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Chapter 12 – No More Lies

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Seit Stunden wälzte sich Bea im Bett. Sie hatte die gesamte letzte Nacht nicht geschlafen und war hundemüde, aber ihr aufgewühlter Geist ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Ununterbrochen drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Sie dachte an Charlie, Rosemarys Kapitulation, Emmas harte Worte und Mayas Zustimmung, außerdem an ihren Einbruch in Sanchez’ Büro, die Nacht in der Zelle und vor allem an den Abend davor.

Alles war so perfekt gewesen, bevor die Polizei das Clubhaus gestürmt hatte. Zum ersten Mal hatte Bea das Gefühl gehabt, einen Platz für sich gefunden zu haben. Einen Ort, an dem sie – sie selbst – akzeptiert wurde. Vielleicht war es auch das erste Mal in ihrem Leben, dass Bea sich selbst akzeptiert hatte.

Im Grunde durfte sie Charlie und dem Club keine Vorwürfe machen. Sie hatte sich allein zuzuschreiben, was geschehen war. Immerhin hatte ihr Freund sie nicht mit vorgehaltener Pistole gezwungen, die Adresse von JJs Freundin zu beschaffen. Sie hatte es freiwillig getan. Sie hatte zu jeder Zeit gewusst, was sie tat. Und sie hatte vor allem gewusst, warum sie es tat. Das war es, was ihr in Wirklichkeit eine Mordsangst einjagte.

Es machte ihr Angst, wie gleichgültig es ihr war, verhaftet worden zu sein. Es machte ihr Angst, wie gerecht sie es fand, dass Peters für seine große Klappe Prügel bezogen hatte. Und es machte ihr Angst, dass sie insgeheim fest daran glaubte, das Richtige getan zu haben. Die Frau, die sie war, die machte ihr Angst.

Das war nun der Moment, in dem sie bisher jedes Mal die Flucht ergriffen hatte. Sie war vor sich selbst davongelaufen und hatte von vorne angefangen, unerkannt, anstatt sich ihrer dunklen Seite zu stellen. Das war wahre Schwäche. Wenn sie eine so starke Frau wäre, wie sie stets behauptete, hätte sie nicht versucht, diesen Teil von sich zu unterdrücken. Sie hätte gelernt, ihn zu beherrschen.

Zumal ein Neuanfang ohnehin niemals ein tatsächlicher Neuanfang war. Schließlich ließ sich das Leben nicht zurückspülen. Bea konnte sich zwar einen anderen Wohnort, einen anderen Job und einen anderen Mann suchen, aber sie war dieselbe alte Bea, die sich verleugnete. Wie seltsam, dass ihr das erst jetzt so richtig klar wurde – obwohl Charlie ihr das bereits mehrmals gesagt hatte.

Sie warf sich erneut im Bett herum, strich einige Haarsträhnen aus ihrem schweißnassen Gesicht und warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war zwei Uhr morgens, und ihr Herz schrie verzweifelt nach Charlie.

Er war immer der Mann an ihrer Seite gewesen, selbst in den Zeiten, in denen sie ihn aus ihren Gedanken verbannt hatte. Immerzu war er der Maßstab, mit dem sie unterbewusst alle Männer verglich, niemals konnte ein anderer die geringste Chance gegen ihn haben. So oft und so hartnäckig sie auch versuchte, es zu leugnen. Wenn sie mit einem Mann glücklich werden konnte, dann nur mit ihm.

Dazu musste sie sich jedoch endlich der Bea stellen, vor der sie sich fürchtete. Sie musste die dunkelsten Tiefen ihres Herzens kennenlernen und stark genug sein, um nicht in ihnen zu versinken. Denn wie Maya sagte, war sie selbst für ihr Handeln verantwortlich. Nicht Charlie, nicht der Club, nicht ihre Vergangenheit. Sie allein.

Doch wenn sie sich endgültig für ein Leben an seiner Seite entscheiden sollte, dann musste er sich ihr unbedingt öffnen. Keine vagen Andeutungen mehr, keine Beschönigungen und Vorträge über Clubangelegenheiten – sie brauchte die reine Wahrheit. Sie musste ihm vertrauen können, und er ihr. Sie mussten alles miteinander teilen, so wie früher.

Wie vom Blitz getroffen schoss sie hoch, sprang aus dem Bett und stürmte ins Badezimmer.

