Читать книгу Biker Tales: Geliebte des Feindes - Sandra Binder - Страница 6
Prologue – Isa
ОглавлениеDer Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagt man. Ich habe diese Redewendung immer gehasst. Muss ich mich in eine Schublade zwängen lassen, nur weil meine Eltern oder Geschwister dort stecken? Darf, kann ich denn nicht selbst entscheiden, wer ich sein will?
Ich habe mein Leben lang darum gekämpft, als eigenständiges Individuum angesehen zu werden, aber diese Welt hat es mir nicht leicht gemacht. Für die Leute war ich niemals Isabella. Ich war nur die Tochter oder die Schwester von jemandem. Ein armes Mädchen, in den Augen der anderen. Eine schwache Frau, die mit dieser Verwandtschaft nur kriminell oder drogenabhängig werden könne.
Mein Vater war Carlos Ramirez, der bisher wohl berüchtigtste und gefürchtetste President des Los Bribones MC. In unserem Zuhause war er ein liebevoller Mann, der stets laut lachte; außerhalb dieser Wände war er bekannt für seine Grausamkeit, seinen Stolz und sein aufbrausendes Gemüt. Niemals verzieh er etwas, gab keine zweiten Chancen – und er schoss, bevor er fragte. Seinen Ruf pflegte er besser als sein Motorrad, denn jener war es, der ihm Respekt verschaffte. Mir hingegen bescherte er tiefste Einsamkeit.
Wo ich auch hinkam, wer meinen Namen hörte, der meinte über mich Bescheid zu wissen. An der Schule nannten sie Nando und mich ›die schwarze Brut‹. Nicht nur die Schüler, die Lehrer schürten ebenfalls Vorurteile gegen uns. Wann immer etwas geschah, von harmlosen Streichen über Prügeleien bis hin zu Drogenmissbrauch, es musste ein Ramirez dahinterstecken, denn wir waren die Gesetzlosen, das Böse.
Im Gegensatz zu mir wurde mein Bruder diesem Ruf gerecht. Er tat so ziemlich alles, was Gott verboten hatte, und interessierte sich nicht für die Meinungen ›normaler‹ Leute oder irgendwelche Konsequenzen. Er war schließlich Carlos Ramirez’ einziger Sohn, und damit war Rebellion seine Lebensaufgabe. Mit fünfzehn war Nando bereits der selbsterklärte König der High School, keiner legte sich mit ihm an. Schüler wie Lehrer hatten Angst vor ihm und dem Club und versuchten, Reibungspunkte mit unserer Familie möglichst zu vermeiden.
Da mein Bruder sechs Jahre älter war als ich, hatte er die Weichen für meinen Ruf bereits gelegt, da war ich noch auf der Elementary. Ich hatte keine Chance auf eine weiße Weste, so sehr ich mich bemühte.
Ich schrieb gute Noten, blieb stets freundlich und hilfsbereit, egal wie misstrauisch mir jemand begegnete, und ich engagierte mich bei verschiedenen gemeinnützigen Organisationen. Zwar sprach es keiner aus, aber ich glaube, meine Lehrer und Mitschüler vertrauten mir aufgrund meines Verhaltens noch weniger als Nando. Denn ich passte nicht in das dämonische Bild, das sie sich von den Ramirez’ ausgemalt hatten, und deshalb musste etwas an mir falsch sein. Die meisten Kinder wollten schlichtweg nichts mit mir zu tun haben, und wenn ich mich doch einmal mit einem Mädchen anfreundete, verboten deren Eltern früher oder später den Kontakt zu mir.
Ich verstand ihr Verhalten, aber ich akzeptierte es nicht. Daher kämpfte ich eisern weiter für einen besseren Ruf, auch wenn ich wenig Erfolg verzeichnete. Ich wollte doch nur ich sein – unabhängig von meinem Familiennamen.
