis jetzt waren sie nur auf Wegen geblieben, was ihn einigermaßen beruhigt. Doch er weiß nicht, wie lange er jetzt schon hinter dem Tier herschleicht und er muss langsam dichter zu ihr aufschließen, um sie in dem immer dunkler werdenden Wald überhaupt noch sehen zu können.

Plötzlich bleibt die Katze stehen, mauzt einmal und springt dann von dem Weg in das dichte Buschwerk des Waldes hinein.

Gerrit macht einige große Sätze zu der Stelle hin, wo die Katze unter fast bis zum Boden reichenden Tannenzweigen hindurch verschwunden ist und starrt in das Unterholz. Er blickt durch den Wirrwarr von Baumstämmen, die von dichten Zweigen der ersten Tannenreihe fast verdeckt werden und überlegt, was er tun soll. Doch dann sieht er in einiger Entfernung die grünen Augen der Katze funkeln und beschließt, ihr weiter zu folgen. Er kriecht erst unter den bis zum Boden reichenden Ästen hindurch und kommt dann wieder auf die Füße. Die Fichten dahinter ragen auf dürren Stämmen zum Himmel empor. Farn und umgestürzte Bäume verbergen immer wieder den Weg der Katze und die in einigen Metern Höhe dichten Äste der Bäume verschlucken fast vollkommen das letzte Tageslicht.

Gerrit folgt dem Schatten, der ab und zu vor ihm zu erkennen ist. Einen Augenblick sieht er noch die grünen Augen, die ihn anstarren, dann ist der Schatten verschwunden.

Gerrit bleibt wie angewurzelt stehen. Wo ist die Katze plötzlich hin?

Seine sowieso schon schrecklich angespannten Nerven vibrieren. Sein Magen beginnt sich zu drehen und zu wenden und will Tante Angelikas Kakao und Plätzchen nicht länger in sich behalten. Seine Augen können keine Gefahr ausmachen, aber alles in ihm schreit nach Flucht.

Er muss sich zusammenreißen. Hier gibt es nichts, was ihm gefährlich werden kann. Er ist hier mit dieser Katze allein und was kann eine Katze ihm schon tun?

Langsam schleicht er weiter. Seine Nerven sind wie Drahtseile gespannt und seine Augen weit aufgerissen, als könne er so besser und schneller alles sehen. Denn, obwohl er sich einzureden versucht, dass die Katze ihm nichts antun kann, irrt immer wieder der Gedanke durch seinen Kopf, dass den anderen Kindern doch auch etwas geschehen war.

Er horcht angestrengt in die Stille des Waldes hinein, immer auf dem Sprung, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Immer tiefer senkt sich die Dunkelheit über den Wald und nimmt ihm die Sicht. Doch er schleicht vorsichtig weiter und steht plötzlich vor einem dunklen, baumlosen Platz.

Es braucht einige Zeit, bis er erkennt, dass es eine große, tiefe Mulde ist, die sich vor ihm auftut. Als er näherkommt, glitzert in etwa drei Meter Tiefe etwas auf und Gerrit weiß, dass es sich um ein funkelndes, grünes Augenpaar handelt.

Die Katze!

Der Junge sieht sich verängstigt um. Spinnenweben legen sich auf sein Haar und Schweißtropfen rinnen ihm in die Augen. Er wischt sie schnell weg und starrt wieder zu der Katze hinunter, die nun anfängt zu mauzen, als wolle sie ihn rufen. In dem Moment kracht es über ihm in den Bäumen und mit lautem Krächzen erhebt sich ein Eichelhäher in die Luft, um allen Waldbewohnern mitzuteilen, dass er einen Eindringling ausfindig gemacht hat.

Gerrit erschrickt dermaßen, dass er sich umdreht und kopflos davonrennt.

Er hört das jämmerliche Schreien der Katze, bleibt aber keine Sekunde stehen. Er rennt, als wäre der Teufel hinter ihm her und meint, dass ihm hundert Füße folgen. Doch das ist nur das Echo seiner eigenen panischen Schritte.

