Читать книгу Joanna - Samantha West - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Als Joanna wieder zu sich kam, lag sie am gegenüberliegenden Ufer des Flusses hinter einem krüppeligen Dornbusch, der sie vor den Blicken ihrer Verfolger schützte.
Der Fremde lag schwer atmend neben ihr und musterte sie nachdenklich. „Wir müssen weiter. Komm, steh auf.“
Joanna ignorierte ihn. Vielleicht ließ er sie hier liegen, wenn er merkte, dass sie nicht mitkommen wollte.
Steve nahm ihren Arm und versuchte, sie mit sich hochzuziehen. Alles was er jedoch erreichte war, dass sie ihn verschreckt ansah und versuchte von ihm wegzukriechen. Sofort ließ Steve sie los. Diese Reaktion auf seine Berührung war ihm nicht neu. Keine anständige Frau ließ sich die Berührung eines Halbblutes gefallen, ohne zurückzuweichen. Verbittert kniff er die Lippen zusammen und stand auf.
„Wenn wir hier nicht erfrieren wollen, müssen wir uns bewegen, also komm!“
Joanna zuckte beim Klang seiner harten Stimme zusammen, bewegte sich jedoch nicht. „Er wird uns umbringen!“ flüsterte sie nur.
„Wenn wir noch länger hier sitzen bleiben und eine gute Zielscheibe abgeben, sicher. Also, komm endlich!“ Steve packte sie erneut am Arm und zog sie hoch. Heiße Schmerzwellen durchfuhren ihn bei der Anstrengung und verbesserten seine Stimmung nicht gerade. „Wir müssen weiter zur Küste gehen. Dort wartet mein Schiff, hast du das verstanden, Lady?“
„Sie verstehen nicht! Solange Sie mit mir zusammen sind, werden Sie ihm nicht entkommen können. Sie hätten mich im Fluss lassen sollen.“ Ihre Stimme klang ruhig und endgültig.
„Verrate mir eins: Warum hat Großvaters Liebling den Bastard überhaupt geheiratet?“
Joanna sah ihn an und wusste einen Moment lang nicht, was sie sagen sollte. Ihre Müdigkeit und Resignation wurden durch Zorn ersetzt. Nicht auf Montigny, sondern auf diesen unglaublichen Kerl vor ihr. Was bildete er sich überhaupt ein? „Großvater war leider nicht zur Stelle, um seinen Liebling vor einem Mann wie Montigny zu beschützen, Sie… Sie… Held.“
Das letzte Wort sprach sie mit einer solch zornigen Verachtung, dass Steve sie überrascht ansah. Es steckte also doch Feuer in der scheinbar geschlagenen Frau vor ihm. Wenn es Zorn brauchte, um sie aufzurütteln, dann sollte sie nur zornig auf ihn sein. „Seien Sie froh, dass ich hier bin, ich sehe keine anderen Helden, die sich darum reißen, Ihnen zu helfen.“
Joanna lag eine zornige Entgegnung auf der Zunge, doch sie schluckte sie herunter. Er mochte elend aussehen, sein Gesicht von brutalen Schlägen gezeichnet, sein rechtes Auge fast völlig zugeschwollen sein. Mit der linken Hand hielt er sich die Seite. Bläuliche Verfärbungen und sein gepresster Atem sagten ihr, dass man seine Rippen schlimm geprellt, wenn nicht sogar einige gebrochen hatte. Sein Rücken war von Peitschenhieben gezeichnet. Doch er war noch immer um so vieles stärker als sie.
Sie schluckte ihren Zorn herunter und bemühte sich um einen möglichst neutralen Ton. „Es gibt hier keine Stelle, an der wir uns vor ihm verstecken könnten.“
Steve sah sich um. Sie waren genau unterhalb des kleinen Waldes aus dem Fluss gekrochen. Leider jedoch an einer Stelle, die hier ebenso steil anstieg, wie sie auf der anderen Seite abgefallen war.
„Und sehen Sie uns doch nur an“, fuhr Joanna fort. „Wir können beide kaum noch aufrecht stehen, wie sollen wir da zu Fuß zu Ihrem Schiff kommen?“
Nun war es an Steve, seinen Blick prüfend über ihre kleine nasse Gestalt wandern zu lassen. Ihr einfaches Wollkleid war am Ärmel zerrissen, ihr Haar hing ihr nass und strähnig in das blasse Gesicht, aus dem ihre dunklen, grünen Augen ihn resigniert ansahen. Zum Glück hatte sie wenigstens ihre Stiefel nicht im Fluss verloren. Ihre Chancen waren auch so schlecht genug.
„Wir suchen einen Weg nach oben, und folgen dem Strom“, entgegnete er ungeduldig. „Du kennst dich hier besser aus, wo ist der schnellste Weg nach oben?“
Joanna musste überlegen. Das letzte Mal hatte sie als Kind hier unten gespielt, und damals war ihr der Fluss nicht so breit und bedrohlich vorgekommen. Zwischen dem Wasser und der steilen Schlucht war jetzt an manchen Stellen kaum ein Meter Platz. Nur wenige alte Baumwurzeln und ein paar karge Sträucher würden ihnen Halt auf den glitschigen, mit Schlamm bedeckten Steinen bieten. Montigny musste einen Umweg reiten, um zu ihnen auf diese Seite des Flusses zu kommen. Doch sie machte sich keine Illusionen. Er würde kommen. Und sie war ihm nicht gewachsen.