Sie wollte sofort zu ihm. Mit ihm reden, sich entschuldigen, ihm zuhören, die Dinge zwischen ihnen klären. Sie hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden, wenn sie ihn nicht gleich in die Arme schließen konnte.

Nachdem sie sich kurz gewaschen hatte, zog sie das erstbeste Shirt und eine Jogginghose über, es war ihr egal. Hauptsache, sie wäre so schnell wie möglich bei ihm. Als sie die Treppe hinunterschlich, hörte sie ein lautes Knattern, das vor ihrem Haus erstarb, und ihre Knie wurden augenblicklich weich. Konnte es sein, dass er im selben Moment den gleichen Gedanken gehabt hatte?

Sie lief schneller, riss die Tür auf und machte einen Schritt auf Charlie zu, der eben die Veranda betrat. Kurzzeitig hörte ihr Herz auf zu schlagen.

»Großer Gott«, hauchte sie und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen die Blutflecke auf seinem Shirt und seiner Hose. »Was ist passiert?«

»Ohne dich bin ich nur noch Blaze.« Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstand. In seinem silbergrauen Blick lag eine Hoffnungslosigkeit, die ihr das Herz bluten ließ. »Bitte lass mich weiterhin Charlie für dich bleiben.«

Sie dachte nicht einen Moment nach, sondern schlang ohne zu zögern die Arme um seinen Nacken, zog ihn an sich und küsste ihn auf die Lippen. Es war das Einzige, das sich richtig anfühlte. Eine Welle der Erleichterung schwappte über sie hinweg, als sie seine großen Hände auf ihrem Rücken spürte.

Das Blut an seiner Kleidung war ihr plötzlich egal, denn es war nicht seins. Es war ihr gleichgültig, wo er herkam und was er getan hatte, wichtig war lediglich, dass sie einander festhielten. Er brauchte sie genauso sehr wie sie ihn, das erkannte sie in diesem Moment deutlich.

Charlie hielt sie so fest an sich gedrückt, dass Bea kaum noch atmen konnte und seinen Bewegungen automatisch folgte. Ohne in seinem tiefen Kuss innezuhalten, drängte er sie gegen den Türrahmen. Sein herber Duft nach Leder, Whisky und einfach ihm drang in ihre Lungen und ließ Bea wohlig seufzen. Wärme breitete sich von ihrer Mitte in ihrem gesamten Körper aus, und ihre Haut prickelte.

Sanft drückte sie ihn von sich und schaute in seine glühenden Augen, die halb unter seinen Lidern versanken. Sie nahm ihn an der Hand, führte ihn ins Haus, in den ersten Stock und ins Badezimmer. Sie wollte ihn von dem Blut befreien, dass er in seinem Zorn vergossen hatte.

Langsam schob sie die Lederkutte von seinen Schultern, löste den Pistolengurt von seinem Oberkörper und legte beides vorsichtig auf den Toilettensitz. Dann griff sie nach dem Saum seines weißen Shirts und zog es ihm über den Kopf. Sie hatte bereits gespürt, dass er sich anders anfühlte, jetzt erkannte sie, warum: Er trug eine kugelsichere Weste.

Fragend blickte sie zu ihm auf, und ihr Herz rumpelte in ihrer Brust.

»Ich weiß, diese Dinge erschrecken dich.« Er nahm ihre Hand und küsste sanft ihre Knöchel. »Aber es gibt gute Gründe, weshalb ich tue, was ich tue, glaub mir. Du musst sie erfahren, um …«

»… dich verstehen zu können, ja.« Sie schaute in seine Augen, als sie ihm die Weste ablegte. »Und um mich selbst verstehen zu können.«

»Es tut mir leid, ich hätte dich nicht derart im Dunkeln lassen dürfen. Du konntest dich dadurch nur belogen und verraten fühlen.«

»Du hattest kaum eine andere Wahl«, räumte sie ein und fuhr mit den Fingern über die zwei dunklen Blutergüsse auf seiner Haut, die sich violett und grün verfärbten. Einer saß unter seiner Brust, direkt unter seinem Herzen, der zweite auf seinem Bauch. »Ich bin vor jeder unangenehmen Wahrheit davongelaufen, statt die Hintergründe zu erforschen. Ich stecke stur in einer Welt, die nicht meine ist.«

Sie nahm das Handtuch, das neben dem Waschbecken hing, hielt es unter den Wasserhahn und begann damit, sein Gesicht und seine Hände sorgfältig vom Blut zu befreien. Irgendein Arschloch hatte auf ihren Mann geschossen, ging ihr durch den Kopf. Hätte er keine Weste getragen, wäre er jetzt tot.

