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Eismädchen

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Als ich noch jünger war, hatte ich zwei Traumberufe. Entweder wollte ich Designerin werden oder Pathologin. Beide Berufe hatten für mich ihren Reiz. Zum einen war ich schon immer sehr kreativ und saß schon früh an Großmutters Nähmaschine. Andererseits faszinierte mich seit jeher die menschliche Anatomie. Ich war fünfzehn, als ich so dachte. Kurz darauf brach meine heile Welt entzwei.

„Hey! Du wirst hier nicht fürs Gaffen bezahlt!“, brüllte Dawina aus dem Büro. Vollkommen in Gedanken hatte ich vergessen, weiter zu spülen. Hastig nahm ich einen mit angetrockneten Spinatresten verdreckten Teller und begann, ihn zu schrubben. So sah mein Leben heute aus. Das Mädchen, welches mit fünfzehn Jahren unglaublich viel vorhatte, arbeitete nun den Tag über bis spät in den Abend hinein in einem heruntergekommenen Gasthaus. Ich musste mein eigenes Geld verdienen und ein Studium war weit in die Ferne gerückt. Dawina war die Chefin dieses Ladens. Eine imposante Erscheinung, recht klein und gedrungen. Sie war ein watschelnder, gieriger Giftzwerg und ihre Kleidung war stets so dreckig, dass man meinen konnte, sie wälzte sich regelmäßig in den Speiseresten. Die Bezahlung hier war nicht gut, doch war es besser, als auf der Straße zu sitzen.

„Schneller, verdammt! Sonst ertränke ich dich in der Spüle!“, krächzte Dawina in beunruhigender Nähe. Sie hatte eine furchtbare, blecherne Stimme.

Erschrocken blickte ich auf das Spülwasser, das ich nur einmal am Tag wechseln durfte. Aus Kostengründen. Bevor ich im Wasser ersaufen würde, würde ich also an einer Lebensmittelvergiftung sterben. Den Rest des dreckigen Geschirrs spülte ich in Rekordzeit weg und trat daraufhin meinen Dienst als Bedienung an.

Außer Dawina und mir gab es noch Eddie, den Koch. Er hatte die Statur eines Wikingers, das Herz am rechten Fleck und hatte irgendwann mal im schlimmsten Knast des Landes gesessen. Aufgrund seiner Vergangenheit war dies auch für ihn der einzige Job, den er bekommen konnte. Oft verteidigte er mich, konnte sich aber auch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, denn er hatte eine vierköpfige Familie, die er versorgen musste. Seine Kreationen waren ausgesprochen gut, wären da nicht die vielen abgelaufenen Zutaten in ihrer Verarbeitung, die man wegen Dawinas krankhaftem Geiz natürlich noch aufbrauchen musste. Der arme Kerl versuchte immer, alles auf höchstmöglicher Temperatur zuzubereiten, damit das abstarb, was nicht in die Nahrung gehörte.

„Solange es keinen dichten Pelz hat, kann man es noch essen“, meinte Dawina immer.

Jeder Mensch, der hier essen ging, konnte genauso gut russisches Roulette spielen. Das war weithin bekannt, weswegen sich hierhin auch nur einige Alkoholiker und unwissende Reisende verirrten. In Whisky und Gin überlebte nichts und die Reisenden sah man nie wieder. Man könnte jetzt spekulieren, warum das so war.

Gerade wischte ich mit einem grauen Lappen, der irgendwann mal eine weiße Unterhose war, über die letzten Tische, da läutete die kleine Klingel, welche so über der Tür angebracht war, dass sie sich geräuschvoll bewegen musste, wenn potenzielle Opfer eintrafen.

Ein junger Mann in Hemd und Jeans betrat die Gaststätte. Er war vielleicht um die dreißig, hatte sein halblanges, dunkles Haar nach hinten gekämmt und sein ernster Gesichtsausdruck änderte sich zu einem offenen Lächeln, als er mich sah. Eine derartige Freundlichkeit konnte nur von einem Reisenden kommen. Sofort zog er meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich konnte es kaum erklären, doch die Art, wie er sich bewegte, und seine Gestik waren so anders. So angenehm. Seine Tasche ablegend, setzte er sich an einen der freien Tische und schaute sich aufmerksam um.

