Читать книгу Biker Tales: Verloren in der Finsternis - Sandra Binder - Страница 6

Prologue – Scar

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Es ist ein Trugschluss, wenn du glaubst, du könntest dein Leben an einem Ort beenden und es an einem anderen einfach wiederaufbauen. Für eine kurze Weile mag das funktionieren, du kannst fortgehen, Kontakte abbrechen, Erinnerungen weit wegschieben – vergessen ist dadurch allerdings nichts.

Die Schatten der Vergangenheit werden niemals gänzlich verblassen. Sie sind wie Geister, die um dich herumschwirren und ständig in dein Ohr säuseln. Manchmal leise, fast unhörbar, doch dann wieder laut und kaum zu ertragen. Du wirst sie nicht los. Nicht in diesem Leben. Denn was geschehen ist, ist nun einmal geschehen – du kannst kämpfen, diskutieren oder betteln, du wirst die Vergangenheit niemals ändern können.

Ich habe versucht, diese Geister zu ignorieren, habe ernsthaft geglaubt, ich könnte untertauchen, vergessen und ein anderes Leben führen, ein neuer Mensch werden ... Dabei haben sie mich schon drei Mal gefunden. Drei Mal musste ich mein Leben bereits abbrechen und woanders noch einmal neu beginnen. Dennoch hatte ich im Laufe des vergangenen Jahres Hoffnung geschöpft. Der Grund dafür ist so simpel wie gefährlich: Ich habe Gefühle zugelassen.

Niemals wollte ich einem Motorradclub beitreten. Ich fuhr schon als Teenager gerne, zwar eher die Rennmaschinen als die gemütlichen Harleys, aber ich stand immer auf Zweiräder. Dennoch hatte ich nie daran gedacht, mich irgendwelchen Rockern anzuschließen. Bis dieser massige Ire mit der großen Klappe und einer demolierten Harley vor mir stand.

»Mein Bro killt mich, wenn er erfährt, dass ich seine Maschine zu Schrott gefahren habe«, meinte er damals. »Kriegst du das hin, bis er nächste Woche aus dem Knast zurückkommt?«

Ich schaute mir das verschrammte Elend an und schüttelte mitfühlend den Kopf. Ich fühlte mit der Harley, nicht mit dem Iren, um das einmal klarzustellen. Was hatte er dem armen Bike nur angetan?

Pat selbst stand mit einer Wunde am Arm und einem gebrochenen Finger vor mir, blutete den Werkstattboden voll und grinste. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, wie der Typ es in dieser Situation schaffte, so breit zu grinsen. Heute, nachdem ich Pat kenne, wundere ich mich nicht mehr. Diesem verdammten Iren scheint immerzu die Sonne aus dem Arsch!

»Wieso hast du das Bike überhaupt genommen?«, hakte ich nach.

Er zuckte mit den Schultern. »Bei meinem war der Sprit leer.«

Ich nickte. Was hätte ich dazu sagen sollen? War immerhin ein nachvollziehbarer Grund. Also machte ich mich an die Arbeit.

Ich brauchte drei Tage, um das Bike zu reparieren, da ich auf einige Ersatzteile warten musste. Aber ich bekam den Schrotthaufen wieder hin. Das war es, was ich konnte und gern machte: kaputte Fahrzeuge herrichten. Es war ein friedlicher Job, ich wusste stets, was zu tun war, und so brachte ich in meinem Leben wenigstens eine Sache zum Laufen, machte etwas heil, statt es zu zerstören.

Ich rief also den grinsenden Iren an, damit er die Harley wieder abholte. Dass Pat keine Kohle hatte, war mir auf den ersten Blick aufgefallen, daher berechnete ich ihm meine Stunden nicht. Keine Ahnung wieso, schätze, der Kerl war mir auf Anhieb sympathisch, trotz des blöden Grinsens. Oder vielleicht deshalb. Weil er das konnte, was ich lange nicht mehr geschafft hatte: Lachen, obwohl es keinen Grund dafür gab.

Ob er im Gegenzug etwas für mich tun könne, fragte Pat noch, aber ich winkte ab. Was wollte ein Outlaw schon für mich tun, dachte ich.

Zwei Tage später stand er wieder in der Werkstatt.

»In dem Laden, in den ich sonst immer gehe, Don’s Werkstatt, hat sich der beste Mechaniker beide Hände an einem Auspuffrohr verbrannt«, meinte er. »Ich hab gesagt, ich kenn da einen, der für ihn einspringen kann. Ist sicher besser bezahlt als in dem Loch hier. Du lässt mich doch nicht hängen, oder?«

»Wie verbrennt man sich beide Hände an einem Auspuffrohr?«, wollte ich wissen.

Der Ire zuckte mit den Schultern. »Er ging Don auf’n Keks.«

Ich nickte. Auch das schien mir ein nachvollziehbarer Grund zu sein.

»Kannst nach der Arbeit im Clubhaus vorbeikommen«, schlug Pat vor. »Ich geb einen Whisky aus.«

Ich stimmte zu, und kurz darauf lernte ich die Advocates kennen.