Bea bemerkte, wie sehr ihre Finger bebten und Hitze in ihren Kopf schoss. Das war nicht nur die nachträgliche Sorge um Charlie, sondern eine glühende Wut auf jeden, der ihn verletzen wollte. Das hatte sie noch nie ertragen, und noch heute würde sie ihn am liebsten sofort rächen.

»Lass mich bitte nicht mehr außen vor«, bat sie. »Ich will für dich da sein.«

Er hielt ihre Hand fest, nahm ihr das Handtuch ab und warf es ins Waschbecken. »Dann stoß mich nicht bei jeder Gelegenheit weg.«

»Lass es uns besser machen. Wir müssen einander vertrauen.«

Sie nickten sich zu, als besiegelten sie stumm ihre Vereinbarung. Dann glitt sein Blick von ihrem Gesicht zu dem dünnen Shirt, das im grellen Badezimmerlicht durchsichtig war. Urplötzlich veränderte sich seine Miene, und glühendes Verlangen flammte in seinen Augen auf.

Bea hatte kaum die Arme gehoben, da zog Charlie ihr bereits das Shirt aus. Dass sie in der Eile keinen BH angezogen hatte, schien ihm zu gefallen, dem verschleierten Blick und seinem Lächeln nach zu urteilen.

Mit einer Hand fuhr er über ihre Taille bis zur Brust und hinterließ eine kribbelnde Gänsehaut überall dort, wo er sie berührte. Mit einem leisen Brummen ging er in die Knie, nahm eine ihrer Brustwarzen zwischen die Lippen und saugte sanft daran. Bea spürte den Nachhall bis in ihr tiefstes Inneres. Seufzend lehnte sie sich ans Waschbecken und hielt sich am Porzellan fest, damit sie nicht kraftlos zu Boden sank.

Ja, er machte sie schwach. Aber es war eine Schwäche, die sie nur allzu gern genoss.

Er küsste sich über ihre Rippen, ihren Bauch nach unten, griff in den Bund ihrer Jogginghose und zog das überflüssige Kleidungsstück herunter. Grinsend schaute er zu ihr auf, und sein Blick fragte ganz offensichtlich, ob sie genau das im Sinn gehabt hatte, als sie sich dafür entschieden hatte, keine Unterwäsche anzuziehen. Sie zwinkerte ihm zu, er richtete sich wieder auf und hob sie am Hintern hoch. Wie aus alter Gewohnheit schlang sie die Beine um seine Hüften.

Er schloss sie fest in die Arme, damit sie nicht abrutschte, und trug sie nach nebenan ins Schlafzimmer, wo er sie behutsam auf dem Bett ablegte und sie so leidenschaftlich küsste, dass sie lustvoll aufstöhnte. Sanft wanderten ihre Hände über die ebenmäßige Haut an seinem Rücken, ihre Finger fuhren über seine angespannten Muskeln, und ihre Zunge gehorchte seinem Takt. Er war ein meisterhafter Küsser, von dem sie sich gerne fordern ließ.

Als sich seine Lippen von ihr lösten, pochte das Blut verlangend unter ihrer Haut. Sanft küsste er ihren Hals entlang, über ihre Brust und hinunter, bis er an ihrer empfindlichsten Stelle anlangte. Bea stöhnte laut auf und grub die Finger in sein blondes Haar und seine Schulter.

Ihr Herz raste, während Charlie sie mit der Zunge verwöhnte und immer weiter antrieb. Als er schließlich einen Finger in sie gleiten ließ, war sie vollkommen verloren. Sie kam heftig, und mit dem erlösenden Orgasmus schien alles Schwere und alles Dunkle mit einem Mal von ihr abzufallen. Zurück blieb bloß eine schwebende Leichtigkeit und diese flammende Hitze. Sie musste ihn in sich spüren, sofort.

Sie rutschte zum Bettrand, bedeutete ihm aufzustehen, öffnete die Knöpfe seiner Jeans und schob sie ihm vom Hintern. Dann zog sie ihn am Arm zu sich aufs Bett. Im gleichen Moment, als er sich auf sie legte, schlang Bea wieder die Beine um seine Hüften.

