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NOCH AUF DER GAU-ALGESHEIMER HAUPTSTRASSE warf ich das zerknüllte Bounty-Papier aus dem Auto. Nicht auszudenken, wenn Notker es in meinem Audi fände. Allerdings wehte es geradewegs wieder herein und auf den Rücksitz. So ein Mist! Ich lenkte mit den Knien und angelte nach hinten; und prompt passierte es denn auch, ich streifte einen Laternenmast. Ich hielt an und atmete dreimal tief durch. Dann ein Blick auf die Uhr: Es war höchste Zeit. Nicht unbedingt für die Ausstellung; das war noch zu schaffen. Nein, mir fiel etwas anderes siedendheiß ein, das noch vor Notkers Rückkehr erledigt werden mußte … Ich rannte um das Auto und betrachtete den Schaden: ein kaputter Scheinwerfer. Na ja. Darüber würde Notker sich nicht so sehr aufregen. Der graue Laternenpfahl hatte ein paar Farbstriemen abbekommen, was ihm sicherlich nicht schlecht stand, aber das war mir herzlich gleichgültig. Nichts wie weg hier, bevor Passanten kamen und dumme Fragen stellten. Ich hatte ohnehin das Gefühl, daß sämtliche Bewohner dieser Straße hinter ihren Vorhängen gafften und sich über mein völlig überflüssiges Mißgeschick die Hände rieben. Mit hochrotem Kopf hockte ich mich wieder hinters Lenkrad und fuhr weiter.

*

Was wohl aus Jola geworden war?

Wir hatten uns nach der Schule aus den Augen verloren, denn sie verschlug es nach Frankfurt, während ich am elterlichen Herd blieb, diesem großen verbauten Haus mit der Werkstatt und der winzigen Tankstelle. Wie sie wohl mittlerweile aussah? Eine Einladung zu einem Klassentreffen vor einigen Jahren hatte ich abgelehnt. Ich sei krank, hatte ich geschrieben. Ich hätte es nicht ertragen, mich Jola oder den anderen Mädchen zu zeigen – 40 Kilo schwerer.

Notker Mörbel lernte ich auf die einzig mögliche Art und Weise kennen, die mir in meinem tristen Dasein blieb.

Da ich das Haus nur zum Einkaufen oder zu Arztbesuchen oder Ähnlichem verließ – und meine Schüchternheit verbot es mir, in meiner Berufsschulklasse Bekanntschaften zu suchen (ich war ohnehin das einzige Mädchen dort, was ich als zusätzliche Qual empfand) –, mußte der potentielle Bewerber schon zu uns nach Hause kommen. Er tat es in Gestalt von Notker, der eine Lehrstelle suchte.

Genaugenommen suchte er eine Stelle für das letzte halbe Lehrjahr, denn er hatte die Lehre in einer der größeren Werkstätten Gau-Algesheims geschmissen. Mein Vater verfügte zur Zeit über ein sattes Auftragsbuch, also nahm er den Asylsuchenden mitleidig auf. Zum einen war ihm mittlerweile die Erkenntnis gekommen, daß der Berg zum Prediger kommen mußte: Die tägliche Gegenwart eines Mannes, so dachte er, müsse meine Hemmungen – wenn schon nicht gänzlich gegenüber dem gesamten männlichen Geschlecht, so doch wenigstens gegenüber diesem einen – abbauen können.

Zum anderen hatte es sich herausgestellt, daß eine Frau zum Herumschrauben an Autos doch nicht ganz geeignet war. Ich begriff die technischen Zusammenhänge ebenso schnell wie jeder andere, hatte auch keine Probleme damit, mir an heißgelaufenen Motoren die Hände zu verbrennen oder mit öligen Fingern unter den Pulli zu greifen, um meine naßgeschwitzten Achseln zu kratzen. Aber es war nun einmal so, daß ich – obwohl weiß Gott kein Schwächling – bei solchen Arbeiten Mühe hatte, zu deren Erledigung es rohe Kraft aufzuwenden galt. Ich konnte wohl einen Vergaser einstellen oder Ventile wechseln, aber beim popeligen Aufziehen eines Keilriemens versagte ich oft.

Ich wurde gewissermaßen genötigt, mich mit diesem jungen Mann zu befassen, und mangels Vergleichsmöglichkeit gefiel er mir. Er sah nicht gut aus, aber angesichts meiner eigenen Unzulänglichkeiten war ich früher als meine Altersgenossinnen dahintergekommen, daß das Aussehen drittrangig war. Er gab mir zu verstehen, daß er meine Fähigkeiten als Mechanikerin nicht schätzte, mich selbst indessen schon. Meine Eltern sahen es mit Wonne. Charakterlich eher durchschnittlich, fiel er ihnen immerhin durch seinen Fleiß angenehm auf. Notker übernahm stillschweigend meinen Platz in der Werkstatt, ich beendete ebenso stillschweigend vorzeitig meine Lehre, um einer Karriere als Hausfrau entgegenzusehen. Ich hatte Chancen bei diesem Mann, sofern man ihm als Brautpreis die Werkstatt offerierte, und das allein zählte.