„Jetzt geh da hin, du faules Miststück“, fauchte Dawina direkt hinter mir, sodass ich erschrocken zusammenzuckte. Sie sagte es leise, wie eine Drohung, doch so laut, dass der Mann sie offensichtlich gehört und verstanden hatte. Mit argwöhnischem Blick sah er zu mir herüber.

Bewaffnet mit Zettel und Stift wurde ich nachdrücklich in seine Richtung geschubst und eilte zu ihm. „Herzlich willkommen! Was darf ich Ihnen bringen?“, leierte ich fröhlich meinen Text herunter und sah seinen skeptischen Blick.

„Alles in Ordnung?“, flüsterte er leise und ich nickte sofort.

„Ja, alles gut. Man gewöhnt sich daran.“

So recht schien er das nicht glauben zu wollen, schaute sich dann aber die fleckige Speisekarte an, die zusammen mit einigen alten Bierdeckeln in einem Serviettenhalter auf dem Tisch klemmte. „Hmm, wie ist die Pute?“, fragte er mich und ich hatte sofort das grauenhafte Bild im Kopf, welches sich heute bei Schichtbeginn in mein Hirn meißelte. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf und hoffte, dass er versteht. „Pilzomelett?“, fragte er nun.

„Die Pilze sind sehr frisch. Hat die Chefin vor der Arbeit gesammelt. Es ist alles Mögliche dabei“, bemerkte ich mit eindringlichem Blick. Ich konnte ihn nicht ins offene Messer laufen lassen und wieder begriff er sofort.

„Ein alkoholfreies Bier?“, sagte er nun mit fragendem Unterton. „Gerne“, erwiderte ich und deutete eine Verbeugung an, bevor ich davoneilte.

„Was? Nur ein lächerliches Bier?“, zischte meine Chefin verärgert und schlug mir ihr Handtuch um die Ohren. In dem Moment merkte ich, wie abgestumpft ich eigentlich geworden war. Es kümmerte mich nicht im Geringsten, wie sehr diese bemitleidenswerte Frau vor meinen Augen herumwütete, so lange mein mageres Gehalt am Ersten jeden Monats auf meinem Konto vorzufinden war – was meistens funktionierte.

„Er hat eine lange Reise hinter sich und ist bloß durstig“, zuckte ich mit den Schultern und ging gleichgültig zur Zapfanlage.

„Das verpasste Essen zieh ich dir vom Gehalt ab. Und du bringst gleich den Müll raus und putzt anschließend die Klos“, zeterte sie unüberhörbar, schmiss das Handtuch auf den Boden und rauschte davon.

„Ich möchte gerne kurz mit Ihnen sprechen. Hätten Sie Zeit?“, fragte der Mann, als ich ihm sein Bier vor die Nase stellte.

Ich musste leider verneinen und bemerkte, wie er mich enttäuscht ansah, als ich kehrtmachte, um die Mülleimer in der Küche anzusteuern.

Ein eigenartiges Gefühl beschlich mich. Ich konnte nicht anders, als ihn immer wieder anzusehen, ganz unauffällig natürlich. Seine gebildete Erscheinung, die Höflichkeit und die recht tiefe, angenehme Stimme zogen mich regelrecht in ihren Bann – und nur Dawina vermochte es, mich mit ihren spitzen, unverschämten und proletenhaften Bemerkungen immer wieder aus meinen Träumen zu reißen.

Als das Glas des Mannes sich vollkommen geleert hatte und er offensichtlich zahlen wollte, steuerte ich seinen Tisch an. Nach einigen Metern wurde ich jedoch unsanft zur Seite gestoßen, stieß gegen einen der leeren Tische und verlor fast die Balance. Meine Chefin trippelte hastig zum Tisch des Mannes und zückte ihr Portemonnaie. Er jedoch sah erst mich über ihre Schulter hinweg an und schüttelte dann den Kopf. „Ich möchte, dass die Dame abkassiert, welche mich auch bedient hat.“ Das hatte sich noch niemand getraut. Dawinas Zähneknirschen hörte ich durch die halbe Gaststätte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stampfte an mir vorbei, warf mir einen vernichtenden Blick zu.

„Bitte, setzen Sie sich“, deutete er auf den Stuhl gegenüber, als ich das Portemonnaie zückte.