Nein, ich wollte niemals einem Motorradclub beitreten, aber als ich das Clubhaus betrat und sah, was für eine eigene kleine Welt das war, änderte ich meine Meinung. Es war der perfekte Ort, um unterzutauchen. Sicher und unauffällig. Ich bat darum, mich als Prospect beweisen zu dürfen, obwohl ich nicht vorhatte, lange genug zu bleiben, um ein richtiger Member zu werden. Ich wollte mich lediglich eine Weile verstecken und dann weiterziehen, so wie ich es immer getan hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht damit gerechnet, auf die Weise aufgenommen zu werden, wie sie es taten. Pat wurde zu einem guten Freund und Nachbarn, Don war nicht nur mein Chef, für ihn wurde ich zu einem Teil seiner Familie, und die Advocates, sie alle waren Brüder verschiedener Mütter. Einen solch unzerstörbaren Zusammenhalt kannte ich bisher nur aus manchen Heimen, in denen ich aufgewachsen war. Man achtete aufeinander, scheißegal, wer man war oder woher man kam. Die Vergangenheit zählte nicht – keiner fragte nach oder setzte einen unter Druck. Man wurde akzeptiert, wie man war.

Nach all der Scheiße, durch die ich gewatet war, nach all dem Hass, dem Zorn und der Gewalt, die mich zermürbt hatten, war ich endlich an einem Ort angekommen, an dem ich mich nicht nur sicher, sondern aufgehoben fühlte. Ich erlaubte mir, mich zurückzulehnen, Erinnerungen zu verdrängen und Menschen zu mögen. So lange hatte ich mir verboten, mich an jemanden zu gewöhnen – reiner Selbstschutz, aus Angst, diesen jemand nicht mehr verlassen zu können. Aber hier und jetzt konnte ich mich nicht länger dagegen wehren, wollte es nicht einmal mehr. Dafür machten sie es mir zu schwer. Nicht nur meine Brüder, vor allem dieser eine Mensch klopfte mich derart weich, dass ich nicht anders konnte als aufzugeben. Nach meinem ewigen Gang in völliger Dunkelheit war Emma das Licht, das mir einen Weg in eine hellere, hoffnungsvolle Zukunft wies.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor ein solches Lachen gehört zu haben. So warm und ehrlich, dass es Eisblöcke zum Schmelzen brachte. Wer ihre Nähe nicht genoss, musste aus Stein sein.

Doch ich wusste, dass ich ihr niemals das Gleiche geben konnte wie sie mir. Keine Wärme, und schon gar keine Ehrlichkeit. Ich liebte es, wie sie mich ansah, ich hätte es nicht ertragen, wie sich das ändern würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Deshalb hielt ich die sichere Distanz, so leid es mir tat, ihr nicht sagen zu dürfen, wie sehr ich sie mochte. Noch schwerer fiel es mir, nachdem ich ihre Familie kennengelernt hatte. Emma war eine Frau, die es wert war, dass man ihr jeden Tag sagte und zeigte, wie sehr sie geliebt wurde. Das hatte sie verdient. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als der Mann sein zu dürfen, der diesen Job übernahm, aber ich konnte nicht. Bis sie mich küsste und damit die kläglichen Reste der Mauern einriss, die ich um mein Herz herum erbaut hatte.

Ich redete mir ein, dass es vielleicht doch funktionieren könnte. Emma interessierte sich nicht für meine Vergangenheit, und ich war nun schon derart lange unentdeckt geblieben, vielleicht interessierte sich meine Vergangenheit ja auch nicht mehr für mich. Ich bildete mir ein, dieses Mal tatsächlich neu anfangen, mich auf den Club und die Frau einlassen zu können, an die ich mein Herz verloren hatte. Ich wollte endlich wieder leben. Rückblickend betrachtet eine armselige Entschuldigung dafür, unvorsichtig geworden zu sein.

Ich hatte mich zu wohl gefühlt, mir erlaubt zu lächeln, hatte nicht aufgepasst – und die Geister meiner Vergangenheit fanden mich erneut.

Keine Ahnung, ob sie den Schriftzug auf meinem Rücken hatten lesen können oder ob sie glaubten, ich hielte mich in Kalifornien nur auf, aber sie wussten jetzt, dass ich einem Motorradclub beigetreten war. Mit meiner Leichtfertigkeit hatte ich den gesamten Club in Gefahr gebracht. Wenn ich meinen Patch also nicht gleich wieder abgeben wollte, durfte ich ihnen das nicht erzählen. Die Vergangenheit zählte bei den Advocates nicht, das mochte sein, doch die Vergangenheit war nicht vergangen, wenn sie mit halbautomatischen Waffen in Wolfville anrückte.

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich umzuhören und zu hoffen, dass ich Antonio und seine Gang nicht zu uns gelockt hatte. Aber ich konnte das Risiko keinesfalls eingehen, dass sie Emma erwischten, deshalb musste sie gehen.

Ich war nie besonders gut darin gewesen, jemanden zu beschützen. Bisher hatte es auch niemanden gegeben, der es wert gewesen wäre. Ich war es nicht gewohnt, einen Menschen so sehr zu lieben, dass ich denjenigen über mich stellte. Ich hoffte inständig, dass mir Emma eines Tages verzeihen würde, doch lieber sollte sie mich auf ewig hassen, als in Antonios Fadenkreuz zu geraten. Vielleicht war es ohnehin besser für sie, wenn sie mich für ein gefühlloses Arschloch hielt. Es war nicht gut für sie, mich zu lieben, so sehr ich mir wünschte, wir könnten zusammen sein.

Aber all das spielte zu diesem Zeitpunkt schlichtweg keine Rolle. Wichtig war nur, dass sie so weit wie möglich von mir weg war. Denn, scheiße, ich würde sterben, wenn ihr meinetwegen etwas geschah.

Biker Tales: Verloren in der Finsternis

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