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NOTKER KEHRTE MIT MÄSSIGER LAUNE HEIM. Trotz des Sieges war ein einziges Törchen halt doch eine geringe Ausbeute für eine so lange Fahrt. Vielleicht vermieste ihm auch nur die drohende Kultur die Stimmung.

Es lag wahrscheinlich eher daran, daß ich aussah wie eine fünfzigjährige Sachbearbeiterin. Ich konnte mich mit der langbeinigen Siggi nun einmal nicht messen.

Er ging zum Kühlschrank, um sich eine Dose Bier zu holen. »Nur noch einen Schluck«, brummte er ergeben, »dann können wir gehen.«

Er hatte für Kunst nichts übrig, aber nachdem ich ihm erzählt hatte, daß bei den ausgestellten Skulpturen Autos eine Rolle spielten, hatte er sich breitschlagen lassen. Nun, wir würden auf dieser Vernissage wohl kaum jemanden treffen, den wir kannten; und er mußte sich nicht für seine fette Freundin schämen. Außerdem konnte er mir ein anderes Mal etwas abschlagen, wenn er mir heute diesen einen Gefallen tat. Sicher, ich hätte auch allein gehen können. Aber das verbot meine Unsicherheit.

Ich kannte seine Gedanken genau. Trotzdem würden sie meine heutige Freude nicht trüben, das nahm ich mir fest vor. Ich liebe Kunst, zumal diese mit Autos und Technik zu tun hatte. Ich besitze zum Beispiel eine Paul-Erdmann-Lithographie, »Frau im Buick« heißt sie. Die Maler und Bildhauer dieser Ausstellung, es waren je zwei, kannte ich namentlich nicht, denn sie kamen allesamt aus Hessen. Nicht, daß ich eine Einladung bekommen hätte: Ich hatte von der Ausstellung »Technische Welten« in der Zeitung gelesen.

Als Notker mich aufforderte, mich ans Steuer zu setzen, kam mir der Gedanke, daß er meine »Fresserei«, wie er sich ausdrückte, schon bemerkt haben könnte. Normalerweise steuerte er den Wagen selbst, es sei denn, er wollte mich demütigen. Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und murmelte etwas von Müdigkeit und zuviel Bier.

Den VW Jetta haßte ich beinahe noch mehr als meinen Rock. Das Auto war alt, einiges davon funktionierte nicht mehr, unter anderem ließ sich der Fahrersitz nicht mehr nach hinten schieben. Und so hatte ich Mühe, mich hinter das Lenkrad zu setzen. Es drückte gegen meine Schenkel; meine Fußspitzen reichten gerade noch an die Pedale – die Fahrt würde kein Vergnügen werden. Zu allem Überfluß schnallte sich Notker mit übertriebener Gestik an. Das zog eine Frage nach sich, die ich schon kannte:

»Was ist? Willst du dich nicht anschnallen?«

»Nein.«

»Nein? Nein? Bist du dir nicht darüber im klaren, was passiert, wenn du einen Unfall baust? Die Versicherung zahlt nichts!«

»Warum denkst du denn gleich an einen Unfall?«

»Und was ist mit den vierzig Mark, wenn du erwischt wirst? Warum diskutiere ich überhaupt mit dir? Schnall dich endlich an.«

»Du weißt ganz genau, weshalb ich mich nicht anschnalle!«

»Schrei mich nicht an! Selbst zum Autofahren bist du zu fett!« Er drückte den Zigarettenanzünder, starrte so lange darauf, bis er wieder heraussprang, und schob sich eine West in den Mundwinkel. »Du und deine verdammte Freßgier. Ich rede und rede, und die feine Frau frißt und frißt.«

Reden, damit meinte er diese kleinen, feinen, in regelmäßigen Abständen stattfindenden Debattchen. Dazu zählte er auch seine kleinen, feinen Handausrutscherchen. Ich würde sehen, was mir der heutige Abend noch so alles einbrachte.

Allzu schlimm sollte es nicht werden, dachte ich.

Da er doch eine so ansprechende Anhalter-Bekanntschaft gemacht hatte.