„Folgen Sie dem Fluss etwa eine halbe Meile flussabwärts, bis Sie an eine alte verkrüppelte Eiche kommen, die mit ihren Wurzeln im Wasser steht. Rechts davon führt ein schmaler Pfad nach oben in den Wald, der erst kurz vor dem Meer endet. Wenn Sie meinen Großvater sehen, sagen Sie ihm, dass ich ihn sehr liebe.“
„Das kannst du ihm selbst sagen.“
„Ich komme nicht mit.“ Joanna drehte sich um und setzte sich auf einen Baumstumpf.
„Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Steh gefälligst auf und komm!“
Joanna schüttelte den Kopf. „Mit mir schaffen Sie es nie. Gehen Sie schon!“
Steve ging langsam auf sie zu und sah sie fest an. „Lady, wenn du nicht willst, dass ich dich mit Gewalt da hoch ziehe, dann stehst du jetzt auf und bewegst dich.“
Joanna lachte freudlos auf. „Gewalt! Das ist alles was Ihr Männer kennt, nicht wahr? Los, schlagen Sie mich! Was auch immer Sie tun, es kann nicht schlimmer sein als das, was er tun wird, wenn er mich findet.“
Steve schüttelte verständnislos den Kopf. „Warum zum Teufel willst du dann hier auf ihn warten?“
Dicke Tränen rollten Joannas Wangen hinab, aber sie schwieg.
Steve konnte sich nicht länger beherrschen. Die Zeit rannte ihnen davon. Mit eisernem Griff packte er ihren Oberarm und zog sie auf die Beine.
„Wir werden nicht hier warten, wie Schafe vor der Schlachtbank. Wenn es einen Weg nach oben gibt, dann gehen wir ihn zusammen.“
„Sie wissen einfach nicht, wann Sie aufgeben müssen, oder?“
„Bis jetzt war das nicht nötig. Und jetzt komm endlich!“ Steve griff ihren rechten Unterarm, und zog sie hinter sich her stromaufwärts.
Joanna wurde klar, dass er nicht ohne sie gehen würde, und dass es keinen Sinn hatte, sich ihm länger zu widersetzen. Wenn sie sein Leben nicht auf dem Gewissen haben wollte, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ihm stolpernd über das unebene Ufer zu folgen. Sie fragte sich verwundert, warum es ihm so wichtig war, sie nicht zurückzulassen. Ohne sie hätte er viel leichter entkommen können. Montigny oder ihr Vater hätten niemals gezögert, sie zu opfern, wenn sie dadurch ihr eigenes Leben hätten retten können. Dabei hatte sie bis jetzt immer geglaubt, dass ihr Vater es in seinem vom Alkoholdunst umnebelten Hirn nicht wirklich böse meinte. Er war einfach schwach. Heute jedoch hatte er anders gewirkt.
Wacher. Joanna schluckte. Gefährlicher.
Schweigend bahnten sie sich einen Weg durch Geröll und Schlamm. Es begann wieder zu regnen. Dicke, schwere Tropfen fielen auf sie herab. Obwohl es fast Sommer war, war es bitterkalt. Als sie den kleinen Pfad endlich erreicht hatten, zitterte Joanna vor Kälte und Anstrengung am ganzen Körper. Es war, als hätte das Wetter sich mit ihren Verfolgern verschworen, um die letzte Kraft aus ihr herauszusaugen.
Steve wollte anhalten, aber Joanna schüttelte den Kopf.
„Wenn ich mich jetzt ausruhe, werde ich nicht mehr aufstehen.“
Steve sah sie nachdenklich an. Wahrscheinlich hatte sie recht. Ihre Augen blickten dumpf vor Schmerz. Die weißen Frauen, die er kannte, hätten sich längst hingesetzt und sich geweigert, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Nicht Joanna. „Also gut, gehen wir weiter.“
Nach wenigen Metern wurde der Pfad so schmal, dass sie nicht länger nebeneinander gehen konnten. Steve ging an ihr vorbei und begann den Anstieg als erster. Mit aller ihr verbleibender Kraft krallte Joanna sich in Erde und Steine und folgte Steve mühsam Meter für Meter nach oben. Plötzlich gab die Wurzel, an der sie sich gerade festhielt, nach, und sie rutschte zurück.
Joanna schrie erstickt auf, als sie mit dem Knie hart auf einen großen spitzen Stein fiel. Wütend biss sie die Zähne zusammen.
Steve kroch neben sie und sah sie besorgt an. „Alles in Ordnung?“
Joanna schüttelte den Kopf. Ehe sie etwas sagen konnte, hörten sie Schritte über sich.
Steve sah sich um und zog Joanna hinter einen niedrigen Busch. Wachsam behielt er den kleinen Pfad im Auge, während Joanna an seiner Seite all ihre Kraft brauchte, um nicht laut aufzuschreien.
Die Krämpfe in ihrem Bauch wurden schlimmer.
Mit einem Wink gab Steve ihr zu verstehen, in ihrem Versteck zu bleiben, nahm einen größeren Stein in die rechte Hand und lief geduckt ein kleines Stück den Hang hinauf. Von oben nicht sichtbar hockte er sich hinter einen Felsvorsprung und wartete. Die Schritte kamen näher. Steve stand sprungbereit, den Stein zum Stoß angehoben, sein Atem flach und unhörbar. Im letzten Augenblick erkannte er, wer ihm entgegenkam. Er ließ den Stein sinken, zog den Mann mit der linken Hand um die Ecke und presste ihn gegen den Felsen.
Tom stieß erschrocken die Luft aus und wischte sich den Regen aus den Augen.
„Was willst du hier?“ fuhr Steve ihn an.
„Euch helfen, Mann!“ gab Tom wütend zurück.
Steve fixierte ihn mit misstrauischen Blicken. „Ich höre.“
Zuerst wollte Tom zornig schweigen. Dann sah er Joanna, die sich mühsam und mit bleichem Gesicht erhob.