Die Tannen mit den tief liegenden Zweigen ragen vor ihm auf und er stürzt sich im Tiefflug darunter her. Krachend landet er auf dem schlammigen Weg. Seine Hand schmerzt ihm, aber er springt sofort auf und rennt weiter, mit der anderen Hand die Spinnweben aus seinen blonden Haaren wischend. Immer wieder sieht er sich gehetzt um, doch es scheint ihm keiner zu folgen, außer den schrecklichen Schreien der Katze, die jammert, als würde sie über eine verloren gegangene Beute trauern.

In dieser Nacht kann Gerrit lange nicht einschlafen. Er liegt in seinem Bett und starrt an die Decke. Er wird heute Nacht die Lampe brennen lassen müssen, denn er hat Angst vor der Dunkelheit. Schließt er die Augen, dann sieht er die Katze vor sich, die ihn mit ihren giftgrünen Augen aus dem dunklen Loch im Wald anstarrt. Dann beginnen seine Hände wieder zu zittern und ihm bricht der Schweiß aus, als hätte er die Grippe.

Was soll er jetzt nur machen? Nie wieder will er der Katze folgen! Nie wieder!

So liegt er da und grübelt vor sich hin. Wenn er nun der Polizei zeigt, wohin die Katze ihn gebracht hat? Werden sie ihm glauben? Werden sie dort etwas finden?

Gerrit weiß es nicht. Doch eines ist ihm klar. Erzählt er jemanden von dem, was er noch vor ein paar Stunden erlebt hat, dann wird er keinen Schritt mehr aus dem Haus machen dürfen. Und was dann?

Dann wird die Katze sich ein neues Opfer suchen. Eines, dass ihr unwissend folgen wird und in die Falle tappt.

Was ist das nur für eine seltsame Mulde gewesen, in die diese Katze ihn locken wollte? Warum hatte niemand etwas von so einem Krater im Wald erwähnt?

Die Suchkräfte hatten diese Gegend mehrfach nach den Kindern abgesucht. Nein, wenn dort eines der Kinder läge, dann hätte man es auch gefunden.

Er wirft sich auf die Seite und starrt an die Wand. In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Was, wenn die Katze eigentlich doch nichts mit dem Verschwinden der Kinder zu tun hat? Vielleicht ist sie wirklich nur ganz harmlos und hat dort unten im Loch ihre Jungen versteckt? Wenn sie vielleicht doch nur seine Hilfe brauchte, weil eines der Jungen nicht mehr aus dem Loch herauskommt?

Er wirft sich energisch auf die andere Seite und zieht die Decke frierend hoch. Alles in ihm sagt ihm, dass er sich nicht irren kann. In seinen Träumen sieht er immer wieder Nina mit dieser Katze auf dem Arm. Das kann doch nicht nur ein unbedeutender Albtraum sein? Es muss mehr sein. Wie soll er sonst je herausfinden, was mit ihr passiert war? Und das muss er wissen. Er muss der Sache mit dieser Mulde im Wald schleunigst auf den Grund gehen. Aber mit Bedacht und Schläue.

So beschließt er, gleich am nächsten Tag in den Wald zu gehen und sich diesen dunklen Krater genauer anzusehen. Er wird einen anderen Weg nehmen, damit ihm die Katze nicht begegnet. Denn auf die will er dort besser nicht treffen. Vorsichtshalber.

Am nächsten Tag bringt Gerrit seine Schultasche nach Hause, isst seine Linsensuppe aus der Mikrowelle schnell auf und schwingt sich kurz darauf auf sein Fahrrad. Er hatte den ganzen Vormittag in der Schule kaum an etwas anderes denken können und wollte so gerne jemanden von seiner Fahrt in den Wald erzählen. Auch zur Absicherung, damit jemand weiß, wo gesucht werden muss, sollte er doch verschwinden. Aber er hatte Angst, dass ihn jemand verraten wird. Außerdem hat er keinen so guten Freund, dem er vertraut. Er wünscht sich mehr denn je einen an seiner Seite, der vielleicht sogar mit ihm zusammen diese angsteinflößende Tour unternehmen würde. Doch er gilt, seit dem Verschwinden seiner Schwester, als verrückter Einzelgänger, dem keiner Beachtung schenkt.

So fährt er allein durch den Nieselregen über Feldwege und enge Straßen, von denen er hofft, sie werden ihn von der anderen Seite her zu dem Wald führen. Da er seinen Nachbarn damals dort angetroffen hatte, muss diese hügelige Straße irgendwo herkommen.