Und da doch die Borussia gewonnen hatte.

Allerdings nur mit einem dürftigen Törchen.

*

Die Eisenturm-Galerie in Mainz war hell erleuchtet. Schon von weitem sah man die großformatigen Bilder und die Skulpturenpodeste. Ich vergaß für einen Moment meine Scheu. Langsam und genüßlich schritt ich die Reihe der Arbeiten ab, sortierte im Geiste diejenigen aus, die mir nicht gefielen, um in den wenigen zu schwelgen, die ich in jeglicher Bedeutung des Wortes phantastisch fand.

Mit orangefarbenen Bildern – wie hier zu sehen –, auf denen man das Thema Technik vergebens suchte, konnte ich wenig anfangen. Oder mit elektronischem Schnickschnack: Computerbildschirme in aufgetürmten Erdhaufen, die konfuse Bilder zeigten, je schrecklicher, desto besser; Kabelstränge, um eine Madonnenfigur drapiert, die anstelle eines Säuglings ein ausrangiertes Faxgerät auf dem Arm hielt. Das Faxpapier wallte zu Boden, darauf stand: »Weltraumschrott – Kalte Lötstellen – Restspannung – Unfruchtbarkeit«. So ein Unfug! Da gefielen mir andere Plastiken weitaus besser: Motoren, aus deren Zylinderköpfen Hände und Füße wuchsen. Oder eine nackte Frau aus Ton, die mit einer Lichtmaschine schwanger war. Sie war mit Keilriemen an zwei Achsen gefesselt.

Hach, gerade so fühlte ich mich. Ich war nicht eben schwanger, weder mit einer Lichtmaschine noch mit einem Kind (ein kleiner Rest meines Verstandes warnte mich davor, noch einmal von einem Mann wie Notker ein Kind zu wollen), aber mit diesem armen gefesselten Wesen konnte ich mich identifizieren. Oder lag’s an ihren ausladenden Hüften?

Wohliges Grauen schüttelte mich. Wer war der Künstler? Ich beobachtete die Leute, bis ich zu dem Schluß kam, daß die Urheberin dieser Kunst die Frau mit den rotgetönten Haaren war. Sie mochte etwa in meinem Alter sein, und sie war … recht mollig.

Ich spürte einen Hauch von Neid. Diese Frau war mindestens so dick wie ich, aber sie bewegte sich, als sei ihr das nicht bewußt. Keine Spur von Scheu, keine gesenkten Schultern, um sich unauffällig zu machen. Und auch keine unscheinbare Kleidung.

Sie sprach mit ein paar wichtig und kunstmäßig aussehenden Leuten, lachte und gestikulierte heftig. Als sie sich umwandte, blieben ihre Augen fragend an mir hängen.

Mit weit ausholenden Schritten, wogenden Rundungen, in Pluderhosen und bunter, unterhalb des Busens geknoteter Bluse kam sie auf mich zu.

»Kennen wir uns nicht?« fragte sie. »Ich bin Jola Zurbarach.«

»Tatsächlich«, stieß ich töricht heraus. »Sie sind … du bist … ich bin Sonja!«

»Sonja!« rief Jola lachend und breitete mütterlich die Arme aus. Wir umarmten uns, als hätte es die zehn Jahre seit der Schulzeit nicht gegeben.

*

Arm in Arm wanderten wir durch die Ausstellungsräume, betrachteten die Bilder und Skulpturen, ohne uns in diesem Moment dafür zu interessieren.

»Ich hatte dich mir immer als verheiratete Frau vorgestellt«, sagte ich. »Du hast doch sicher Kinder?«

»Nein.« Jola lachte. Sie lachte viel und gern. »Ich denke, ich war ein paarmal dicht dran … Aber die Zeit ging vorbei, ohne daß ich bei einem Mann geblieben wäre. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, des öfteren solo durchs Leben zu laufen. Mir gefällt’s. Und du?«

»Auch nicht verheiratet. Aber ich habe einen, äh, Partner. Schon seit etlichen Jahren – denselben, meine ich.«