Steve folgte seinem Blick und winkte ihr, zu ihnen zu kommen. Joanna rieb sich das schmerzende Knie und humpelte langsam auf sie zu.
„Ich hole sie“, sagte Tom, als Steve sich die Hand auf die verletzten Rippen presste und zu ihr gehen wollte.
Steve nickte und lehnte sich gegen den kühlen Stein.
„Isa?“ flüsterte Joanna, als Tom bei ihr angekommen war.
Tom schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie ist tot.“
Joanna nickte und schloss die Augen. Sie hatte es befürchtet, und doch hatte sie immer noch gehofft. Wenn Tom noch lebte, warum dann nicht auch Isa…
„Kommen Sie, Lady Joanna, wir müssen uns beeilen!“
„Ich kann nicht schneller. Bitte bringt euch selbst in Sicherheit, und lasst mich hier zurück.“
Tom schüttelte unbeeindruckt den Kopf. „Ich werde Sie stützen, und wenn es sein muss, trage ich Sie diesen verdammten Hang rauf.“
Erstaunt sah Joanna den jungen Mann an. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, zuckte sie instinktiv zurück. „Warum tust du das? Sie haben gesagt, du hättest uns verraten!“ „Aber ich habe euch nicht verraten!“
„Warum dauert das so lange?“ rief Steve ungeduldig zu ihnen herunter. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, verdammt!“ „Vertrau mir, Joanna! Isa hat mir vertraut.“
„Isa ist tot“, stellte Joanna ruhig fest.
„Ich habe dich nicht verraten, weder damals noch heute!“
Seine Stimme hatte den sanften Ton angenommen, den Joanna von früher kannte, und mit dem er jedes Pferd hatte beruhigen könnten, egal wie schlimm sein Herr es behandelt haben mochte.
Sie wehrte sich gegen die Wirkung, die sie auf sie hatte und sah ihm forschend in die Augen. Sie konnte Bedauern und sogar so etwas wie Schuld darin erkennen, jedoch keine Falschheit, keine Falle. Zögernd griff sie nach seiner ausgestreckten Hand.
Steve sah den beiden ungeduldig entgegen. „Nun macht schon! Was ist denn los?“
„Sie ist völlig erschöpft“, antwortete Tom.
„Sie kann sich ausruhen, wenn wir an Bord meines Schiffes sind.“
Joanna konnte hören, wie Tom tief einatmete und legte ihm ihre rechte Hand auf den Oberarm.
„Lass ihn, es hat ja doch keinen Zweck“, flüsterte sie gepresst. Ihr wurde übel, und sie blieb vornüber gebeugt stehen.
„Es ist nicht mehr weit“, ermunterte Tom sie. „Ich habe ein anderes Pferd gestohlen. Es steht oben.“
„Wer sagt mir, dass du uns nicht wieder in eine Falle lockst?“ Steve griff nach Joannas Arm und zog sie zu sich hoch.
„Wieder? Du musst verrückt sein, Mann!“
„So?“ fragte Steve gedehnt.
„Wenn ich gewollt hätte“, gab Tom wütend zurück, „hätte ich dir mehr als einmal deinen Hals aufschlitzen können, als wir uns durch die verdammten dunklen Gänge gequält haben.“
„Und vielleicht wäre es dir gelungen.“
„Es wäre mir gelungen.“ Ruhige Überzeugung sprach aus Toms Augen. „Du kannst hierbleiben oder mitkommen, die Entscheidung liegt bei dir.“ Mit diesen Worten umfasste er Joannas Taille und ging mit ihr an Steve vorbei weiter nach oben.
Steve blieb nichts anderes übrig, als ihnen fluchend zu folgen.
Als sie oben ankamen, zitterten Joannas Beine so stark, dass sie sich hinsetzen musste.
Neben ihr lehnte Steve sich schwer atmend an den Stamm einer alten Eiche und sah Tom fragend an. „Was jetzt?“
„Ich hole das Pferd.“ Tom nickte Joanna aufmunternd zu und eilte davon in den Wald.
Vorsichtig suchte er sich seinen Weg über umgekippte Bäume und durch dichtes Unterholz. Der Wallach war nicht weit entfernt. Er konnte ihn bereits schnauben und scharren hören. Tom wischte sich den Regen aus den Augen und blieb abrupt stehen. Irgendwo vor ihm war noch jemand im Wald. Er hörte deutlich einen Ast zerbersten. Dann war es wieder ruhig. Zu ruhig. Er zog sein Messer aus der Scheide und ging vorsichtig weiter.
„Hallo, Tom.“
Tom fuhr herum, und erkannte Jacques, der rechts von ihm lässig an einem Baum lehnte. Er hatte seine Pistole gezogen und auf ihn gerichtet.
„Wirf es weg. Schön langsam.“
Tom fluchte und ließ das Messer fallen.
Mit einem zufriedenen Lächeln stieß Jacques sich von dem Baum ab und kam langsam auf ihn zu. „Wo sind sie?“
„Ich habe sie nicht gefunden“, murmelte Tom.
„Schade, Junge.“ Jacques stieß Toms Messer mit dem Fuß zur Seite. „Dann brauche ich dich wohl nicht mehr.“ Mit einer blitzschnellen Bewegung schlug er Tom den Revolverknauf auf den Kopf.