„Aber ich muss wieder in die Küche“, entgegnete ich mit einem Anflug von Verzweiflung. Er jedoch blieb hartnäckig und letztendlich nahm ich Platz.

„Warum tun Sie sich das an?“, fragte er mit forschendem Blick.

Ich wusste nicht, was das einen Außenstehenden anginge, und doch hatte ich dieses ungewohnte Gefühl, ich könnte ihm alles anvertrauen. Er würde mich weder für etwas verurteilen, noch mich aufgrund meiner abgetragenen Kleidung und Situation verspotten.

„Ich habe keine anständige Ausbildung und brauche dringend das Geld, denn ich muss wichtige Dinge damit erledigen“, entgegnete ich knapp.

„Würden Sie Hilfe von mir annehmen?“, fragte er.

Was war das denn für eine idiotische Frage? Ich kannte ihn doch gar nicht. „Bitte, bezahlen Sie einfach. Ich komme klar.“

Zögernd nahm er seine Geldbörse und öffnete sie. Dann passierte etwas, das ich mitnichten erwartet hätte. Um an sein Kleingeld zu kommen, nahm er einen Gegenstand aus dem Fach und legte ihn auf den Tisch.

Es war die Hälfte eines blauen, flachen Steines, dessen Gegenstück ich nur zu gut kannte. Es war ein halber Spinell, etwas größer, als ein altes Fünf-Mark-Stück. Die andere Hälfte schenkte mir meine Großmutter vor einigen Monaten. Ich trug sie als Talisman immer bei mir. Vollkommen verwirrt griff ich automatisch in meiner Schürzentasche danach und starrte wie hypnotisiert auf das blaue Mineral.

„W...wo haben Sie den her?“, stotterte ich und er sah zu mir hoch. Im gleichen Moment hörte ich Dawina hinter dem Ausschanktresen herumpoltern. „Clarissa! Du wirst nicht fürs Rumsitzen bezahlt!“

Wie von der Tarantel gestochen wollte ich aufspringen, doch mein Gegenüber hielt mich sanft auf dem Stuhl, packte seelenruhig seinen Stein wieder ein und stand seinerseits auf. Erhobenen Hauptes sah er meine Chefin herausfordernd an.

„Was willst du, Schnösel?“, spuckte sie förmlich aus.

Der Mann lachte verächtlich auf, trat von seinem Stuhl weg und stellte sich neben mich. „Ich werde Ihre Mitarbeiterin jetzt mitnehmen. Sie kommt mit mir“, sagte er ruhig.

„Was?“, entgegneten Dawina und ich fast gleichzeitig.

Bestürzt sah ich ihn an. „Aber, ich kann nicht ...“

„Vertrauen Sie mir“, flüsterte er und wandte sich wieder meiner Chefin zu. Ich sah, wie Eddie den Kopf aus dem Küchendurchgang steckte und interessiert zuschaute.

„Haben Sie noch etwas, das Sie mitnehmen möchten? Jacke oder Tasche?“, fragte der Mann mich, ich schüttelte den Kopf und machte den Mund erneut auf, um zu protestieren. Schmunzelnd legte er seinen Zeigefinger über seine Lippen.

„Ich lasse sie nicht gehen!“, plärrte Dawina, baute sich drohend auf und watschelte auf uns zu.

Er jedoch stellte sich schützend vor mich und meinte: „Dann habe ich nur noch ein Wort für Sie. Gesundheitsamt!“

Sofort stoppte die Frau und riss erschrocken die Augen auf. Kurz schien sie zu überlegen. „Dann verpisst euch doch alle!“

„Herzlichen Dank“, antwortete er und verbeugte sich vor ihr.

„Respekt, Mann!“, lachte Eddie lauthals auf, trat aus dem Schutz der Küche hervor und nahm seine gräuliche Kochmütze vom Kopf. „Ich kündige übrigens auch, du alte, widerliche Spinatwachtel!“ Mit den Worten warf er Dawina die Mütze vor die Füße.