Gerrit muss daran denken, wie der ihn in sein Auto gezerrt und nach Hause befördert hatte und ihm somit das Leben rettete und dass deshalb seine Schwester in die Falle getappt war.

Gerrit fährt an einer viel befahrenen Straße entlang Richtung Alfhausen, bis er bald auf eine Querstraße trifft, die ihn wieder nach Westen führt.

Er müht sich einen schrecklich hohen Hügel hoch und fährt dann augenblicklich in ein Waldstück hinein, von dem er inständig hofft, es handelt sich nicht schon um seinen Wald. Alles in ihm drängt zur Umkehr und will sich nur schwer davon abbringen lassen, diesen Fluchtgedanken sofort umzusetzen.

Er kommt an einem Hof mit sauber gemähten Grünstreifen am Weg vorbei und muss mit Entsetzen feststellen, dass nach den kleinen, im sauberen Grün stehenden Ostbäumen, die asphaltierte Straße in einen Schlackeweg mündet.

Gerrit bleibt stehen. Er muss hier falsch sein. Das kann doch nicht der richtige Weg sein?

Doch dann gibt er sich einen Ruck. Wenn das hier nicht der richtige Weg ist, dann kann ihm auch nichts passieren. Also kann er beruhigt noch ein Stück weiterfahren, bevor er umkehrt und es morgen noch einmal versucht.

So fährt er fast schon erleichtert den Schlackeweg weiter, kommt bald aus dem Waldstück heraus und sieht auf wunderschöne gelbe Rapsfelder. Es riecht süßlich und lautes Summen von Insekten liegt in der Luft. Die Erde scheint nach dem Regen zu dampfen und die Sonne tritt schwach hinter ein paar sich lichtenden Wolken hervor.

Gerrit fährt über den mit Pfützen übersäten Weg weiter und genießt einen Moment das schöne Leuchten der Felder und die wärmenden Sonnenstrahlen.

Als sein Blick nach vorne fällt, tritt er erschrocken in die Bremse und steigt vom Fahrrad, das mitten in einer Pfütze zum Stehen kommt. Doch das bemerkt Gerrit nicht, denn hinter den Feldern erscheint riesengroß und mächtig der Wald. Von hier aus kann Gerrit die Querstraße erahnen und weiß, dass sie direkt am Wald entlangführt. Mit klopfendem Herzen ist er sich plötzlich sicher, dass er seine Straße gefunden hat.

Nun bemerkt er die Nässe, die sich durch den Stoff seiner Schuhe frisst und macht schnell einen Schritt vorwärts ins Trockene.

„Verdammt!“, flucht er leise und weiß selbst nicht, ob er das sagt, weil seine Füße nass sind oder weil er den Weg doch noch gefunden hat. Er hatte sich schon so sehr damit abgefunden, die Tour am nächsten Tag noch einmal zu fahren, dass er jetzt fast geschockt ist, dass er nun doch sein Vorhaben beenden muss. Fast wie ein böses Omen schieben sich wieder Wolken vor die Sonne und lassen die Welt in Sekundenschnelle trist und grau wirken.

Gerrit schwingt sich mit gemischten Gefühlen auf sein Fahrrad und fährt langsam weiter. An der Querstraße bleibt er erneut stehen und sieht mit Erschrecken fast direkt vor sich die Stelle, an der sein Nachbar ihn damals ins Auto gepackt und wo er mit seinem Vater Ninas Fahrrad gefunden hatte. Unschlüssig bleibt er stehen. Er sucht förmlich nach einem Grund, sein Vorhaben doch noch abbrechen zu können. Aber ihm fällt in diesem Moment beim besten Willen keiner ein.

So versteckt er sein Fahrrad hinter einem Busch und läuft schnell, immer wieder sich nach der Katze umsehend, durch das Unterholz in den Wald.

Er versucht so leise wie möglich zu sein und den Waldweg nicht aus den Augen zu verlieren. Bald schon kommt er an eine Abzweigung und steht einige Augenblicke unschlüssig da. Doch dann beschließt er, dass er besser auf dem Weg gehen kann, als so laut durch das Unterholz zu poltern. Katzen haben sehr gute Ohren! Sie wird ihn bestimmt sonst hören.