Ich deutete mit einem Kopfnicken auf Notker. Es war mir peinlich. Na gut, ich war fett, unbeweglich, hatte unreine Gesichtshaut und glatte, kinnlange Haare in einer undefinierbaren Farbe, irgendwo zwischen Grau, Dunkelblond und Braun angesiedelt, die platt und leidenschaftslos an meinem Rundkopf anlagen. Kein Schmuckstück, wahrhaftig. Aber Notker in seinem grauen, mindestens zehn Jahre alten und zu engen Anzug und dem Polyesterrolli, der sich über seinem üppigen, aus Tankstellenbier modellierten Bauch spannte, war durchaus auch kein Mann, den man mit Stolz präsentierte. Der Bauch störte mich nicht. Eher schon der Plastikpulli, durch den sein Unterhemd durchschimmerte. Oder sein ungepflegter Schnauzer in einem pickeligen, etwas aufgeschwemmten Gesicht.

Nein, was mich störte, war die Arroganz, mit der er an der Eingangstür lehnte, sein bemüht finsterer Gesichtsausdruck und die Krümel in seinem Bart und zu seinen Füßen, denn er zerpflückte demonstrativ (»ist doch langweilig hier«) eine Mohnbrezel.

»Der?«

Jola sah mich aufs höchste erstaunt an. »Wie bist du denn an den geraten?«

Das hätte ich ihr gern erzählt, aber nicht jetzt. Ich wedelte mit der Hand, damit er zu uns kam, denn ich wollte die beiden einander vorstellen. Das heißt, ich wollte es eigentlich nicht, ich fühlte mich dazu verpflichtet, der Höflichkeit wegen. Notker schob sich uns brezelkauend entgegen. Die Mühe, sich die Krümel vom Pulli zu wischen, machte er sich nicht.

»Jola, das ist mein Mann Notker«, sagte ich steif. Sie kniff mir in den Arm, so daß ich erschrocken »Au!« schrie.

»Sag mal, bist du wirklich mit dem da verheiratet?!«

»Sonja, wer issen die? Kennst du die?« Notker zog an meinem anderen Arm. »Die sieht ja so schlimm aus wie du.«

Ungläubiges, giftiges Zischen von Jola. Verächtliches Knurren von Notker. Ich wäre am liebsten im Boden versunken.

»Seid ihr wirklich verheiratet?« fragte Jola noch einmal. Notker zuckte mit den Schultern. Er mußte offenbar erst einmal darüber nachdenken, bevor er die richtige Antwort fand.

»Nein«, sagte ich.

»Nein«, sagte Notker.

»Wollt ihr?« fragte Jola.

Schulterzucken von Notker. Er sandte mir einen Blick zu, der besagte, jetzt nur nichts falsch zu machen. Ich nickte unverbindlich.

»Geht Sie das was an?« brummte Notker. »Da kommt man, um sich Kunst anzusehen, und wird unverschämt ausgefragt.«

»Aber Notker, ich kenne Jola doch von früher …«

»Ich nicht!«

»Kunst, pah!« zischte Jola. »Sie haben sich doch bisher kaum drei Meter vom Weintisch entfernt!«

Er packte wieder meinen Arm. »Meinetwegen sieh dich hier noch fünf Minuten um. Ich warte draußen im Auto auf dich.« Ein Schwall feuchter Krümel spritzte mir ins Gesicht. Mir war zum Heulen zumute.

Er ging dann doch nicht, sondern verzog sich wieder zu den Brezeln. Jola klopfte mir tröstend auf den Rücken.

»Ganz offensichtlich heiratest du einen Kunstbanausen. Ich kenne einige Pärchen, aber kein einziges, das mich neidisch werden läßt. Sie kämpfen mit Problemen, die sie nie hätten, wären sie allein geblieben.«

»Das ist ein bekannter Spruch.«

»Ist doch so. Wenn ich mir deinen Banausen so betrachte, gehört ihr zwei nicht nur in dieselbe Kategorie, sondern seid darüber hinaus ein wahres Prachtexemplar von einem mißlungenen Pärchen. Wie der sich aufgespielt hat … Ich hätte ihm beinahe eine runtergehauen.«

Ich schluckte. Unsere Beziehung war wahrhaftig kein Traum, bestenfalls ein Alptraum.