Der Fremde nahm meine Hand und zog mich mit sich. Wir waren bereits an der Tür, das Glöckchen läutete, als Dawina begann, zu schreien. Mir absolut nicht darüber im Klaren, was ich hier tat, lief ich ein ganzes Stück mit, bis wir vor einem schwarzen SUV, der am Straßenrand geparkt war, stehen blieben. Rabiat entwand ich mich seinem Griff und schlug ihm auf die Brust. Ich war so verwirrt, wütend, völlig fertig.

„Wieso haben Sie das getan? Jetzt geht alles den Bach runter! Sie sind schuld!“, warf ich ihm entgegen und spürte, wie Tränen meine Augen füllten.

„Ganz ruhig! Ich hätte das nicht getan, wenn ich nicht eine bessere Lösung für Sie hätte!“, versuchte er, mich zu beruhigen, griff nach meinen Handgelenken und hielt sie gerade so fest, dass ich nicht mehr nach ihm schlagen konnte.

„Woher wollen Sie wissen, was für mich eine bessere Lösung ist?“, fragte ich aufgebracht.

Er ließ mich los, zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und entriegelte mit einem Knopfdruck die Schlösser seines Wagens.

„Ich kenne nicht einmal Ihren Namen“, bemerkte ich vorwurfsvoll und er wandte sich mir erneut zu.

„Florian Maas“, nickte er, wohl erfreut, dass ich ihm die Frage gestellt hatte.

„Clarissa Wagner“, entgegnete ich knapp.

„Darf ich Ihnen das Du anbieten?“, tastete er sich vorsichtig voran.

„Meinetwegen“, antwortete ich unsicher. Ich wusste nicht, ob es klug war, was ich da gerade tat, doch sollte er jetzt mal schön schauen, wie er mich versorgt bekam. Außerdem wollte ich unbedingt wissen, woher er diese Steinhälfte hatte.

„Wo willst du mich hinbringen?“, fragte ich skeptisch, als er die Beifahrertür öffnete.

„Ich arbeite in einem größeren Betrieb im nächsten Ort und bin mir sicher, dass man dort auch dir eine gut bezahlte Stelle anbieten kann.“

„Und wenn nicht?“, fragte ich mit einem Anflug von Panik. Ich konnte doch nicht jetzt in meiner schmutzigen Kleidung zu einem Vorstellungsgespräch fahren.

„Sie werden! Keine Sorge“, meinte er zuversichtlich. Ich hatte keine Wahl. Also folgte ich seiner Aufforderung, in sein Auto zu steigen – ohne die geringste Ahnung, wohin wir fahren würden.

Eine Zeit lang schwiegen wir uns an. Nur hin und wieder beobachtete er mich aus den Augenwinkeln. Instinktiv umklammerte ich das Steinfragment in meiner Schürzentasche, in der Hoffnung, es würde mich irgendwie vor Unheil schützen.

„Was ist passiert, dass jemand wie du in einer solchen Klitsche versauern wollte? Dir stehen alle Türen offen!“, brach er das Schweigen an einer roten Ampel und sah mich mit sanftem Blick an.

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge“, murmelte ich trotzig in mich hinein und sah ihn lächeln.

„Es hätte mich einfach interessiert. Aber du hast natürlich recht“, bemerkte er, sah mich jedoch noch immer erwartungsvoll an.

„Ist eine lange Geschichte“, meinte ich knapp und er antwortete: „Wir haben noch Zeit, hier gibt es viele Ampeln.“

Eine derartige Hartnäckigkeit kannte ich sonst nur von mir. Insgeheim musste ich schmunzeln. Was hatte ich zu verlieren? Musste ich mich schämen? Nein, keinesfalls, höchstens für andere. Also entschied ich mich, alles zu erzählen. Während er mir aufmerksam zuhörte, fing ich dort an, als mein Leben zu bröckeln begann.

Ich war gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Schon lange kriselte es zwischen meinen Eltern, doch eines Abends packte mein Vater seine Sachen und zog zu seiner jüngeren Freundin. Fortan wurde meine Mutter immer sonderbarer. Zu der Zeit dachte ich, dass alles gut werden würde, wenn wir nur zusammenhielten. Offenbar reichte das aber nicht. Die Tatsache, dass Papas neue Freundin nur sechs Jahre älter war als ich, setzte meiner Mutter derart zu, dass sie es sich zum Ziel gesetzt hatte, ihn zu unterbieten. Folglich verbrachte sie jede freie Minute außer Haus auf Männerfang. Ich erkannte sie nicht wieder.