So schleicht er weiter, jederzeit bereit, sich ins Unterholz zu werfen, wenn ihm irgendetwas Verdächtiges begegnet. Den Weg wieder zu finden, bereitet ihm zusätzliche Mühe. Aber schon bald entdeckt er die aufgewühlte Erde, in der er am vorherigen Tag, bei seinem Hechtsprung unter der Tanne hindurch, gelandet war.

Gerrit duckt sich mit wild klopfendem Herzen und späht unter den niedrigen Ästen hindurch. Er kann nichts ausmachen, was ihm Angst macht und was er dann natürlich sofort zum Anlass nehmen würde, einfach aus dem Wald zu laufen. So nimmt er allen Mut zusammen und klettert durch die Tannenfront. Nun muss er wieder durch das dichte Unterholz gehen und dort verursachen seine Füße einen Krach, der ihm selbst so laut wie von einer wildgewordenen Elefantenherde vorkommt.

Unschlüssig seinen Weg suchend, steht er plötzlich, wie durch Zauberhand, an der schräg vor ihm abfallenden Kuhle.

Gerrit kann gerade noch seine Schritte bremsen, abgelenkt von dem plötzlichen Gezeter des auffliegenden Eichelhähers über ihm. Diesmal bringt der Gerrit nicht dazu, einfach wegzulaufen.

Der sieht mit großen Augen in das gähnende Loch, das nun bei Tageslicht gar nicht so erschreckend aussieht. Die Kuhle ist vielleicht drei Meter tief und die Seiten so sacht abfallend, dass sie ihm nun ausgesprochen ungefährlich vorkommen. Fast will er sich schon einen Dummkopf schelten, weil er diesem Loch noch am Vorabend so viel Bedeutung beigemessen hatte, dass er nicht schlafen konnte, als ihm von der anderen Seite der Kuhle etwas entgegenblinkt.

Gerrit geht vorsichtig um die Senke herum zur anderen Seite, wobei er einen umgefallenen Baumstumpf überklettern muss, und steht kurz darauf vor einem verrosteten Schild. Voller Erstaunen versucht er die Worte auf dem rostigen Blech zu entziffern.

Der Alkenkrug

Als in uralten Zeiten das Dorf Alfhausen nicht mehr als zwölf Häuser besaß, machten sich an Sonn- und Feiertagen die Alfhausener auf den Weg über die Westerholter Heide nach Merzen in die Kirche.

Hier an dieser Stelle soll zu der Zeit eine Hütte gestanden haben, die „Der Krug“ genannt wurde. Die Kirchengänger kehrten auf ihrem langen Weg hier ein, um sich an einem Krug Bier zu laben.

Der Wirt, der Alke genannt wurde, war kein gottesfürchtiger Mann. Er war nur auf seinen Gewinn aus und hielt die Leute davon ab, pünktlich sein Haus zu verlassen und die Kirche zu besuchen.

Da nun der Wirt schon häufig verwarnt worden war und doch keine Besserung herbeiführte, strafte ihn zuletzt Gottes Hand.

Seine Hütte versank eines Tages samt Scheune in der Erde und hinterließ diese Kuhle, die seit dem „Alkenkuhle“ genannt wird.

Gerrits Augen tränen von dem angestrengten Lesen und er wuselt sich erschrocken durch sein kurzes Haar. „Mensch, das ist ja ein Ding“, murmelt er und sieht sich schnell um, ob er auch wirklich noch allein ist. Doch nichts und niemand außer ihm scheint hier zu sein.

Ein versunkenes Haus … die Katze …, das kommt ihm recht unheimlich vor.

Doch dann überlegt er, wie alt diese Geschichte von dem Alkenkrug wohl sein mag und warum es erst seit drei Jahren verschwundene Kinder gibt. Da kann es unmöglich einen Zusammenhang geben, oder?

Gerrit ist verwirrt. Soll er in die Kuhle hinuntersteigen?

Er hat Angst, nicht wieder hinaus zu können. Schließlich verdeckt dichtes Laub den Boden und er weiß nicht, was sich darunter befindet. Aber er beschließt, am nächsten Tag wiederzukommen und ein Seil mitzubringen. Damit wird er sich an einem der Bäume sichern und somit kann ihm auch nichts passieren.