Toms Schädel explodierte, und er fiel benommen auf die Knie. Der Rasen unter ihm begann, sich zu drehen. Jacques trat näher an ihn heran. Er hob den Arm erneut, und Tom erkannte durch einen Schleier aus Schmerz und Übelkeit, dass Jacques noch einmal zuschlagen wollte. Er griff nach Jacques’ linkem Bein. Jacques zog das Bein an und rammte Tom das Knie unters Kinn. Mit einem Knurren schüttelte Tom den Kopf und biss Jacques in den Oberschenkel. Er konnte den Mann aufjaulen hören und biss noch fester zu. Jacques strauchelte nach hinten. Tom ließ los und stand taumelnd auf. Er atmete schwer ein und aus und kniff die Augen vor Schmerz zusammen.
„Soll ich ihn abknallen, Boss?“
Tom drehte sich schwankend herum, konnte aber niemanden erkennen.
Jacques lächelte kalt. „Nein, Fitch, pass nur auf ihn auf! Tad, du kommst mit mir. Wir holen uns die Vögelchen.“ Er rieb sich die Stelle an seinem Oberschenkel an der Tom ihn gebissen hatte. Seine Stimme nahm einen bösen Klang an. „Um den Stallburschen kümmere ich mich, wenn ich mehr Zeit habe.“
Tom erkannte, dass Jacques direkt auf die Stelle zuging, an der Joanna und der Fremde warteten. Er musste die ganze Zeit gewusst haben, wo sie waren.
Ein kleiner dicker Mann mit rotem Haar folgte Jacques. Tom erkannte Tad Duncan. Fitch Duncan, im Gegensatz zu seinem Bruder schlank und groß, aber mit dem gleichen flammend roten Haar, trat mit angelegtem Revolver aus dem Unterholz rechts von Tom. Tom fluchte innerlich und wog seine Chancen ab. Jacques und Tad hatten ihm ihre Rücken zugewandt, aber Fitch musste nur den Finger am Abzug krümmen. Mit ein bisschen Glück würde er ihn nicht gleich mit dem ersten Schuss treffen, und Joanna und Steve wären zumindest gewarnt. Tom schickte ein Stoßgebet zum Himmel und ging langsam in die Knie. Vornüber gebeugt stützte er sich auf den nassen Waldboden. Seine vorsichtig tastenden Finger fanden, wonach sie gesucht hatten. Er sackte zusammen, als habe er alle Kraft verloren, und schleuderte einen kurzen, dicken Ast in Fitchs Richtung. Gleichzeitig rollte er sich so schnell er konnte seitlich über den Boden nach rechts ab und unter einem halb umgekippten Baumstamm hindurch. Fitch Duncans Pistole ging los. Sofort fuhr sein Bruder herum und feuerte ebenfalls auf die vermeintliche Bedrohung. Eine der Kugeln zog ihre heiße Spur über Toms linke Schulter, die andere fuhr neben seinem Kopf in den morschen Stamm.
„Ihr Idioten!“ rief Jacques erbost und beschleunigte seine Schritte.
Tom lächelte grimmig und versuchte, sich weiter in Sicherheit zu bringen. Die Brüder hatten sich getrennt und nahmen ihn in die Zange. Er hoffte, die Schüsse würden nicht nur Montignys übrige Männer schneller auf ihre Spur bringen, sondern auch den Fremden und Joanna warnen.
Ein gellender Kampfschrei links von ihnen ließ die Waffen für einen Augenblick verstummen. Jacques blieb mitten im Lauf stehen und wirbelte herum. Bevor er jedoch seine Waffe abdrücken konnte, traf ihn ein Messer in der Schulter. Steve durchbrach das Unterholz neben ihm und rammte ihn zu Boden. Die Duncans blieben unentschlossen stehen und sahen sich ratlos an. Steve und Jacques wälzten sich auf dem Boden und machten es den Brüdern unmöglich, Steve zu erschießen, ohne auch ihren Anführer zu treffen. Tom nutzte das ratlose Zögern der Duncans und kroch schlangengleich zu dem unruhig tänzelnden Wallach. Hinter ihm erschollen Rufe und Schüsse. Tom riss die Zügel los und schwang sich mühsam auf den Rücken des Pferdes. So schnell er konnte, ritt er zurück zu der Stelle, an der er Joanna verlassen hatte, und betete, dass sie noch da war.
Wenigstens wusste Steve jetzt, dass Tom kein doppeltes Spiel mit ihnen gespielt hatte. Es war riskant gewesen, den Jungen mit Jacques zusammentreffen zu lassen. Steve hatte ihn und seine Spießgesellen gehört, lange bevor Tom Jacques gesehen hatte. Aber er hatte keine Wahl gehabt, wollte er wissen, auf wessen Seite Tom wirklich stand. Steve und Jacques umkreisten sich geduckt. Jacques’ linker Arm hing ihm leblos an der Seite. In der rechten Hand jedoch hielt er das Messer, das er sich während des Kampfes aus der Schulter gezogen haben musste. Der Mann war hart, das musste Steve ihm lassen. Steve griff nach einem dicken Ast zu seinen Füßen und wehrte damit die ersten zwei Stiche ab. Der dritte traf ihn am linken Unterarm und zog eine lange rote Furche in seine Haut. Es wunderte Steve, dass er den Schmerz überhaupt noch spürte. Sein ganzer Körper war ein einziger pochender Schmerz. Er konnte fühlen, wie seine Energie nachließ. Verdammt, wo war der Junge? Lange würde er das hier nicht mehr durchhalten. Steve machte einen Schritt nach hinten und stieß mit der Hacke seines Stiefels gegen etwas Hartes. Er sah nach unten. Jacques’ Pistole.
„Vergiss es!“ keuchte Jacques und rammte ihm wie ein Stier den Kopf in den Unterleib.