Weil ich mich furchtbar einsam fühlte, ging ich oft zu meinen Großeltern, die drei Straßen weiter wohnten. Es dauerte nicht lange und Mama brachte einen jungen Südländer nach Hause, der mein älterer Bruder hätte sein können. Euphorisch verkündete sie mir, dass sie mit ihm nach Spanien auswandern und dort eine Bar eröffnen würde. So sehr ich mich damals freute, sie wieder lächeln zu sehen, bemerkte ich in meinem jugendlichen Leichtsinn nicht, dass ich dabei ganz vergessen wurde. Wieder wurden Koffer gepackt, wieder verschwand ein geliebter Mensch aus meinem Leben und diesmal war es zu viel für mich. Meine Schulnoten rauschten in den Keller, ich vernachlässigte meine Freunde und fiel in ein tiefes Loch. Meine Großeltern nahmen mich auf und kümmerten sich um mich. Vor zwei Jahren starb mein Opa und ein halbes Jahr später wurde meine Oma krank und musste fortan von einer fachkundigen Pflegekraft betreut werden. Ihre Rente war klein, reichte vorne und hinten nicht.

„Deshalb gehen Sie arbeiten und unterstützen Ihre Großmutter, so gut es geht“, begann Florian nun zu verstehen.

„Ja“, nickte ich. „Sie und Opa sind die einzigen Menschen, die immer für mich da waren.“ Florian sah mich mit einem Blick an, den ich kaum deuten konnte.

„Aber warum dort? So wie sie dich da behandelt haben, hättest du überall etwas Besseres finden können“, meinte er in überzeugtem Ton und ich winkte ab.

„Wer will mich denn ohne Ausbildung? Und das Gehalt hat immer gerade gereicht. Ich hätte keinen Monat überbrücken können. Und wenn dein Betrieb mich nicht nimmt-“, brach ich ab, als wir in die Einfahrt eines großen, gepflegten Hauses einbogen.

„Hotel Maas“, las ich die wuchtigen Buchstaben, welche sich über dem Eingang befanden und sah wie paralysiert zu Florian. „Das ist jetzt nicht wahr!“ Das war eindeutig sein Nachname.

Routiniert parkte er auf dem Chefparkplatz und sah mich mit einem breiten Grinsen an. „Doch. Dies ist mein Ausbildungsbetrieb. Hier habe ich gelernt und arbeite noch immer hier. Vor einigen Wochen, als mein Großvater seine ewige Ruhe fand, hat er meinem Vater und mir diesen Betrieb zu gleichen Teilen vererbt. Und hiermit biete ich dir einen Arbeitsplatz im Service an.“

Wie vom Donner gerührt starrte ich vom Haus zu ihm und wieder zurück, unfähig, etwas zu sagen. „Komm, wir essen erst einmal etwas. Ich lade dich ein“, lächelte er und führte mich vorsichtig an der Schulter herein. Alleine laufen konnte ich momentan nicht.

So ein prächtiges Haus hatte ich noch nie von innen gesehen. Schon die Empfangshalle, deren Mittelpunkt ein kleiner Marmorbrunnen bildete, ließ mich in meinen Lumpenkleidern plötzlich so winzig und unwichtig erscheinen, dass ich am liebsten wieder geflüchtet wäre. Als ob er es gerochen hätte, dass ich meine armselige Gestalt nicht in seinem Restaurant zur Schau stellen wollte, führte er mich in ein Esszimmer des Privatbereiches und ließ das Mittagessen dort servieren.

Reichlich eingeschüchtert sah ich mir die hohen Wände und Stuckdecken an. Ich saß auf einem Stuhl, der wahrscheinlich mehr kostete, als die Monatsmiete meines Zimmers für ein Jahr, und es dauerte bis zum Hauptgang, Hühnchen mit Kartoffelspalten und Ratatouille, bis ich meine Stimme wiederfand. „Ist das dein Ernst?“, fragte ich zaghaft und er nickte.

„Du kannst morgen anfangen.“

„Oh danke! Danke!“ Es selbst gar nicht richtig realisierend, sprang ich auf, lief zu ihm herüber und drückte ihn ganz fest.