Mit diesem Gedanken geht er den Weg zurück, den er gekommen war und freut sich, auch diesmal der Katze nicht zu begegnen. Er fährt erneut über den Schlackeweg nach Hause und hofft, dass die Katze sich nicht unterdes ein neues Opfer gesucht hat. Oder ist sie unschuldig und sucht wirklich nur jemanden, der ihre Katzenkinder aus der Kuhle holen soll? Vielleicht gibt es eine kleine Höhle, in der sie festsitzen, dem verhungern nah!

Dieser Gedanke bestärkt Gerrit darin, am nächsten Tag in die Kuhle hinabzusteigen. Er muss das nachprüfen. Unbedingt.

Am nächsten Morgen wird den Kindern aus Gerrits Klasse mitgeteilt, dass ihre Klassenlehrerin auf der Fahrt zur Schule einen Unfall hatte. Nicht weiter schlimm, aber sie muss für zwei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.

Durch die Klasse geht ein beglücktes Raunen, denn sie sollten am nächsten Tag einen Aufsatz schreiben. Doch es freut sie weniger, dass sie Frau „Elcharsch“ als Vertretung bekommen. Die Kinder nennen sie so, weil sie ein mächtiges Gesäß besitzt und sich Elcharsch auf ihren wirklichen Namen Melchbarsch reimt.

Planlos und konfus versucht diese Lehrerin nun, den ihr vor wenigen Minuten aufgebürdeten Unterricht zu gestalten. So ist sie dann auch nicht gerade unglücklich, als Gerrit sich meldet und sie nach einer Sage befragt, die sich um den Alkenkrug rankt.

Gerrit weiß gar nicht so recht, was ihn in dem Moment reitet, dass er die Lehrerin danach fragt. Wahrscheinlich ist es das drängende Gefühl, einfach mit irgendjemandem über diese Sache zu sprechen. So läuft er wenigstens nicht Gefahr, zu viel von seinen Vorhaben zu verraten oder auf Gegenwehr zu stoßen.

„Oh, das ist eine ganz besondere Sage“, ruft Frau Melchbarsch in die Klasse und setzt sich auf den ergeben quietschenden Lehrerstuhl. „Weiß denn jemand schon etwas darüber?“

Zu Gerrits Erstaunen zeigen einige Finger nach oben.

Aber Kai scheint es am meisten darauf anzulegen, etwas zu berichten. Er steht sogar auf, um sich besser Gehör zu verschaffen, und erklärt: „Mein Opa hat mir mal erzählt, dass es einen Wirt gab, der die Leute zum Bier saufen, statt zum Kirchengang, nötigte und darum mit Haus und Hof im Erdboden versunken ist.“

Das ist nichts Neues für Gerrit. Doch dass sich nach dessen Bericht immer noch ein Arm hektisch in der Luft bewegt, macht Gerrit stutzig.

Frau „Elcharsch“ nimmt Saskia dran, die mit hochroten Wangen die Geschichte eines Bauern vorträgt, der eines Nachts den Alke herausgefordert haben soll.

„Denn wenn man um Mitternacht dreimal: „Alke kum heruss“ ruft, kommt er in Gestalt eines Feuerreifens aus dem Loch geschossen und verbrennt dich.“ Saskias Augen leuchten ehrfürchtig, doch alle anderen aus der Klasse halten das für Schabernack.

Gerrit sitzt nur da und starrt Saskia an. „Ein Feuerreifen, das aus dem Loch kommt …“, denkt er und ihm läuft ein Schauer den Rücken hinunter.

„Ihr braucht gar nicht zu lachen“, schnauzt Saskia ihre Klassenkameraden in dem Moment auch schon an. „Mein Vater hat mir gezeigt, wo der Feuerreifen einschlug, als dieser Bauer ihn herausforderte“, ruft sie trotzig aus.

Stille bricht über die Klasse herein und Saskia freut sich, nun die ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

„Also, dieser Bauer hatte ein sehr schnelles Pferd, mit dem er vor dem Feuerreifen floh. Doch was ihn eigentlich rettet, war …“ Saskia sieht sich um, ob auch wirklich alle vor Spannung erstarren, „… sein Dielentor. Mit letzter Kraft sprang das Tier über die untere Hälfte des Dielentors in die Diele des alten Bauernhofes und das Rad prallte davor ab. Ich selbst habe die Spur des Reifens gesehen“, bringt sie mit stolzgeschwellter Brust ihre Geschichte zu Ende.

