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Diagnose Oktober 1993

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„Mami, Mami, was wäre dir lieber: Ein Loch in meinem Kopf oder ein Loch in meiner Hose?“

„Ein Loch in der Hose natürlich!“

„Na dann ist ja alles gut. Ich bin nämlich grade vom Baum gefallen und hab mir meine neue Hose zerrissen.“

Der Witz ist weder besonders neu noch sonderlich originell.

Aber manchmal ist er gar nicht so weit entfernt von der Realität.

Beispielsweise in den letzten Tagen für mich.

Ein neuer Abschnitt unseres Ehelebens steht an: Wir stecken mitten im Umzug nach Duisburg für Martins Vikariat. Ausgerechnet da meldet sich mein Körper zu Wort. Angefangen hat das Ganze vor einigen Wochen mit einem pelzigen, tauben Gefühl auf dem rechten Oberschenkel. Als die Stelle sich immer mehr wie dauerhaft eingeschlafene Füße anfühlte, bin ich doch zum Arzt gegangen. Der schickte mich gleich weiter zum Neurologen. Dieser wiederum zeichnete zielsicher mit dem Finger einen Bogen genau um die fragliche Stelle und wusste Bescheid: Da hatte sich ein Hautnerv eingeklemmt. Nicht weiter schlimm, der „entklemmt“ sich auch wieder. Der Neurologe behielt Recht, bald fühlte sich alles wieder ganz normal an. Als sich die Geschichte am linken Bein wiederholte, wusste ich ja schon Bescheid: Das „entklemmt“ sich wieder. Dem war auch so. Erst, als das taube Gefühl den rechten Unterschenkel im Griff hatte, wollte sich das „Entklemmen“ nicht mehr so schnell einstellen. Der Nerv verklemmte sich spürbar so weit, dass ich Probleme beim Laufen bekam. Also noch einmal zum Neurologen. Der zieht die Stirn kurz in Falten, dann greift er zum Telefon und fragt in einer Röntgenpraxis nach einem „MRT“-Termin für mich.

„Übermorgen Abend um halb zehn?“

„Geht nicht, da haben wir einen Termin in der Gemeinde, der ist dann bestimmt noch nicht zu Ende.“

Dem Arzt klappt die Kinnlade herunter. Allein die Uhrzeit, und spätestens der Gesichtsausdruck des Neurologen hätten mich stutzig machen müssen. Aber ich hatte bis dato ja keine Ahnung, was sich hinter den drei Buchstaben „MRT“ verbirgt, und dass es in ganz Wuppertal ein einziges ambulantes dieser High-Tech-Geräte gab.

„Andere Patienten warten monatelang auf einen Termin. Also, wollen Sie oder wollen Sie nicht?“

Doch, doch, natürlich will ich.

Und so schiebt mich eine Röntgenschwester zwei Tage später in eine enge Röhre. Es knackst und knattert von allen Seiten, ich halte brav meinen Kopf still und habe nach wie vor keine Ahnung, was die Ärzte da eigentlich suchen. Von dieser Ahnungslosigkeit hat wiederum der Radiologe keine Ahnung. Routinemäßig drückt er mir einen riesigen grünen Umschlag mit den Aufnahmen für den Neurologen in die Hand, schreibt einen kurzen Begleitbrief und teilt mir lapidar mit: „Für eine eindeutige Diagnose muss man das natürlich noch klinisch abklären. Aber für mich sieht es eindeutig nach Multipler Sklerose aus.“

Multiple Sklerose auf lateinisch, abgekürzt MS, auf deutsch Muskelschwund.

Über zwei Ecken weiß ich von einer jungen Frau, die seit ihrer Kindheit an Muskelschwund leidet. Sie sitzt inzwischen im Rollstuhl und wird ihren vierzigsten Geburtstag aller Voraussicht nach nicht mehr erleben. Habe ich eine andere Variante der Krankheit? Im Sommer noch bin ich auf der Jugendfreizeit in den französischen Alpen durch Wildbäche geklettert, immer in der Gruppe der Vordersten und Abenteuerlustigsten. Läuft die Krankheit bei mir also wesentlich langsamer ab? Oder ab jetzt besonders schnell? Im Grunde genommen ist das egal. Nach allem, was ich über Muskelschwund weiß, verliert irgendwann auch der Herzmuskel seine Kraft. Diese Krankheit ist tödlich. Immer.

Ein absolutes Ohnmachtsgefühl, wie es nach einer solchen Diagnose eigentlich normal wäre, will sich trotzdem nicht einstellen. Martin sitzt am folgenden Morgen wie erschlagen an meinem Bett. Da legt ihm jemand die Hand auf die Schulter und sagt leise: „Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“ Außer seiner schlafenden Ehefrau und ihm selbst ist niemand in der Wohnung. Und trotzdem ist noch jemand da. Jemand, dessen Anwesenheit keine Überwachungskamera und kein Tonbandgerät registriert hätten. Jemand, der mit zwei Sätzen schwere Gedanken schneller und dauerhafter verscheuchen kann als jede Psychotherapie. Jemand, der mit einer simplen Berührung mehr Sicherheit und Zuversicht schenkt als eine ganze Armada von Ärzten.

Danke, Jesus.

Bei mir ist es eher eine Art Trotzreaktion, aus der heraus ich meinen Kolleginnen am Telefon verkünde: „Mag sein, ich überlebe euch alle.“

Es muss ja nur die U-Bahn entgleisen, in der sie zufällig sitzen.

Sie könnten auch bei Grün die Straße überqueren, während ein betrunkener Autofahrer seine rote Ampel übersieht.

Oder sie könnten sich Meningokokken einfangen.

Oder, oder, oder.

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Wir haben unser Leben nicht in der Hand. Irgendwie und irgendwann sterben wir alle.

Diese Erkenntnis ist weder besonders neu noch sonderlich originell.

Aber nie ist sie mir so nahe wie in diesen Tagen. Und wirkt dabei nicht einmal besonders brutal, sondern eher tröstlich: Ich bin nicht die einzige, die irgendwann sterben wird. Das wird allen anderen auch passieren.

Mag sein, dass diese Trotzreaktion in meinem Kopf mich erst einmal schützt vor allen weiteren grausigen Überlegungen, die Martin und ich jetzt eigentlich anstellen müssten. Ganz bestimmt wären diese bald unausweichlich geworden. Doch bevor es so weit kommt, schickt mir meine Mutter ein medizinisches Fachbuch über Multiple Sklerose. Interessiert lese ich, dass bei dieser Krankheit das eigene Immunsystem die Nervenbahnen angreift, dass diese Schübe mit Cortison gestoppt werden können. Dass die Krankheit bislang unheilbar ist, aber nicht unbedingt im Rollstuhl enden muss. Von Muskelschwäche, von Herzversagen, von tödlichem Ausgang lese ich nichts.

Und ganz allmählich dämmert es mir: „MS“ ist die Abkürzung für „Multiple Sklerose“. „Muskelschwund“ dagegen ist eine völlig andere Krankheit. Eine Krankheit, die ich nicht habe. Ich kann durchaus vierzig Jahre alt werden, vielleicht auch achtzig. Ich kann sogar Kinder bekommen.

Ich habe keinen Muskelschwund, sondern nur Multiple Sklerose.

Ich habe kein Loch im Kopf, sondern nur ein Loch in der Hose.

Der Witz ist wirklich nicht besonders originell. Aber plötzlich sehr real. Und er hat eine beglückende Pointe.

Von Dolomiten im Vorgarten und anderen Herausforderungen

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