Charlie drang ohne zu zögern in sie ein und füllte sie derart aus, dass Bea laut aufstöhnte. Kraftvoll und rhythmisch trieb er sie an, und sein Atem schien mit jedem Stoß heißer und rauer zu werden. Es musste eine Qual für ihn sein, sich Zeit zu lassen, und auch Bea konnte sich kaum noch beherrschen, obwohl er sich gerade erst um sie gekümmert hatte.

Sie krallte sich in seinen Rücken, während sein Rhythmus immer härter wurde. Und als sie ihn schließlich sanft in den Hals biss, verlor er gänzlich die Kontrolle. Sie spürte das kräftige Pulsieren in sich, das auch sie noch einmal zu einem flammenden Höhepunkt brachte.

Schwer atmend lehnte Charlie die Stirn gegen ihre, und Bea konnte seinen schnellen Herzschlag an ihrer Brust spüren. Oder war es ihr eigener? Es spielte keine Rolle.

Vorsichtig löste sie die Beine von seinen Hüften. Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände, bedachte sie mit einem derart liebevollen Blick, dass ihr Herz beinahe zersprang, und küsste sie sanft auf die Lippen.

»Ich mag es, wie du mich ansiehst«, raunte er.

»Wie sehe ich dich denn an?«

»Anders als früher. Da ist dieses Feuer in deinen Augen. Reine Begierde.« Er hob die Mundwinkel zu einem anzüglichen Grinsen, ehe er sie erneut auf die Lippen küsste. »Früher lag zu viel Mitleid in deinem Blick, wenn du mich angesehen hast. Als wäre ich nicht stark genug für mein eigenes Leben.«

»Heute bist du aber nicht mehr dieser unglückliche Junge von damals.« Sie fuhr sanft mit den Fingern über seinen Rücken und lächelte, weil er unter ihrer Berührung erschauderte. »Du stehst so fest in deinem Leben, wie ich es immer versucht habe. Ich bin jedes Mal daran gescheitert, war immer nur auf der Suche, ohne je irgendwo anzukommen oder dazuzugehören.« Sie bedachte ihn mit einem ergebenden Blick. »Ich will nicht mehr rastlos sein. Irgendwann muss ich meinen Platz doch endlich finden.«

»Das hättest du vielleicht längst, wenn du deine Augen nicht vor allem verschließen würdest.« Er stützte sich auf den Unterarmen ab und blickte sie ernst an. »Hör auf wegzulaufen. Du gehörst hier her. Zu mir.«

Sie schloss für einen Moment die Augen, sog seinen herben Duft in sich auf und nickte. »Keine Lügen mehr, keine Geheimnisse, keine Ausreden.«

Er streichelte ihr übers Haar und küsste ihre Stirn. »Dito.«

*

Wenn du ihn aufrichtig liebst, wirst du jede Wahrheit verkraften.

Das hatte Misha zu Bea gesagt, und endlich verstand sie den Sinn dieser Worte. Denn sie erkannte, dass die Wahrheit eines Menschen, den man von ganzem Herzen liebte, früher oder später zur eigenen Wahrheit wurde. Es waren Loyalität und Vertrauen, die die unzerstörbaren Brücken dafür bauten.

Bea hatte sich ein Tanktop und ein Höschen übergezogen und setzte sich, nachdem sie Charlies Kleidung in die Waschmaschine gestopft hatte, neben ihn auf ihr Teenager-Bett. Mit ihm darauf wirkte es noch weitaus schmaler, als es ohnehin schon war.

Sie drückte ihm ein XXL-Shirt in die Hand, das sie in den Tiefen ihres Kleiderschranks gefunden hatte und schaute teils bedauernd, teils erleichtert dabei zu, wie er es sich überstreifte. Immerhin hatten sie ernste Themen zu besprechen, da wollte sie sich nicht von seinem flachen Bauch, der breiten Brust oder den kunstvollen Tätowierungen auf seiner Haut ablenken lassen. Dieser Mann war einfach unverschämt gutaussehend.

Sie blickten sich gegenseitig derart vorsichtig an, dass Bea beinahe lachen musste. Anscheinend fürchteten sie sich beide vor ihrer neuen Offenheit.