Einen Moment herrscht in der Klasse angespanntes Schweigen. Dann klatscht Elcharsch zweimal in die Hände und ruft: „Nah, das war ja eine aufregende Geschichte, der wir aber mal nicht zu viel Gewicht beimessen wollen. Denn ihr solltet niemals vergessen, dass das alles nur eine Sage ist. So, dann holt mal euer Lesebuch heraus und wir schauen, ob sich darin nicht auch etwas Aufregendes finden lässt.“

Die Kinder kramen unter Buhrufen und Stöhnen ihre Lesebücher aus ihren Taschen und der Rest der Stunde wird in Zeitlesen investiert, bei dem jeder mal drankommt und versucht, so viel und so fehlerfrei zu lesen, wie möglich.

Als Gerrit an der Reihe ist, weiß er gar nicht, wo sie in der Geschichte sind, denn ihm spuken immer noch die Bilder des Feuerrades durch den Kopf und der Alke, der vielleicht statt auf ein Feuerrad auf eine Katze umgestiegen ist. Ihm gruselt der Gedanke, obwohl es doch nur eine Sage ist - eine nicht bewiesene Geschichte. Eine äußerst unglaubwürdige noch dazu, denn wohin soll ein ganzes Haus schon verschwinden? Und bedenkt man, was heut zu Tage in der Welt geschieht, dann hätte der liebe Gott mit seinen Bestrafungen alle Hände voll zu tun. Mal ganz davon abgesehen, dass er scheinbar lieber unschuldige Kinder bestraft, denn Nina hatte nie jemandem etwas zuleide getan.

„Also alles Quatsch!“, versucht Gerrit sich zu beruhigen. Doch sein Blick wandert immer wieder zu Saskia hin, die weiterhin mit geröteten Wangen dasitzt. „Ich habe den Abdruck des Feuerreifens selbst gesehen!“, hört er sie in Gedanken immer wieder sagen und jedes Mal läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

Am Nachmittag sitzt Gerrit in seinem Zimmer auf dem Bett, unschlüssig vor sich hin sinnend, was er nun glauben und tun soll. Er ist in seinen Gefühlen immer noch hin und hergerissen. Soll er in die Kuhle klettern und sie näher erforschen, so wie er es noch am Vortag geplant hatte? Wenn wirklich etwas an dieser Legende dran ist, heißt das, dass sich die Erde unter ihm auftun kann?

Ach! Was für ein Blödsinn! Noch nie hatte es jemanden gegeben, der von etwas Derartigem berichtete, außer diesem Bauern, und das ist schon Generationen her. Außerdem, wieso sollten jetzt Kinder in einem solchen Loch verschwinden, wo doch Jahrhunderte nie etwas passiert ist?

Und was könnte dann die Katze damit zu tun haben? Warum verschluckt das Loch sie nicht?

Nein, nein, nein! Gerrit ist sich mittlerweile sicher, dass diese Kuhle keinen verschlucken kann. Dazu der Alke in Gestalt einer Katze? Schwachsinn! Sie hatte ihn zwar zu dieser Kuhle gelockt, aber wenn das nun doch einen ganz anderen Grund hatte? Vielleicht gibt es unten im Laub wirklich eine kleine Höhle, in der kleine Katzen hausen, fast dem Verhungern nah, weil er aus Feigheit geflüchtet war.

Ja, das muss es sein. Die Katze hat mit all dem nichts zu tun und will ihm nur ihre Jungen anvertrauen. Seine Mutter hatte ihm und Nina früher einmal erzählt, dass ihre Katze sie immer zu ihren Kindern geführt hatte, wenn sie sie nicht mehr ernähren konnte.

Plötzlich scheint ihm dies die einzig logische Erklärung zu sein. Fast muss er über sich und seine überdrehte Fantasie lächeln. Katzen lassen keine Kinder verschwinden, Häuser versinken nicht durch Gottes Wille in der Erde und Feuerreifen springen nicht aus Erdmulden und verfolgen Menschen.

Gerrit packt nun auch noch das schlechte Gewissen. Was, wenn die kleinen Kätzchen schon tot sind? Er hatte an der Kuhle nichts gehört und die Katze war nicht da gewesen. Vielleicht hat sie ihr Nest schon aufgegeben?