»Ich kann’s nicht leugnen«, sagte ich säuerlich. »Aber deine Auffassung ist trotzdem sehr kraß.«

»Stimmt. Ab und zu überkommt mich auch der Wunsch, Hand in Hand über beleuchtete Brücken zu laufen, im Hintergrund ein rostroter Sonnenuntergang …« Sie faltete die Hände und blickte andächtig zur nächsten Neonröhre hinauf. »Oder wie wäre es mit einer Parkbank im März? Es ist noch kalt, und man kuschelt sich aneinander, in den Beeten blühen die Krokusse, die Eichhörnchen machen Hausputz … Aber heiraten? Wenn ich mir die Wirklichkeit betrachte … Gib mir eure Adresse. Wenn mich nächstes Mal das heulende Einsamkeitselend packt, dann komme ich auf einen Sprung bei euch vorbei. Ihr zwei seid doch das ideale abschreckende Beispiel.«

»Ich sehe das dennoch anders.« Man soll die Hoffnung nicht aufgeben.

»Macht ja nichts.«

Ich mußte lachen. Es verging mir jedoch, als ich wieder zu Notker sah, der jetzt ungeduldig seine Uhr studierte. Noch drei Minuten … zwei … eine … Eine Frau kam auf uns zu, eine Kamera gezückt.

»Es tut mir leid, daß ich so spät komme.« Sie reichte Jola die Hand, dann mir.

»Sie heißen?«

»Sonja Baumann«, antwortete ich automatisch, ohne zu begreifen, was sie wollte.

»Sehr erfreut. Allgemeine Zeitung. Bleiben Sie so stehen, so ist es hervorragend.« Sie winkte einer zweiten Dame, diese stellte sich ebenfalls neben Jola.

Wir standen vor der gefesselten Frau, eines von Jolas Werken; und ehe ich einen Gedanken fassen konnte, blendete mich das Blitzlicht, dann war die Fotografin auch schon weitergezogen. Die dritte Frau im Bunde schüttelte mir die Hand, stellte sich als Kulturdezernentin oder etwas in der Art vor, verabschiedete sich von Jola, nicht ohne noch einmal ihre Kunst in den höchsten Tönen zu loben, und verschwand. Ich zupfte Jola unsicher am Ärmel und fragte sie, wer das gewesen sei. Nun ja, die Kulturdezernentin, das hatte ich ja schon bemerkt. Offensichtlich hatte man mich für eine wichtige Person gehalten, da ich mich so vertraut mit Jola unterhielt, und schlicht und einfach ebenfalls abgelichtet.

Ich sah vorsichtig zu Notker hinüber. Seine Hand, die das Weinglas zum Mund führte, war erstarrt. Sein Mund vergaß, weiter auf der siebten oder achten Brezel zu kauen.

Und sein Blick verhieß nichts Gutes.

Er deutete entschieden auf sein linkes Handgelenk, und ich verabschiedete mich von Jola. Schnell tauschten wir noch unsere Telefonnummern aus, dann eilte ich gehorsam zu ihm.

Er schwang heftig die Tür auf und schob mich hinaus. Den Weg zum Wagen legten wir schweigend zurück. Als er sich auf den Fahrersitz setzte, wuchs mein Unbehagen; erst recht, da er mich nicht anwies, mich anzuschnallen. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie die Falte auf seiner Stirn größer und größer wurde.

Auch während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Aber es war nicht zu übersehen, wie es in ihm gärte. Endlich, auf der Ausfahrt Ingelheim/West, brach es aus ihm heraus:

»Bist du eigentlich noch zu retten?« Er lenkte den Jetta auf die B 41, kam dabei einem Radfahrer gefährlich nahe und fluchte ihn krümelspuckend an. »Ja, bist du noch zu retten?!« Meinte er jetzt den Radfahrer? Er brauste mit Vollgas vorbei an einer leuchtenden McDonald’s-Säule, auf eine Kreuzung zu, obwohl die Ampel gerade auf Rot umsprang. Ich mußte mich am Armaturenbrett abstützen, als er endlich abbremste. »Ich könnte dich, ich könnte dich …«

Der Wagen stand, er wandte sich mir zu. Sein Gesicht war puterrot, seine Augen sprangen schier aus den Höhlen. Plötzlich hatte ich den unerhörten Gedanken, daß er eigentlich noch häßlicher war als ich. Na gut, das war sicherlich übertrieben. Aber ich sah in diesem Moment nur den Mohn von den Brezeln zwischen seinen Zähnen, und das fand ich wirklich eklig.