Ich war sechzehn, da starb mein Vater. Bis heute weiß ich nicht genau, wie es passiert ist, nur, dass er zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis war und es eine Art Racheaktion gewesen sein musste. Jedenfalls gestattete man uns zur Beerdigung keinen offenen Sarg, was genug über seinen Tod aussagte, wie ich finde. Ich war wütend und traurig über den Mord an meinem Vater, den ich trotz allem geliebt und respektiert hatte, aber ich muss gestehen, dass es mich nicht überraschte. Und das wiederum schockierte mich weitaus mehr als sein Tod selbst.
An Carlos Ramirez’ Grab beschloss ich, die Welt der Bribones niemals zu betreten. Ich schwor mir, meinen Vater als den Mann im Gedächtnis zu behalten, der mir an meinem Kinderbett vorgesungen, der mir Spielzeug von seinen Ausfahrten mitgebracht hatte und der mit mir zur Sonntagsmesse gegangen war. Den anderen Mann, den ich aus den Erzählungen fremder Leute kannte, den wollte ich vergessen.
Doch während ich am Todestag meines Vaters dessen Welt abschwor, entschied sich Nando dafür, in seine Fußstapfen zu treten.
Ich liebte meinen großen Bruder mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt, auch wenn ich seine Entscheidungen selten verstand. Nachdem er jedoch zum President des Accaciafield-Chapters gewählt worden war, begann ich, einen Teil von ihm zu verabscheuen. Ich fühlte mich verraten, allein gelassen mit meinem Zorn auf dieses System, und ich war mir sicher, dass sich die Geschichte unseres Vaters mit Nando wiederholen würde. Allerdings liebte ich ihn zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren, daher ignorierte ich lediglich den Teil von ihm, der mir Angst machte. Ich sah Nando als meinen großen Bruder an, der für mich da war, mich beschützte und dem ich meine Sorgen anvertrauen konnte. Den Kerl mit der Kutte und der Harley kannte ich nicht, und ich wollte ihn auch nicht kennenlernen.
Von da an ging ich nicht mehr ins Clubhaus, mied alle Bribon-Partys und brach die Kontakte zu den Membern und ihren Familienangehörigen ab. Doch obwohl ich mich derart zurückzog und mein Vater fort war, konnte ich noch immer nicht Isabella sein. Ich war jetzt Fernando Ramirez’ Schwester. ›Das Böse‹ war lediglich eine Generation nach vorn gerückt und ich war ein Teil davon, egal, wie sehr ich mich dagegen wehrte.
Als wäre es nicht schon schwer genug, ein Teenager zu sein: Nando, der Club und wohl hauptsächlich meine eigenen Ängste machten mir diese Jahre zu einer einsamen Hölle. Nach wie vor fand ich keine Freunde außerhalb des Clubs, und einen Jungen kennenzulernen war schier unmöglich. Nicht nur, weil sich die anständigen Kerle von mir fernhielten, Nando hatte auch ein Auge auf jeden, der nur in meine Richtung schielte.
Ein einziges Mal hatte ich einen festen Freund: Nate. Wir waren achtzehn und so verliebt, wie zwei Teenager nur sein konnten. Er war ein lieber Kerl, hochintelligent, und wenn er lächelte, zogen mehrere Schwärme Schmetterlinge durch meinen Bauch. Nate war bei der Schülerzeitung, er war einer der Besten unseres Jahrgangs und kam aus einer angesehenen Familie. Er wollte Journalist werden und ich war sicher, dass er das Zeug dazu hatte.
Wir hielten unsere Beziehung geheim, denn Nates Eltern hätten mich niemals akzeptiert. Außerdem fürchtete sich mein Freund gehörig vor meinem Bruder.
So gerne hätte ich aller Welt erzählt, dass Nate mein Date für den Abschlussball war. Ich hätte mir gewünscht, dass er mich zu Hause abholte, mir ein Anstecksträußchen überreichte und meine Mutter ein Foto von uns beiden machte, sodass ich mich später immer daran erinnern konnte. Es waren Kleinigkeiten, die für andere völlig normal waren, für mich jedoch unerreichbar schienen. Stattdessen belog ich Nando, erzählte ihm, dass ich mit meiner Freundin Shelly zum Ball ginge und auch bei ihr übernachten würde. Shelly, die nicht wirklich meine Freundin war, hatte ich mit ein paar Dollar bestechen können, für mich zu lügen, während ich ein Hotelzimmer und Champagner für Nate und mich organisierte. Wenn ich schon nicht mein Traumdate haben konnte, wollte ich wenigstens eine traumhafte erste Nacht mit meinem Freund verbringen.