Dieser Gedanke lässt ihm keine Ruhe mehr. Auch wenn sich von irgendwoher trotzdem noch die angestaute Furcht vor der Katze, und der seltsamen Sage um die Alkenkuhle, in sein Gehirn schleicht, dieser Gedanke von dahinsterbenden kleinen Kätzchen zieht ihn nun vollends in seinen Bann.

„Aber warum verschwanden die Kinder, wenn die Katze in der Nähe war?“, versuchen seine Gedanken sich ein letztes Mal in eine andere Richtung zu orientieren. Doch nun, bei genauerer Betrachtung, wird ihm klar, dass er nur glaubt, dass Nina der Katze gefolgt war. Und Thomas Mehring …, der wünschte sich doch nur eine Katze zu Weihnachten! Sagt das schon etwas darüber aus, dass er wirklich auf diese Katze gestoßen war, ihr folgte und somit in sein Unglück rannte?

Eigentlich nicht.

Und wenn, dann gibt es immer noch die Möglichkeit, dass die Katze zufällig immer dann eine Ziehmutter für ihre Babys sucht, wenn irgendjemand ebenfalls unterwegs ist, um sich an Kindern zu vergreifen.

Ja, eine plausible Erklärung, aber keineswegs beruhigend. Gerrit hofft inständig, dass dieser Jemand nicht gerade jetzt auf Kindersuche ist.

So packt er sich eine Tüte Milch ein, eine Dose Katzenfutter, die er schon vor Wochen gekauft hatte und ein Stück Fleischwurst für die Mutterkatze. Unschlüssig steht er einige Zeit da und starrt auf den Rucksack.

„Eine Taschenlampe für den Fall, dass die Kleinen tief in einem Loch sitzen“, murmelt er vor sich hin und greift nach der Lampe, die seine Mutter immer in der obersten Küchenschublade aufbewahrt. Schnell nimmt er noch einen Satz Batterien mit, weil er nicht weiß, wie lange die alten Batterien noch halten.

Dann packt er sich sein Taschenmesser dazu, um nicht ganz unbewaffnet in den Wald zu gehen, und holt sich ein Seil aus der Garage seines Vaters. Das muss er allerdings unbedingt noch vor dessen nach Hause kommen wieder zurücklegen. Denn sein Vater merkt immer sofort, wenn etwas nicht an seinem Platz liegt und keiner darf auch nur ahnen, dass er sich in der Gegend herumtreibt, um nach kleinen Katzen zu suchen.

So bepackt schwingt er sich auf sein Fahrrad und fährt eilig durch die Straßen Ankums. Ihn treibt die Angst voran, für die kleinen Katzen schon zu spät zu kommen. Sein Gewissen macht ihm schon jetzt die schlimmsten Vorwürfe und er lässt wegen der Katze gar keinen anderen Gedanken mehr zu. Natürlich kann sie ihn nur wegen ihrer Jungen so in den Wald gelockt haben.

Diesmal nimmt er den direkten Weg über den Fahrradweg nach Westerholte und dann durch Grovern zum Wald. Er hat nun keine Angst mehr, der Katze zu begegnen, doch sie taucht auch nirgendwo auf.

Er stellt sein Fahrrad an den Baum, an dem sie damals das Fahrrad seiner Schwester gefunden hatten und wie immer, wenn er daran denkt, versetzt es ihm einen Stich in die Magengrube. Dann geht er, seinen Rucksack geschultert, in den Wald hinein. Diesmal braucht er sich noch nicht einmal sorgen machen, dass er zu viel Krach macht. Dennoch blickt er sich immer wieder um, damit er sicher sein kann, dass ihm keiner folgt. Denn das scheint ihm die einzige Gefahr zu sein, auf die er achten muss.

Endlich erreicht er die Tannen, unter deren tiefhängenden Ästen er sich hindurchwindet und geht den direkten Weg zur Alkenkuhle.

Langsam wird ihm doch etwas mulmig zumute. Ihm fällt das Feuerrad ein. Aber Saskia hatte ja gesagt, das käme nur um Mitternacht heraus und auch nur dann, wenn man den Alke dreimal ruft.