»Dieser Typ, JJ … Jared Jenkins … Er und seine Leute haben euch angegriffen und Pat vom Bike gefahren?«, hakte Bea schließlich nach.

Charlie nickte lediglich.

»Es war die Adresse seiner Freundin, die ich euch herausgesucht habe. Ihr seid dort hingefahren und Lenny hat ihn … getötet?«

»Erschossen, ja.«

Bea atmete durch, um das merkwürdige Kribbeln in ihrem Magen zu vertreiben. »Peters habe ich gesehen, aber was ist mit dem anderen Zeugen passiert?«

Charlie räusperte sich und rieb sich über das kurze, blonde Haar. Als Bea bereits glaubte, er würde einen Rückzieher machen, antwortete er endlich. »Erschossen und in der Wüste vergraben.«

»Mhm.« Sie hatte es geahnt. Die Wahrheit aus seinem Mund zu hören, machte es zwar noch eine Spur realer, aber sie hatte schon vorher gewusst, was geschehen war. »Wieso das alles?«

»Die Arschlöcher haben es auf uns abgesehen, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie in Wolfville einfallen. Dann trifft es garantiert Unschuldige.«

Sie zog die Füße unter den Hintern und schaute ihm auffordernd in die Augen. »Das hast du damals im Krankenhaus schon gesagt. Und ich vertraue dir in diesem Punkt, glaub mir. Sonst wäre ich wegen der Nacht im Knast wohl noch viel mehr ausgerastet.« Sie nahm seine Hand und verschränkte die Finger mit seinen. Ein stilles Versprechen, dass sie bei ihm bleiben würde, egal, was er nun erzählte. »Aber ich möchte alles wissen. Bitte, Charlie, lass es mich verstehen.«

Er seufzte. »Das ist eine verdammt lange Geschichte.«

»Ich habe momentan nichts Besseres vor.«

Brummend massierte er sich die Stirn und musterte dabei den Fußboden, als müsste er seine Worte besonders vorsichtig wählen. »JJ ist ein ehemaliges Member der SAW. Er und Sonny kamen von Provo zu uns und sollten unser Chapter vergrößern.« Er ruderte mit einer Hand. »Wir mussten so schnell wie möglich feste Member nach Wolfville bringen, damit wir das Chapter hier halten konnten.« Bea warf ihm einen zutiefst irritierten Blick zu, und er erklärte: »Wolfville wurde sozusagen als Grenze gegründet. Die Bribons kamen immer näher und richteten ein Chapter im Nachbarort Accaciafield ein, da mussten die Advocates reagieren. Die Mexikaner durften sich nicht noch weiter ausbreiten. Der Süden Nevadas gehört uns. Deshalb schickte Buddha, der Pres von Vegas, Chris und mich zurück in die Heimat und ließ einige Member anderer Chapter zu uns überstellen.«

Bea holte Luft, schloss den Mund daraufhin aber wieder. Es kam ihr total surreal vor, dass Charlie mit einer solchen Ernsthaftigkeit von der Sicherung der Advocates-Gebiete sprach, als sei er ein Kriegsherr aus früheren Zeiten. Das hier war eine Welt, die parallel zu der ›normalen‹ Welt verlief.

»Ich habe schon von den Los Bribons gehört.« Bea nickte. »Sind sie nicht so etwas wie eure Rivalen? Tut mir leid, bei mir wirst du wohl ganz von vorn anfangen müssen.«

»Wir hatten schon öfter Ärger mit ihnen, aber momentan herrscht Waffenstillstand, denn wir brauchen uns gegenseitig. Wir machen gemeinsame Geschäfte.« Bevor Bea nachhaken konnte, fuhr er fort: »Und um die ging es auch JJ und Sonny.« Schnaubend rubbelte er sich über die Haare. »Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl dabei, mit irgendwelchen Typen, die ich nicht kenne und von denen ich nicht wusste, ob ich ihnen trauen kann, in ein neues Chapter gesteckt zu werden. Bei manchen war ich mir sicher, dass es gut gehen würde – Pat zum Beispiel oder Lenny und Don. Aber Sonny war mir immer schon zu glatt gewesen. Und JJ war einfach nur ein armes Schwein, ein Junkie, der für den nächsten Schuss alles getan hätte.«

Er blickte starr gegen die Wand, als wäre er in seiner Erinnerung gefangen. So wie sie Charlie kannte, machte er sich garantiert Vorwürfe, dass er es nicht hatte kommen sehen.