Ich überraschte Nate mit meinem Vorhaben, denn ich wusste, er würde nicht zustimmen, wenn er den Plan kannte. Er hatte zu große Angst vor Konsequenzen. Also täuschte ich Bauchschmerzen vor, um ihn vom Ball zu lotsen, und bat ihn erst im Auto, zum Hotel zu fahren. Er ließ sich schließlich überreden, und wir verbrachten eine wunderschöne Zeit in diesem Hotelzimmer – bis ich alles vermasselte.
Wir lagen in einem großen, weichen Bett, die Laken zerwühlt, die Wangen erhitzt, und wir hielten uns aneinander fest, als könnten wir ohne den anderen nicht atmen. Nates Berührungen hallten noch in mir nach und seine leidenschaftlichen Küsse brannten auf meinen Lippen. Was wir eben miteinander geteilt hatten, war perfekt gewesen und ich war mir sicher, nie im Leben so glücklich gewesen zu sein. Ich wollte, dass dieser Moment nicht endete.
Nate strich eine Haarsträhne über meine Schulter und sah mich dabei so liebevoll an, dass mein gesamter Körper unter seinem Blick erschauerte. »Ti amo«, raunte er und brachte mich damit zum Kichern.
»Das ist italienisch, querido.«
Er grinste. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?« Als ich nickte, küsste er mich sanft auf die Lippen. »Dann spielt die Sprache keine Rolle.«
Ich ließ mich in seine Umarmung sinken und holte Luft, um ihm ebenfalls meine Liebe zu versichern, da hörte ich plötzlich ein Geräusch. Und erstarrte. Es war das Röhren eines Motorrads, das im Bruchteil einer Sekunde eine Kette von Gedanken in Bewegung setzte, die mir letztlich den Fehler in meinem gut durchdachten Plan aufzeigte.
Und dieser Fehler hieß Miguel.
»Mierda«, stieß ich aus und legte eine Hand auf mein wild klopfendes Herz.
Ich hatte Miguel vergessen. Den kleinen Bruder eines Members der Bribones. Wir waren im gleichen Jahrgang und er deshalb ebenfalls auf dem Ball. Sicherlich hatte er längst erfahren, dass ich mit einem Kerl verschwunden war und seinen Bruder verständigt. Oder schlimmer noch: Er hatte meinen Bruder verständigt!
Ich sah es schon vor meinem inneren Auge, wie Nando mit seinen Männern hier hereinstürmte, den armen Nate am Kragen packte und ... Welcher Kragen? Oh mein Gott, er wird ihn umbringen, ging mir durch den Kopf.
Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich auf. Ich sammelte Nates Kleider vom Boden auf und warf sie ihm zu, ehe ich meine Unterwäsche anzog.
»Was ... was ist denn los? Was machst du da?«
Ich sah Nate nicht an, sondern wedelte nur mit einer Hand in seine Richtung. »Zieh dich an. Vamos!«
Hastig stieg ich in mein Kleid, dann eilte ich ins Bad und versuchte, meine Haare und das Make-up wiederherzurichten. Im Spiegel sah ich, dass Nate kreidebleich geworden war. Wie eingefroren stand er hinter mir und beobachtete mich. Da wurde mir erst klar, wie irrsinnig ich mich verhielt.
Ich atmete durch, zwang mich zur Ruhe und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. Also ging ich langsam zum Fenster und schaute auf den Parkplatz hinunter, wo ich eine einzelne Rennmaschine sehen konnte. Keine Harleys, keine Outlaws, nur ein Freebiker. Ein Stein fiel mir vom Herzen.