„Nicht dafür“, lachte er, hielt mich fest und erst da setzte mein Hirn wieder ein. Wie konnte ich ihn nur so überrumpeln? Verlegen trat ich einen Schritt nach hinten und verzog mich rasch wieder an meinen Platz, was Florian irgendwie zu amüsieren schien. Ich konnte vor Freude kaum an mich halten und mich nur schwer auf das Essen konzentrieren.

Und da war noch etwas, das mich brennend interessierte. Eigentlich waren es zwei Dinge. „Wenn du hier alles haben kannst, wieso bist du an die Küste gefahren und hast die heruntergekommenste Gaststätte aufgesucht?“, fragte ich ihn gerade heraus.

„Nun, eigentlich war ich auf der Suche nach einer ortskundigen Person. Mein Besuch war also nicht ganz uneigennützig“, antwortete er, zog seine Geldbörse heraus und öffnete sie, um erneut die funkelnde Steinhälfte herauszunehmen. „Mein Großvater wurde sechsundneunzig Jahre alt und vererbte mir dieses Stück Stein, zusammen mit einem alten Foto, das ihn und eine Frau zusammen vor einem Felsen zeigt. Dieser Felsen ragt wie eine Flosse aus dem Wasser.

„Das ist der Haifischfelsen“, meinte ich beiläufig, interessierte mich aber mehr für den Stein, den auf dem Foto beide gemeinsam in den Händen hielten. Automatisch griff ich in meine Schürzentasche und nahm mein Stück des blauen Minerals heraus.

„Wie ist das möglich?“, hauchte Florian vollends verblüfft.

Die Stellen, an denen der Stein entzweigebrochen war, passten perfekt ineinander und das Ergebnis war vollkommen. Es war, als würde man ein Stück Eis bei sich tragen.

„Wo hast du deine Hälfte her?“, hörte ich Florian fragen.

„Von meiner Oma“, sagte ich und verstand auf einmal, was dieses Bild bedeutete. Ich nahm es und drehte es um. Auf der Rückseite stand Mein Eismädchen und ich im Sonnenuntergang. Die Frau auf dem Foto war meine Großmutter mit ihrer ersten großen Liebe. „Dein Opa und meine Oma waren ein Paar. Sie erzählte mir von ihm. Im Krieg wurden sie verfolgt, weil sie Verwundete der Gegenseite mitbehandelten. Sie wurden getrennt, mussten untertauchen, bekamen dann neue Namen“, erzählte ich die Geschichte meiner Großmutter nach. „Als sie zurückkehrten, dachten sie, dass der Partner nicht überlebt hätte und scheinbar liefen sie sich nicht mehr über den Weg. Irgendwann fanden sie einen neuen Partner, heirateten, bekamen Kinder und lebten in Unkenntnis voneinander ihr Leben weiter.“ In der Aufregung merkte ich erst jetzt, dass Florian meine Hand fest hielt. Überrascht ließ er sie los, was ich innerlich fast schon schade fand. „Lass uns zum Felsen fahren“, sprang ich spontan auf und sah ihn schmunzeln.

„Aber das Essen wird kalt.“

„Ihr habt doch bestimmt eine Mikrowelle“, grinste ich, schnappte mir seine Hand und zog ihn hoch. Auflachend packte er das Foto ein und eilte mir hinterher.

Der Felsen befand sich an der Küste nahe meines Geburtsortes. Es war ein Stück Fußweg bis an die Stelle des Strandes, und als wir dort ankamen, verschwand die Sonne bereits hinter der Flosse. Die Aussicht war wundervoll. „Hier haben sie sich also getroffen“, schwärmte Florian neben mir. Ich spürte, wie seine Hand die meine suchte, ergriff sie und hielt sie fest. Wir sahen uns an, in vertraute Augen. „Ich glaube, ich verliebe mich gerade“, flüsterte er und neigte seinen Kopf zu mir herunter. Er sprach das aus, was ich dachte. Ich kam ihm ein Stückchen entgegen.