»Und die beiden haben sich gegen euch gewandt?«, hakte sie nach. »Wieso?«

Er hob die Schultern. »Kohle. Wie immer, wenn sich Bruder gegen Bruder stellt, geht es um die scheiß Kohle. Eines der größten Meth-Labore der Bribons liegt zufällig in unserem Gebiet. Sie brauchen uns, um ihre Transporte zu schützen.« Da sein Mundwinkel bei dem Wort ›zufällig‹ zuckte, steckte da wohl mehr dahinter, aber Bea ließ ihn ausreden. »Diese zwei Arschlöcher wollten einen Umzug des Labors organisieren und dabei einen Überfall des Transports inszenieren. Dadurch wären die Bribons nicht mehr auf uns angewiesen gewesen und unserem Ruf hätte es zusätzlich geschadet. Sonny und JJ versprachen den Mexikanern die Beute und neue, billigere Geschäftspartner. Sie wollten das Meth-Labor im Elko County bei West Wendover wieder aufbauen, weil sie dachten, es sei Niemandsland. Die beiden Idioten wollten dort doch tatsächlich still und heimlich einen eigenen Club gründen. Den Demon’s Tribe. Oder Satan’s Tribe? Keine Ahnung. Für uns sind sie nur das Ratpack. Ihr beschissener Möchtegern-MC steht auf unserer Abschussliste. Ich weiß nicht, wie sie so dumm sein konnten, zu denken, dass sie damit durchkommen.«

»Wie habt ihr das alles herausgefunden?«

»Zum einen sind die Ghosts dort ganz in der Nähe, das ist einer unserer Supporterclubs in Utah. Und zum anderen hat uns Fernando, der Pres der Bribons, gewarnt.«

Bea runzelte die Stirn. »Wieso? Für seinen Club hätte der Deal doch nur Vorteile gebracht.«

»Geld ist nicht alles. Fernando ist ein ehrenhafter Mann. Und er ist klug. Er weiß, dass der Frieden zwischen den Bribons und den Advocates wertvoller ist als eine Drogenhütte an der richtigen Stelle.«

»Verstehe.« Langsam nickte sie, und in ihrem Kopf fügte sich allmählich alles logisch zusammen. »Sie haben euch verraten, ihr habt es herausgefunden und ihnen die Tour vermasselt, und jetzt sind sie wütend und wollen sich rächen.« Zornig schüttelte sie den Kopf. »Was für miese Arschlöcher! Sie haben doch damit angefangen.«

Auf Charlies Lippen formte sich ein Lächeln. Er streichelte über ihre Wange und küsste sie sanft auf den Mund. »Du glaubst nicht, wie erleichternd es ist, dich so etwas sagen zu hören. Ich wusste, du würdest es verstehen und die Gefahr erkennen. Das Ratpack schart mehr und mehr Leute um sich, kommt immer näher nach Wolfville, und irgendwann werden sie ihren Kleinkrieg gegen uns auf unseren Straßen führen.«

Bea legte eine Hand an die Stelle, wo der riesige Bluterguss auf seiner Haut saß. »Aber warum müsst ihr das austragen? Kann sich die Polizei nicht darum kümmern?«

»Was sollen wir denen denn sagen? Dass Sonny und seine Leute in Wolfville einfallen würden, weil wir ihnen einen Drogentransport-Deal vermasselt haben, den sie uns klauen wollten?«

Zugegeben, wenn er es so sagte, klang es wirklich ziemlich albern.