Notker umklammerte das Lenkrad, daß seine Knöchel knackten.

»Du blamierst uns beide!« brüllte er, um dann etwas ruhiger fortzufahren: »Dein Fettarsch in der Zeitung. Das hätte ich mir nicht träumen lassen.«

»Ich konnte doch nichts dafür«, rechtfertigte ich mich. »Es ging so schnell. Ich glaube auch gar nicht, daß dieses Foto wirklich in der Zeitung erscheint; es wurden ja mehrere geschossen. Außerdem werden die schon merken, daß ich nur eine Besucherin war.«

»Ein schönes Pärchen seid ihr beide gewesen. Sie war deine Schulfreundin, ja? Sie sah ja fast noch schlimmer aus als du!«

»Das fand ich nicht«, wagte ich einzuwenden. Ich hatte Jola als attraktiv empfunden – ganz im Gegensatz zu mir selbst.

»Ich verstehe nicht, wie man einen Rollbratenkörper so auffällig kleiden kann. Aber das kann sie halten, wie sie will. Sie geht mich nichts an. Du allerdings schon!« Er bohrte seine Finger in meine linke Schulter, so daß ich aufjaulte. Das gab mal wieder blaue Flecken. Beinahe glaubte ich, er wolle mich hier an Ort und Stelle schlagen; und mit vorübergehender Erleichterung sah ich die Ampel auf Grün umspringen.

Den Rest der Fahrt verfiel Notker wieder in unheilvolles Schweigen. Nachdem er das Auto in den Hof gefahren hatte, ging er zuerst ins Büro, um sich den Schlüssel zum Laden zu holen. Mein Herz blieb einen Augenblick stehen, als er in den Aschenbecher griff und mir dabei giftig zulächelte. Nein, er glaubte nicht wirklich, daß ich den Schlüssel gefunden haben könnte. Er wollte mir nur zeigen, wo ich hätte suchen müssen.

Achselzuckend ging ich nach oben. Das Büro war klein. Ich würde das kleine Biest schon finden, egal, wo er es das nächste Mal versteckte.

Aber es wird kein nächstes Mal geben, sagte ich mir. Es kann unmöglich so weitergehen.

Was kann nicht so weitergehen?

Notker? War Notker mein Problem? Erschrocken schob ich den Gedanken weit von mir. Schön, er verhielt sich manchmal ziemlich abstoßend. Er schlug mich. Es gefiel ihm, mich vor Fremden bloßzustellen. (»Das ist meine Freundin Sonja. Aber Sonja, deine Bluse sitzt nicht richtig! Man sieht ein bißchen zuviel von deinem Bauch. Ihre gebratenen Schweinemedaillons sind wirklich köstlich, Frau X. Sonja, ich denke, eine Portion ist für dich genug, meinst du nicht auch? Ach, manchmal bist du so unbeherrscht.«)

Nun ja, ich war unbeherrscht. Auch wenn er mich auf diese demütigende Art und Weise zurechtwies, so änderte das nichts an der Tatsache, daß er recht hatte. Und ohne seine ständigen Ermahnungen, seine Aufforderungen und Drohungen und seine (seltenen) Bitten, diese oder jene Diät durchzuziehen, wäre ich noch um glatte zwanzig Kilo schwerer.

So ist es, nicht wahr, Sonja?