Zusammen gingen sie erneut zu Boden. Jacques bekam die Waffe als erster zu fassen und drückte Steve den Lauf in die Brust. Steve schlug die Waffe zur Seite, als Jacques abdrückte. Der Schuss ging ins Leere. Steve griff mit beiden Händen nach der Pistole und versuchte, sie Jacques zu entreißen. Keuchend wälzten die Männer sich auf dem Boden, die Waffe zwischen sich. Jacques war im Nachteil, da er nur eine Hand benutzen konnte. Aber noch immer hatte er den Finger am Abzug. Es fiel Steve immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er handelte nur noch instinktiv, getrieben einzig von dem fast übermächtigen Willen zu überleben. Steve nahm den Kopf nach hinten und schlug seine Stirn mit aller Kraft auf Jacques’ Nase. Der Mann heulte wütend auf. Sein Griff an der Pistole ließ nach, und Steve bekam den Knauf zu fassen. Er drehte die Waffe und drückte ab. Jacques sackte zusammen. Steve stieß ihn schwer atmend von sich.
„Verdammter Hurensohn“, murmelte Jacques mit letzter Kraft. „Hätte dich gleich erledigen sollen.“ Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie kaum noch zu hören war.
„Fahr zur Hölle!“ antwortete Steve gepresst. Sein Atem ging schwer. Er hatte Mühe, sich aufzurichten. Schließlich stand er schwankend über dem Sterbenden.
„Kr…“ Was er hatte sagen wollen, würde für immer sein Geheimnis bleiben. Mit gebrochenen Augen starrte Jacques in den grauen Himmel.
„Hände hoch, Mann, und keine Bewegung!“
Tom ritt in die Richtung der Stelle, an der er Joanna und Steve zurückgelassen hatte, und pfiff leise.
Joanna zögerte. Es konnte eine Falle sein. Isa hatte sich vielleicht getäuscht. Unschlüssig beobachtete Joanna Tom durch die Sträucher, hinter denen sie lag. Er stieg ab und sah sich wachsam um.
„Joanna!“ rief er leise.
Er kam genau auf sie zu. Sie überlegte, ob sie weglaufen sollte. Eine neue Schmerzwelle fuhr in ihren Bauch. Was für einen Sinn hätte das?
„Hier!“ Sie stand auf und winkte ihm zu.
Tom atmete erleichtert aus und rannte, den Wallach hinter sich herziehend, auf sie zu. „Hier, steig auf, schnell. Sie können jeden Augenblick hier sein.“ Er half Joanna in den Sattel und nickte ihr ermutigend zu. „Halte dich immer am Fluss. Es ist nicht mehr weit bis zum Meer. Beeil dich und mach dich dem Schiff irgendwie bemerkbar. Ich bin mir sicher, die Besatzung hält Ausschau nach euch. Los!“
„Was ist mit dir und dem Fremden?“ fragte sie zögernd.
Tom hieb dem Wallach auf den breiten Hintern. „Wir kommen nach!“ rief er ihr hinterher und blieb stehen, bis das empört wiehernde Tier und seine Reiterin im Wald verschwunden waren.
„So ist es gut, immer schön die Hände in die Luft strecken und langsam hierher kommen.“
Steve atmete schwer ein und aus und trat langsam weg von Jacques. Der kleine, dicke Mann mit der Pistole winkte Steve ungeduldig, sich zu beeilen.
„Lustig, das gleiche wollte ich auch gerade vorschlagen“, erklang Toms Stimme irgendwo hinter Steve. „Also los, Tad, streck sie schön hoch, wo ich sie sehen kann.“
Der Rothaarige zögerte und sah sich suchend um.
„Oh, und mach dir nicht die Mühe, auf deinen Bruder zu warten, der kommt nicht mehr!“
„Grrrrrrr!“ Tad Duncan drehte sich mit einem heulenden Grollen um sich selbst und schoss unkontrolliert auf seinen unsichtbaren Gegner.
Steve sprang zur Seite und suchte Deckung hinter dem schmalen Baumstamm neben ihm. Plötzlich war es still.
„Du kannst rauskommen.“
Steve riskierte einen Blick auf die Lichtung. Jacques und der Rothaarige lagen regungslos am Boden. Zwischen ihnen stand Tom und winkte ihn zu sich.
„Warum hat das so lange gedauert?“ fragte Steve keuchend.
Tom nahm Tad Duncan seine Waffe und die Munition ab. „Ich hatte noch was zu erledigen. Du bist doch selbst auch zurecht gekommen, oder? Ihre Pferde stehen da hinten, komm!“
„Wo ist der andere?“ fragte Steve und sah sich weiter um.
„Fitch? Plötzlich verschieden. Komm jetzt.“
Steve folgte ihm mit leicht unsicheren Schritten. „Wie konntet ihr alle so schnell hier sein?“ fragte er, während er sich auf eines der Pferde zog.
„Keine Ahnung wie dieser verdammte Jacques es geschafft hat. Ich hab mich aus dem Staub gemacht, bevor sie um die Hecke herum konnten, bin auf das erstbeste Pferd gesprungen, das ich gefunden habe, und habe gemacht, dass ich möglichst weit nördlich auf die andere Flussseite komme, ehe Montignys Männer nach mir suchen.“ Tom stieg in den Steigbügel und saß auf. „Dann habe ich euch springen sehen. Verdammt, Mann, mir ist fast das Herz stehen geblieben!“ Er gab seinem Pferd die Hacken in die Seite und ritt voraus.