Gerade, als sich unsere Lippen fast berührten, blendete uns ein Lichtstrahl, der durch das einzige Loch im Felsen von der Sonne verursacht wurde. Blinzelnd beobachteten wir, wie er langsam zwischen uns hinunter bis auf unsere verschlungenen Hände wanderte. Wir standen dort, wie einst unsere Großeltern auf dem Bild. Nur eins fehlte. Ich nahm die Hälfte meines Steines und Florian verstand sofort. Abermals fügten wir die Teile zusammen und hielten den vollkommenen Stein Hand in Hand in das Licht. Augenblicklich wurde es gebrochen und in alle Farben des Regenbogens aufgeteilt, um schließlich wie ein Farbenspiel hinter uns auf den sandigen Boden zu treffen.

Erst in diesem Moment entdeckte ich etwas im Sand, genau dort, wo die Farben auf ihn trafen. „Halte mal bitte den Stein“, sagte ich, wandte mich um und ging in die Hocke, um zu graben. Es war ein Griff, der zu einer kleinen, hölzernen Tür gehörte. Beim Öffnen schlug uns ein unglaublich kalter Wind entgegen und ein gleißend blaues Licht blendete unsere Augen. Rasch zog Florian seine Jacke aus, um sie über meine Schultern zu legen.

Gemeinsam stiegen wir die grob in den Stein gearbeiteten Stufen hinunter, die Augen mit den Händen abgeschirmt, bis wir schließlich ebenen Boden unter den Füßen spürten. Vorsichtig öffnete ich die Augen und traute ihnen nicht mehr. Wir standen in einem riesigen Gewölbe, auf einem zugefrorenen See. Die Helligkeit war überwältigend, doch stammte sie nicht vom Tageslicht. Soweit das Auge reichte, waren Wände und Decken der Halle besetzt von hellblauen Steinen, einer schöner als der andere. Sie warfen einander das Licht zu, welches von unter uns aus dem See zu kommen schien. Hunderte Schmetterlinge, die wir wohl mit unserem unerwarteten Besuch gestört hatten, schreckten auf und umkreisten uns flirrend.

Was war das für ein Ort? Und wie konnte er existieren? Eine Winterwelt inmitten des warmen Sommers, ein eigenes kleines Paradies. Es war bitterkalt, doch schöner, als alles, was ich bisher gesehen hatte.

„Eismädchen“, hauchte Florian und sein Atem bildete dabei kleine Wölkchen. „Jetzt verstehe ich. Ich wunderte mich über dieses Wort auf der Rückseite des Fotos. Es ist dieser Ort! Ihr geheimer Treffpunkt. Das hier war ihr Geheimnis, das er mir oft andeutete.“

„Und nun wird es unseres sein“, sagte ich und sah den schönen Mann neben mir an. Nun endlich küssten wir uns in der unendlichen Stille dieses Ortes. Ich war noch nie so glücklich.

Meiner Großmutter kamen sofort die Tränen, als sie Florian sah. Er hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem alten Foto. Dem Mann, den sie einst liebte. „Du hast ihn gefunden. Lass ihn nie wieder los!“, lachte sie mich glücklich an, während sie ihn fest drückte.

„Das habe ich nicht vor, Omi“, versicherte ich der wunderbarsten Frau, die ich kannte. Ich nahm Florians Angebot an, eine Ausbildung in seinem Hotel zu absolvieren, und zog bei ihm ein. Nebenher holte ich mein Abitur nach, um später Design studieren zu können. Meine Großmutter besuchte ich täglich.

Energisch klopfte es an der Tür. „Clarissa? Bist du da?“ Ich erkannte die Stimme und öffnete sofort. Da stand ein Wikinger, in einer Hand ein kleines Paket, mit der anderen kratzte er sich am Hinterkopf.

„Hey Eddie! Wird der Koch wieder als Bote missbraucht?“, lachte ich und knuffte den Muskelberg in die Seite.

„Mache ich gerne“, lachte der Hüne und übergab mir das Paket. „Heute Abend gibt es Hühnchen. Soll ich euch was hochschicken?“

„Klar“, freute ich mich und sah, wie er vor mir salutierte, um sich wieder in die Hotelküche zu verkrümeln.

Neugierig öffnete ich den Karton und fand darin einen eisblauen Traum von einem Kleid, der wohl für den nahenden Herbstball gedacht war und eine Karte, auf der stand Für mein Eismädchen.

Von Stubenfliegen und Osterhasen

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