Ich presste die Luft mit einem Schwall aus meinen Lungen, tappte rückwärts zum Bett und setzte mich. »Es tut mir leid, ich habe völlig überreagiert.« Mit einem entschuldigenden Lächeln schaute ich zu ihm auf. »Ich wollte nicht ... Sollen wir uns wieder hinlegen?«
Nate schüttelte mit großen Augen den Kopf. »Was machen wir hier nur, Isa?«
»Was meinst du?«
»Wie soll das jemals funktionieren?« Er verzog gequält das Gesicht. »Willst du für immer so leben? Wie lange können wir uns verstecken? Und sollen wir jedes Mal fast einen Herzinfarkt kriegen, wenn wir ein Motorrad hören?«
Ich machte den Mund auf, wusste allerdings nicht, was ich dazu sagen sollte. Mein Herz wurde schwer, denn ich ahnte, was gleich folgen würde.
»Ich kann das nicht.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Du weißt, ich liebe dich, aber das hier ... Wir haben keine Zukunft.«
»Wie kannst du das sagen?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Hast du vor, deinem Bruder jemals von mir zu erzählen?«
Ich zielte mit dem Finger auf ihn. »Du wolltest das doch nicht!«
»Und dir hat das wunderbar in den Kram gepasst oder irre ich mich?«
Nein, das tat er nicht. Ich wusste, dass er recht hatte, dios mio, ich hatte die ganze Zeit über gewusst, dass dieses Gespräch früher oder später kommen würde. Dennoch traf es mich unerwartet, tief und schmerzhaft. Die hübsche kleine Blase, in die ich unsere Liebe eingeschlossen hatte, war zerplatzt.
Er setzte sich neben mich und nahm meine Hand in seine. »Hör mal, ich gehe bald aufs College, ich werde Journalist und du ...«
»Ich bleibe hier und werde immer eine Ramirez sein.«
Er sagte nichts dazu, aber ich konnte ihm ansehen, dass er mir zustimmte. Wenn ich nicht mit meiner Familie brach, würde es jedes Mal auf diese Art und Weise für mich ablaufen.
»Ich kann nicht einfach gehen«, verteidigte ich mich, obwohl ich das nicht musste. »Ich habe eine kranke Mutter und einen kleinen Neffen, um die ich mich kümmern muss. Seine Familie lässt man nicht im Stich. Mein Bruder ist nicht frei von Sünde, aber er ist mein Bruder, und ich liebe ihn.«
Er lächelte mich verständnisvoll und zugleich traurig an. »Ich hoffe, du findest irgendwann dein Glück, Isa.«
Ich streichelte durch sein blondes Haar, prägte mir die Stellen seiner Wangen ein, in denen sich Grübchen formten, wenn er lächelte, und die Form seiner bernsteinfarbenen Augen. Eine Sekunde lang dachte ich darüber nach, wie es wäre, meine Familie zu verlassen und mit ihm zu gehen. Aber so sehr ich mich danach sehnte, nur Isabella zu sein, ich brauchte es auch, eine Tochter, eine Schwester, eine Tante zu sein. Ich konnte meine Familie niemals verlassen, das brachte ich nicht über mich.
Nate war meine erste große Liebe. Und ich fürchtete in diesem Moment, dass er meine einzige bleiben würden.
Wir hielten uns ein letztes Mal in den Armen, ganz fest. Danach fuhr er mich zur Bushaltestelle und ich nahm den 112er nach Hause. Während der gesamten Fahrt drängte ich meine Tränen zurück, wie auch bei der Befragung durch Nando. Ich lächelte, erzählte ihm, dass ich einen schönen Abend gehabt hätte, Shelly aber leider Bauchschmerzen bekommen hätte und allein nach Hause gegangen war.
Als ich endlich im Bett lag, weinte ich lautlos die ganze Nacht lang. Mir war an diesem Abend klar geworden, dass ich mich längst entschieden hatte. Dafür, kein eigenes Leben zu haben und nicht Isabella Ramirez zu sein. Ich war Carlos Ramirez’ Tochter und Fernando Ramirez’ Schwester. Und das würde ich immer bleiben.