Joannas Wallach fiel schon kurz nachdem sie los geritten war in einen leichten Trab und schließlich in einen gemächlichen Gang. Sie wusste, dass sie ihn in eine schnellere Gangart antreiben sollte, aber ihr fehlte die Kraft dazu. Sie war erschöpft, die Krämpfe in ihrem Bauch wurden immer schlimmer, und sie war allein. Was war, wenn es nicht stimmte? Sie kannte diesen Buchanan nicht. Was, wenn er gelogen hatte, und ihr Großvater nicht auf seinem Schiff vor der Küste auf sie wartete? Sie wischte sich den Regen von der Stirn und erschrak. Ihr Gesicht glühte! Joanna unterdrückte ein Schluchzen und schrak zusammen, als hinter ihr das Donnern von Pferdehufen erklang.
„Das hier ist kein Sommerausflug, treib das verdammte Tier endlich an! Yieehaaaa!“
Der Wallach erschrak noch mehr als Joanna und beschleunigte sein Tempo. Sie krallte sich in seine Mähne und sah panisch nach links. Der Fremde! Joanna wusste nicht, wann sie je zuvor so froh gewesen war, jemanden zu sehen. Ihr Pferd hatte sich von seinem ersten Schrecken erholt und verlangsamte seine Schritte wieder. Von rechts griff Tom in die Zügel und preschte an ihr vorbei. Er nickte ihr kurz aufmunternd zu und spornte sein Tier weiter an. Dem empörten Wallach blieb nichts anderes übrig, als sich dem Tempo des anderen, kräftigeren Pferdes anzupassen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Küste endlich erreicht hatten. Steve ritt bis zum Ende der steil abfallenden Klippen und sah die Blizzard Wolf sofort. Die großen weißen Segel des dreimastigen Klippers waren eingeholt worden. Steve feuerte zwei Schüsse ab. Im nächsten Augenblick wurden zwei Beiboote zu Wasser gelassen und ruderten auf sie zu.
Steve zog sein Pferd herum und ritt zurück zu Tom und Joanna. „Sie kommen! Los, runter zum Wasser!“
Sie waren noch nicht ganz an dem langgezogenen Sandstrand unter ihnen angekommen, als auch schon die Boote an Land geholt wurden.
Als erster sprang Steves Steuermann, Liam O’Toole, aus dem vorderen Boot. „Schwierigkeiten, Captain?“
Steve nickte. „Schick zwei der Männer mit der Lady und dem Jungen zurück zum Schiff. Sag ihnen, sie sollen die Segel hissen, die Kanonen laden und warten. Der Rest kommt mit mir - und haltet eure Waffen bereit.“
Der Steuermann nickte und führte seine Anweisungen ohne zu zögern aus. Joanna stieg vom Pferd und folgte einem der Matrosen zu einem der Beiboote.
„Ich bleibe hier“, erklärte Tom und trat neben Steve.
„Tom!“ versuchte Joanna, ihn zurückzuhalten, und sah ihn ängstlich an.
Tom nickte ihr beruhigend zu, bevor er näher an Steve herantrat.
Steve drehte sich langsam zu ihm um. Seine Stimme klang gefährlich ruhig. „Ich bin es nicht gewohnt, einen Befehl zweimal geben zu müssen, Junge. Du gehst an Bord und kümmerst dich um die Lady.“
Joanna hielt den Atem an und hoffte, dass Tom nichts unüberlegtes tat.
Tom trat noch näher an Steve heran und sprach so leise, dass nur er ihn hören konnte. „Den Teufel werde ich tun, es sei denn, du gibst mir einen guten Grund.“
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aufsässig und stur bist?“ fragte Steve den jüngeren Mann ungeduldig.
„Ein oder zweimal“, antwortete Tom gleichgültig.
Steve konnte nicht anders, er bewunderte den Kerl. „Bei Montignys letztem Überfall habe ich fast meine halbe Mannschaft verloren. Und für die neuen Leute kann ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Also schluck deinen Stolz herunter und geh mit ihr, wenn dir wirklich etwas an ihrer Sicherheit liegt.“ Auch Steve hatte seine Stimme gesenkt. Jetzt wurde sie wieder laut genug, dass die nächsten Umstehenden sie gut hören konnten. „Und jetzt geh endlich an Bord, Junge, und lass Männer Männerarbeit erledigen!“
Die Matrosen in ihrer Nähe grinsten. Tom ballte die Hände zu Fäusten und sah mit rotem Kopf hinter Steve her.
„Wenn du klug bist, Junge, tust du, was der Captain dir gesagt hat. Ich habe ihn selten so wütend wie jetzt gesehen.“
Tom sah den Steuermann überrascht an. Er konnte kein Zeichen von Wut an Steve erkennen, genau genommen konnte er überhaupt keine Gefühlsregung erkennen.
„Bitte Tom, lass uns gehen!“ flehte Joanna und griff zaghaft nach seinem Arm.
Tom nickte und führte Joanna zu dem Boot, das sie zur Blizzard Wolf bringen würde. Er war kein Narr. Steves Warnung war deutlich genug gewesen.
Erleichtert stieg Joanna in das schwankende Beiboot und sah der Blizzard Wolf mit bangem Herzen entgegen. Sie war noch nie an Bord eines Schiffes gewesen, aber dieses hier sah anders aus, als alle, die sie bisher in Büchern gesehen hatte. Es war sehr schlank, und seine Masten schienen bis in den Himmel zu gehen, so hoch waren sie. Würde es dem aufziehenden Sturm überhaupt stand halten können? Schon jetzt schwankte es stark in der aufgewühlten See. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als es herauszufinden, denn dieses Schiff war ihre letzte Möglichkeit, Montigny zu entfliehen. Sie betete inständig, dass es ihr gelingen würde.