»Wir stecken der Polizei immer wieder Infos, aber die meiste Zeit über sind ihnen die Hände gebunden. Sie können nichts machen, ohne Beweise. Manchmal sogar nicht einmal, wenn sie welche haben.« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Sieh dich nur um, Bea. Das System, in dem wir leben sollen, funktioniert nicht. Wenn einer angesehen ist und Kohle hat, kann er sich aus allem rauskaufen. Ist das etwa fair? Sieh dir unsere Väter an.« Er schnaubte. »Meiner ein sadistisches Arschloch, deiner ein cholerischer Säufer – aber sie konnten tun, was immer sie wollten, ohne je zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Polizei wusste genau Bescheid darüber, dass unschuldige Kinder und Frauen von ihnen misshandelt wurden, durfte aber nicht eingreifen. Und wer musste darunter leiden? Du, Rosemary, ich, die gesamte Schülerhaft der Red Sand Valley High.« Er rückte näher zu ihr heran, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und blickte sie durchdringend an. »Diese Welt ist hässlich, mach die Augen auf, dann wirst du es sehen. Egoistische, geldgeile Sesselfurzer regieren diese Welt und trampeln auf unschuldigen Menschen herum, die ignorieren, wie mit ihnen umgegangen wird. Sie laufen blind in ihrem Hamsterrad wie all die anderen Idioten. Aber ich wollte das nicht mehr, verstehst du. Man muss handeln, wenn man etwas ändern will. Man muss bereit sein, etwas zu riskieren, wenn man etwas ändern will. Ich weigere mich, Teil eines korrupten, gierigen Systems zu sein, das die Unschuldigen geißelt und die Verbrecher belohnt. Das ist nicht Gerechtigkeit, wie ich sie verstehe. Deshalb habe ich mich dazu entschieden, auf der richtigen Seite zu stehen: auf meiner eigenen.«

Bea blinzelte ihn mit großen Augen an. Sie hatte noch immer ein wenig das Gefühl, in einen Film geraten zu sein.

»Wir können nicht zulassen, dass diese Arschlöcher in unserer Gegend wüten und unschuldige Leute dadurch zu Schaden kommen. Wir wissen, dass das passieren wird. Also wenn wir nichts dagegen tun, ist das nicht das größte Verbrechen, das wir begehen können? Verstehst du das?«

»Ja«, antwortete Bea und meinte es so.

Charlie war ein Leader. Er war von einem gequälten Jungen zu einem starken und klugen Mann herangewachsen, der für andere einstand und für Gerechtigkeit sorgte, wo sie sonst niemals hinreichte. Er handelte, wenn das System versagte. So wie es ihm gegenüber versagt hatte.

Wenn jemand wusste, wie es war, zu leiden und keine Hilfe erwarten zu dürfen, dann war das Charlie. Ebenso wie sie. Er wollte Gerechtigkeit für Menschen wie ihn, wollte es besser machen. Ebenso wie sie.

»Ich hätte nie gedacht, dass das möglich ist«, murmelte sie und kuschelte sich an seine Brust, »aber ich glaube, ich liebe dich gerade mehr als jemals zuvor.«

Er nahm ihr Handgelenk, drehte sie sanft auf den Rücken und rollte sich auf sie. »Merk dir das für das nächste Mal, wenn wir uns streiten, mein sturer Hitzkopf.«

Bea lachte auf. »Das sagst du zu mir?« Sie schnurrte wohlig, als er ihren Hals küsste. »Bevor wir das hier vertiefen, würde ich eins noch gern wissen.«

Er brummte. »Ich hasse es, wenn du das sagst.«

»Was ist heute geschehen? Hast du nach Sonny gesucht?«

»Nein, nur nach Ärger«, murmelte er unter einigen Küssen auf ihr Schlüsselbein.

Sanft, aber bestimmt schob sie ihn von sich und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Die Typen, mit denen wir uns gestritten haben, du weißt schon, an dem Tag, als wir uns das erste Mal wiedersahen …« Er hob die Mundwinkel und fuhr in gelangweilten Tonfall fort: »Das ist eine Art Gang, zumindest wollen sie es sein. Einer von denen hat Moses’ kleiner Schwester das Herz gebrochen, er ihm dafür das Jochbein. Sie haben Vergeltung geschworen. Aber wir haben ihren lächerlichen kleinen Haufen aufgemischt, bevor sie zu dicke Eier bekommen konnten. Gangs werden im Red Sand Valley nicht toleriert. Ende der Geschichte. Keine große Sache.«

Bea schnaubte, als er sich wieder ihrem Hals widmete. »Keine große Sache? Du hättest getötet werden können.« Sie hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest und zwang ihn, sie anzusehen. »Es ist zwar verrückt, dass ich das alles verstehe. Aber versprich mir, dass du nie wieder blindwütig einen Kampf anzettelst.«

»Dann mach mich einfach nicht mehr so wütend«, raunte er mit einem schiefen Lächeln und drückte seine Lippen auf ihre, bevor sie noch etwas sagen konnte.

Biker Tales - Gesamtausgabe

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