Auch wenn Gerrit versucht sich einzureden, dass das alles nur Unsinn ist, so spürt er doch eine seltsame Furcht, bei dem Gedanken an die Sage, durch seine Adern kriechen. Aber es ist nicht Mitternacht und er denkt ja gar nicht daran, den Alke zu rufen.

An der Kuhle angekommen, vergewissert er sich, dass er immer noch allein ist, bindet das Seil an einem Baum fest und wirft es in die Tiefe.

Es tut sich kein Schlund auf, der das Seil verschlingen will. Das macht Gerrit etwas Mut und er klettert in die Senke hinab, immer das Seil griffbereit neben sich.

Kurz darauf steht er auf dem tiefsten Grund, mitten in der weichen Einwölbung, die mit Laub bedeckt ist und kaum zwei Meter misst. Er blickt noch einmal verunsichert nach oben, aber es ist alles in bester Ordnung. Nichts geschieht ihm.

Das Laub unter seinen Füßen riecht feucht und muffig.

Gerrit sieht sich nach dem Nest der Katzen um. Doch es gibt keine kleine Ausbuchtung oder Höhle.

Er geht in die Knie, um aus diesem Blickwinkel besser sehen zu können. Doch da ist wirklich nichts.

„Missimissimissi“, ruft er leise und hofft, die Katze kommt zum Vorscheinen und er kann somit sehen, wo ihr Versteck ist.

Doch es erscheint keine Katze.

Gerrit ist ratlos. Er hatte sich so auf die kleinen Katzen gefreut und sich so sehr in den Kopf gesetzt, dass es sie gibt, dass er sich nun nicht damit zufriedengeben will, dass er sich geirrt hat. Er ruft lauter: „Missimissimissi.“

„Miau“, hört er plötzlich über sich und dreht sich um. Vor ihm steht die Katze am Rand der Kuhle und sieht mit glühenden, grünen Augen zu ihm herab.

„Missi, da bist du ja!“, ruft Gerrit und greift nach dem Seil, um sich wieder an den Aufstieg zu machen.

Plötzlich spürt er einen Ruck unter sich. Dann ein Rumoren unter den Füßen, als würde die Erde lebendig. Erschrocken reißt er die Augen auf und ein entsetzter Schrei dringt aus seiner Kehle. Sofort packt ihn die Panik, dass die Erde sich doch unter ihm auftun wird und er seinem sicheren Tod entgegensieht. In dem Moment verliert er auch schon jeglichen Halt und fällt.

Das Seil ruckt schmerzhaft in seinen Händen. Gerrit umklammert es krampfhaft und kann seinen Fall bremsen, was ihm fast die Schultern auszurenken droht. Das Seil schneidet ihm schmerzvoll in die Handflächen. Er schreit voller Panik um Hilfe und versucht mit den Füßen einen Halt zu erfassen.

Aber unter ihm scheint nichts zu sein, außer gähnende Leere.

„Ich muss mich hochziehen“, stammelt er, um sich Mut und Kraft zu geben. „Das habe ich doch in Sportunterricht auch schon geschafft!“ Die Worte immer wieder vor sich hinbrabbelnd, zieht er sich mit aller Kraft Zentimeter für Zentimeter nach oben. Er kann durch die Baumwurzeln und Blätter, die über das Loch ragen, durch das er eingebrochen war, den Himmel sehen. Seine Kräfte wollen ihn langsam immer mehr verlassen, doch er zieht sich weiter voran, fest daran denkend, dass er jetzt hier nicht sterben will. Auch lässt ihn plötzlich der Gedanke erschauern, dass er womöglich dort unten in die Skelette der anderen Kinder fallen wird.

Bald kann er den Rand der Kuhle sehen und sein Blick fällt auf die Katze, deren Schwanz hoch erhoben über den Rand lugt. Was sie dort oben macht, kann er nicht ausmachen. Aber sie würdigt ihm nicht einen Blick.

Gerade, als er sich noch einige Zentimeter mehr hochgeschoben hat und seinen Schweiß bis in die Schuhe laufen spürt, sieht er, worüber die Katze gebeugt steht und sich abmüht. Es ist sein Seil.

„Verdammtes Vieh!“, schreit er noch und dann sieht er ihren Blick und spürt, wie das Seil spannungslos wird.

Er verliert jeglichen Halt und stürzt mit einem gellenden Schrei in die Tiefe.

Eine unglaubliche Welt

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