Die Matrosen, die nicht mit Joanna und Tom zur Blizzard Wolf zurückgekehrt waren, liefen mit Steve den Abhang hinauf. Es war die beste Stelle, die Steve entdecken konnte. Hier hatten sie die steilen Küstenfelsen im Rücken und einzelne große und kleine Felsen vor sich als Deckung. Ein paar alte Kiefern trotzten dem starken Wind mit krummem Rücken, aber ungebrochen. Ein paar mussten beim letzten Sturm endgültig niedergegangen sein. Sie lagen frisch umgeknickt zwischen den Steinen und boten Steve und seinen Männern zusätzlichen Schutz.
„Verteilt euch hinter den Felsen. Es wird erst geschossen, wenn ich das Zeichen dazu gebe, und ich will keine Gefangenen! Los!“
Die Männer nickten und verteilten sich.
„Sind Sie in Ordnung, Captain?“ fragte Liam und ließ sich neben Steve auf die Erde fallen.
„Es ging mir schon besser.“ Aber es war ihm auch schon schlechter gegangen.
Schweigend beobachteten sie die Umgebung. Einer der Männer hob kurz seine Hand und deutete nach vorn. Steve nickte verstehend und gab das Zeichen weiter. Die Verfolger kamen. Steve wartete, bis auch der letzte der vier Reiter in die Falle gelaufen war. Dann gab er das Zeichen, auf das seine Leute gewartet hatten.
Bevor Montignys Männer überhaupt begriffen hatten, was geschah, war es auch schon vorbei. Von unzähligen Kugeln getroffen, lagen sie am Boden. Ihre Pferde liefen wiehernd den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Wachsam ging Steve zwischen den Erschossenen umher. Einer von ihnen lebte noch, hatte jedoch eine schlimme Bauchwunde. Steve wusste, dass der Mann die nächste halbe Stunde nicht überleben würde. Mit einem einzelnen weiteren Schuss machte Steve dem Leid des Verletzten ein Ende. Dann plötzlich war es Steve, als hauche ihm jemand in den Nacken. Aber hinter ihm stand niemand. Mit der Luft, die er einatmete, breitete sich das Gefühl naher Gefahr in seinem Körper aus. Er reagierte sofort.
„Zurück in eure Deckung!“ brüllte er seine Männer an und warf sich seitlich zu Boden.
Keinen Atemzug später wühlte an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, eine Kugel die Erde auf.
Steve rollte weiter, bis er hinter einem Felsen eine notdürftige Deckung gefunden hatte. Die tödlichen Kugeln verfolgten ihn. Wer auch immer auf ihn schoss, war ein verdammt guter Schütze. Eine Kugel fuhr nah an seinem Kopf in den Stein und riss einen Regen von Splittern los. Einer traf Steve im Nacken und hinterließ eine brennende heiße Spur.
Weitere Schüsse fielen. Einer der Matrosen wurde tödlich getroffen und fiel zu Boden. Ein anderer versuchte seinen Standort zu wechseln und sackte ebenfalls getroffen zusammen. Eine Kugel steckte in seinem Oberschenkel, eine weitere fuhr nicht weit von ihm entfernt in den Boden. Steve sprang aus seiner Deckung und zog den Mann hinter einen verkrüppelten alten Baum. Auf eine solche Gelegenheit hatte der Schütze auf dem Hügel nur gewartet. Eine Kugel streifte Steve an der Seite. Einer der Matrosen zielte auf den Angreifer und gab Steve mit einer ganzen Salve von Schüssen Feuerschutz, bis er sich ebenfalls hinter dem knorrigen Baum in Sicherheit gebracht hatte. Dann fuhr eine Kugel nur knapp neben dem Seemann in den Boden und trieb ihn zurück in die karge Deckung eines Felsens. Lange würden sie sich nicht mehr halten können.
Montigny hatte seine Falle sorgfältig gewählt.
Plötzlich erscholl Donnergrollen und kurz darauf das Bersten von Gesteinsmassen. Die Kanonen der Blizzard Wolf hatten in den Kampf eingegriffen. Die Gewehrschüsse verstummten, ein gellender Schrei zerriss die Stille nach der Detonation. Die zweite Kanone wurde abgefeuert. Erde und Steine flogen krachend durch die Luft. Dann war es wieder ruhig.
Steve sah sich um. Einer seiner Männer war tot, er selbst und drei weitere Matrosen verletzt. Steve gab das Zeichen zum Rückzug. Er hielt dem Mann mit der Beinwunde die Hand hin und zog ihn hoch. Jede Deckung ausnutzend zogen sie sich zurück zum Strand und zu den Booten. Zwei der unverletzten Matrosen sicherten ihren Rückzug, während die anderen ihren verwundeten Kameraden halfen. Es fiel kein weiterer Schuss mehr, und doch wurde Steve das Gefühl nicht los, dass sie weiter beobachtet wurden. So schnell es ging ließen sie die Boote zu Wasser und ruderten zurück zur Blizzard Wolf.
Mühsam kletterte Steve schließlich die Strickleiter hoch an Bord und ergriff Toms ausgestreckte Hand.
„Montigny“, stieß Tom mit vor Abscheu verzerrtem Gesicht hervor. „Der Bastard hat seine eigenen Männer in den sicheren Tod geschickt, nur um euch eine Falle stellen zu können.“
„Habt ihr ihn erwischt?“
„Schwer zu sagen. Er war zu weit weg.“ Tom schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich nicht.“
Steve wandte sich mit grimmigem Gesicht an Liam. „Lass die Segel setzen.“
„Nach London?“
„Ja, und schick Jordan zu mir, sobald er sich um die Lady gekümmert hat.“
„Aye, Captain.“
Tom stellte sich Steve, der unter Deck gehen wollte, in den Weg und sah ihn ungläubig an. „Du läufst davon? Was ist, wenn er noch lebt? Wir können den Mistkerl nicht entkommen lassen!“
„Wir kriegen ihn schon. Aber nicht heute und nicht hier.“
Steve konnte sehen, dass Tom am liebsten aufbegehrt hätte, und atmete in Erwartung der kommenden Auseinandersetzung tief durch. Statt zu protestieren drehte Tom sich jedoch jäh um und ging mit einer wegwerfenden Handbewegung vorbei an Liam die Stufen zum Hüttendeck hinauf.