Irgend etwas war an diesem Gedanken falsch. Ich kleidete mich aus, stieg unter die Dusche und entfernte die Schminke. Nackt stand ich dann im Schlafzimmer und betrachtete mich in dem mannshohen Spiegel des Kleiderschrankes. Es machte mir eigentlich nicht viel aus, mich selbst nackt zu betrachten. 120 Kilo Lebendgewicht, dachte ich säuerlich. Notker blickte schon lange nicht mehr hin, jedenfalls nicht so, wie ein Mann eine nackte Frau normalerweise ansieht.

Ich schlüpfte in mein Nachthemd und holte mir einen Stapel Fotoalben mit ins Bett. Notker würde sich erst nach dem Sportstudio meiner Bestrafung widmen. Die alten Fotos würden mich derweil ablenken. Während ich blätterte, horchte ich auf das gedämpfte Geräusch des Fernsehers. O ihr Fernsehgötter, zeigt ein paar gelungene Ausschnitte vom nachmittäglichen Spiel, auf daß sich seine Laune aufbessere!

Jola. Was für ein erstaunlicher Zufall. Ja, ich konnte mich gut an ihre Zeichen- und Modellierkünste erinnern. Im Schulunterricht war das Bekritzeln von Büchern und Heften ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen. Und darin war sie so gut, daß selbst die Lehrer geflissentlich darüber hinwegsahen. Die Schülerinnen sahen es als eine Auszeichnung an, ein Bildchen von Jola auf dem Umschlag eines Schulbuches zu besitzen. Ich glaubte, es sei diese Begabung, die Jola vor dem Spott der anderen Schüler bewahrte – und natürlich ihr großes Mundwerk. Ich selbst hatte nichts dergleichen vorzuweisen.

Ich blätterte die Seiten um. Wieder Jola. Ein Foto zeigte sie im Schwimmbad: in grellfarbenem Badeanzug mit hohem Beinausschnitt. Damals schon wagte ich mich meiner Figur wegen nicht ins Wasser, heute bedeutete das für mich ein übler Alptraum.

Ein Bild vom Park hinter dem Schwimmbad erinnerte mich an eine schlimme Begebenheit: Ich spazierte mit Jola und ein paar anderen Mädchen herum, den Beutel mit den feuchten Schwimmsachen geschultert und altes Brot in der Hand. Schnatternd flogen die Enten auf, als eine Gruppe von älteren Jungen und auch Mädchen auf Mofas in den verlassenen Park einfiel. Sie grölten herum, schwenkten die Dosen mit billigem Fuchs-Bier und fanden in den Mädchen, genauer gesagt in mir, ein passendes Opfer.

Einer der Kerle schlug mir das Brot aus der Hand, mit dem Hinweis, ich hätte es nicht nötig, den Enten die Mahlzeit zu stehlen. Ich wagte es, mich zu wehren: Ich verpaßte ihm eine schwache Ohrfeige. Meine Schulkameradinnen hatten bereits Fersengeld gegeben, als die Gruppe mich umringte, um zuzusehen, wie der Junge mir die Ohrfeige zurückgab; allerdings ungleich fester. Nur Jola harrte aus, konnte mir jedoch nicht helfen. Du fette Kuh! skandierten sie. Jola, kaum schlanker, blieb unbehelligt. Der Junge rammte mir das Knie zwischen meine Beine. Als ich heulend zu Boden sank, verschwanden sie. Jola half mir auf; ich konnte kaum laufen. Meine Schamlippen waren so dick wie Cocktailwürstchen.

Es war das erste Mal gewesen, daß meine Figur mir Schläge eingehandelt hatte; und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl gespürt, an der Situation nicht unschuldig zu sein. Es stellte sich auch dann ein, wenn Notker mich schlug. Auch das war ein Grund, weshalb ich den Status quo ertrug. Weshalb ich mit fatalistischer Geduld wartete, bis er ins Schlafzimmer kam, um mich zu prügeln, weil er es nicht ertragen konnte, mein Bild in der Zeitung zu sehen. Wenn man Essen in sich hineinstopfen konnte, ohne einen Gedanken an die Folgen zu verschwenden, dann mußte man eben auch dafür geradestehen.

Der Fernseher ging aus. Offenbar war den Fernsehgöttern ein läppisches eins zu null keine Spielausschnitte wert.

Wer hält sich schon den Mann im Keller

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