Schließlich war er ein solider Mensch, ein bienenfleißiger Handwerker. Ihm rutschte wohl ab und an die Hand aus, jedoch konnte er sich mit dem Gedanken anfreunden, daß die Übernahme der Werkstatt gekoppelt war an eine Bindung mit mir. Eine lose Verbindung, so drückte mein Vater es aus. Von Heirat zu sprechen hatte er nicht gewagt, weil er glaubte, Notker würde erschrocken ablehnen. Meine liebe Sonja, hatte er gesagt, du mußt dir einen Mann verdienen. Sei froh, daß Notker dich überhaupt beachtet. Er ist deine einzige Chance, jemals einen Kerl abzubekommen. Sieh dich doch an.

Notker biß an, schließlich war es seine Leidenschaft, an Autos herumzuschrauben – neben dem Fußball. Eben noch arbeitslos, mit abgebrochener Lehre, jetzt Werkstattbesitzer! Vater schloß ihn selig in die Arme, hatte Notker ihn doch von einem Alptraum befreit, nämlich in einer Zeitungsannonce nach einem Nachfolger für die kleine Werkstatt mitsamt drei Zapfsäulen und 12-Quadratmeter-Verkaufsraum suchen zu müssen. Er konnte jetzt seinen wohlverdienten Lebensabend genießen.

Es blieb beim Vorsatz. Nur drei Jahre später lag er tot im Bett. Vielleicht waren’s die Zigarren, vielleicht die Auspuffgase in der mangelhaft belüfteten Werkstatt. Ich erinnere mich daran, daß meine Mutter ihn ständig ermahnte, die milchigen, mit Reklamepappen geflickten Fenster offenzuhalten. Sie konnte seine Dummheit nicht ändern, auch nicht verhindern, daß sie ihm kurz darauf ins Grab folgte. Ein zu spät erkannter Krebs im Rückenmark.

Notker war zwar der Besitzer der Werkstatt, nicht aber der Eigentümer, wir hatten ja nicht geheiratet. Unser Zusammenleben war so selbstverständlich, daß wir es schlichtweg vergaßen und ich von ihm als »meinem Mann« redete. Die Gefahr, ich könne Notker überdrüssig werden und ihn vielleicht eines Tages vor die Tür setzen, bestand einfach nicht. Besser gesagt, letztere Gefahr bestand nicht.

Auch als ich schwanger wurde und er mich zu einer Abtreibung nötigte, sah ich in ihm noch einen fürsorglichen Ehemann. Fürsorglich allein deshalb, weil er mich Mauerblümchen auserwählt hatte, seine Tage mit ihm zu teilen.

Die Nächte übrigens nicht; die Nacht, die zu besagter Schwangerschaft führte, dürfte in den sieben, acht Jahren, die wir zusammenlebten, eine von einem Dutzend gewesen sein. Den Grund für den Abbruch führte er mir kurz und prägnant vor Augen, wie ich es später noch oft erleben sollte: »Mit deinem Gewicht ist eine Schwangerschaft ein gesundheitliches Risiko.« Sprach’s und wuchtete der (noch) Schwangeren einen 25-Kilo-Kartoffelsack auf den Buckel. Er hatte ja den Tag über gearbeitet und noch ölige Finger.

*

Die mahnenden Worte meines Vaters hatten sich bei mir eingeprägt: Ich wollte von Notker nicht lassen, obwohl er sich rasch als Peiniger entpuppte. Nach außen gab er sich bieder, und er war es auch. Alkohol in erträglichen Maßen, keine anderen Frauen, keine Schulden, solide, langweilig. Er besaß eigentlich nur einen Fehler: Er haßte mein Äußeres. Aber dafür war ich selbst verantwortlich, um mit meinem Vater zu reden. Es lag an mir, es zu ändern, sprich abzunehmen.

Kurz nach meiner geschmissenen Lehre hörte ich, Jola studiere in Frankfurt Kunst. Das brachte mich dazu, selbst noch einmal etwas Derartiges zu versuchen. Meine Eltern, damals lebten sie noch, rieten mir ab: Mein Lebensweg sei schließlich vorgezeichnet, was nütze mir jetzt noch das Fachabitur für Technik? Notker nahm meine Pläne erst gar nicht ernst, darum verbot er es mir auch nicht.

Mit schlotternden Knien, angetan mit einer weiten, altmodischen Jacke und dem unvermeidlichen ellenlangen Rock, reihte ich mich also zu Schulbeginn in den Pulk von schicken Schülern ein und vernahm mit Entsetzen, daß auch Sport auf dem Stundenplan stand. Außerdem erwies sich der Lehrstoff als zu schwierig. Ich mit meiner mäßigen mittleren Reife und der abgebrochenen Lehre in einer veralteten Werkstatt stand auf verlorenem Posten.

Ganze vier Tage hielt ich aus. Bevor ich mich am Freitag, dem fünften Tag, in der Sportstunde blamierte, sprang ich ab und kehrte reumütig und von jeglichen Selbstverwirklichungsplänen geheilt in die Werkstatt zurück.

Notker verhöhnte mich mal wieder: »Es genügt, wenn du mir das Werkzeug zureichst. Du bist viel zu dick und zu steif, um an einem Auto herumzuhantieren.« Meine Figur war’s mal wieder. Kein Wort davon, daß ich keine Begabung dafür hätte oder daß Frauen ins Büro oder an die Kasse gehörten und nicht in den Blaumann.

Bei mir hatte es Notker gar nicht nötig, auf solche Vorurteile zurückzugreifen.

Und mein ohnehin geringes Selbstwertgefühl war nach dieser Episode gänzlich verschwunden.

Wer hält sich schon den Mann im Keller

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