Steve ging in den Schlafzimmerteil seiner Doppelkabine, legte seine Waffen müde auf den Nachttisch und ließ sich schwer auf sein Bett fallen. Mit geschlossenen Augen atmete er tief durch. Jeder Zentimeter seines Körpers tat ihm weh. Dieses Mal hatte wirklich nicht viel gefehlt. Es wurde Zeit, dass er das Problem Montigny ein für alle mal löste. Während er auf den Schiffsarzt wartete, dachte er darüber nach, wie er Joannas Verbindung zu Montigny zu seinen Gunsten nutzen konnte. Nur flüchtig überlegte er, ob er sich mit ihr nicht ein weit größeres Problem aufhalsen würde.
Unwillig wischte er den Gedanken zur Seite, als die Tür geöffnet wurde und Jordan eintrat.
„Das wurde auch Zeit. Hat Liam Ihnen nicht gleich Bescheid gesagt?“
„Doch, das hat er. Leider war ich noch anderweitig beschäftigt.“
„Wie geht es ihr?“
Jordan fuhr sich durch die kurzen dunklen Haare. Sein ebenmäßiges helles Gesicht legte sich in sorgenvolle Falten. Er war etwa so alt wie Steve, doch seine Augen waren die eines alten Mannes. „Nicht gut.“ Jordan tränkte ein Tuch mit Alkohol und begann, die oberflächliche Schusswunde in Steves Seite zu versorgen. „Ich habe in meinem Leben schon unzählige Verletzte gesehen. Aber dieser Montigny muss eine wahre Bestie sein! Neben einigen frischen Peitschenstriemen hat sie unzählige Narben früherer Schläge. Außerdem ist sie deutlich unterernährt, ganz zu schweigen von der anderen Geschichte.“ Als er die Wunde gesäubert hatte, klebte er sie mit einem Pflaster zu und drehte Steves Gesicht zur Seite. Die Schwellungen konnten warten. Mit einem frischen Tuch und mehr Alkohol machte er sich daran, Steves aufgeplatzten Rücken zu säubern.
„Reden Sie nicht in Rätseln“, stieß Steve hervor, um sich von seinen Schmerzen abzulenken.
„Sie hat vor einigen Tagen ein Kind zur Welt gebracht.“ Jordan begann, eine kühle Salbe aufzutragen.
Steve sog hörbar die Luft ein. Wo war das Kind? Niemand hatte etwas von einem Kind gesagt. Hatte sie es einfach zurückgelassen?
„Tom sagt, es kam tot zur Welt, und Lady Joannas Zustand nach würde ich sagen, es war eine schwere Geburt. Sie hat Fieber und Bauchkrämpfe. Ich hoffe nur, Sie haben sie mir nicht zu spät gebracht.“
Steve stieß einen bösen Fluch aus. „Dann sehen Sie zu, dass Sie hier fertig werden, und gehen Sie zu ihr zurück.“
„Das werde ich schon, keine Sorge. Aber erst einmal muss ich mich wohl um Sie kümmern. Zum Glück ist nichts gebrochen, ein paar Ihrer Rippen sind angebrochen, die anderen geprellt, aber keine ist gebrochen.“
„Sind Sie sicher?“
„Ich flicke Sie lange genug zusammen, um den Unterschied erkennen zu können“, antwortete Jordan ruhig.
„Da bin ich ja erleichtert“, gab Steve trocken zurück.
Jordan beendete seine Arbeit schweigend und wusch sich dann die Hände.
„Fertig?“
Der Doktor nickte.
„Dann verschwinden Sie jetzt und sorgen Sie dafür, dass ich geweckt werde, wenn es dunkel wird. Ich habe ein Schiff zu befehlen.“
Jordan schüttelte den Kopf. „Ihre Rippen mögen nicht gebrochen sein, aber eine falsche Bewegung, und das kann sich schnell ändern. Sie haben zahlreiche Prellungen und Abschürfungen, eine wenn auch nicht lebensgefährliche Schussverletzung, können nur mit einem Auge sehen, und wenn Sie nicht aufpassen, wird sich Ihr Rücken entzünden. Sie gehören ins Bett! Liam kann das Schiff führen.“
„Kümmern Sie sich um Dinge, von denen Sie etwas verstehen“, fuhr Steve Jordan ungehalten an.
„Ganz wie Sie meinen.“ Der Arzt packte seine Sachen zusammen und warf Steve einen verständnislosen Blick zu. „Einen letzten gut gemeinten Rat nur. Passen Sie auf, dass jemand in der Nähe ist, dem Sie absolut vertrauen können, wenn Sie zusammenbrechen. Denn wenn sie so weitermachen, werden Sie zusammenbrechen.“
„Raus!“ fuhr Steve ihn gereizt an. Es fiel ihm immer schwerer, sich aufrecht zu halten.
Jordan verließ die Kajüte mit seiner Tasche und einem letzten warnenden Blick auf Steve. „Legen Sie sich hin, ehe sie umfallen.“
Mit letzter Kraft ging Steve die wenigen Schritte zur Tür und schob den Riegel vor. Endlich allein und in relativer Sicherheit tat er genau das. Er ließ er sich zurück auf seine Koje fallen und schloss erschöpft die Augen.