Читать книгу Ravenhurst - Sandra Bäumler - Страница 6

3. KAPITEL

Оглавление

Endlich waren wir wieder Zuhause. Den ganzen Weg über hatte ich gezetert, wie unverschämt diese Mister Graves sei, dass ich gut allein zurechtkäme und Anne hatte mir geduldig zugehört. Ihre Ohren mussten bereits wie Holzscheite im Kamin glühen. Sie schloss uns die Tür auf, schweigende Kälte empfing uns. Keiner hatte Feuer oder die Lichter entfacht, niemand erwartete uns. Es war kaum ein Tag vergangen, seit die Bediensteten dieses Gebäude verlassen hatten und schon wirkte es wie ein Geisterhaus. Ich erschauderte, ging langsam in die Halle. Anne schloss die Tür hinter mir.

»Ich werde schnell Feuer im kleinen Salon machen. Geben Sie mir Ihren Mantel«, sagte sie.

»Ich sollte mich von nun an allein aus- und ankleiden. Eine Gouvernante hat keine Zofe«, lehnte ich ab.

»Dann mache ich Feuer.« Anne ging in Richtung Salon, ich blieb in der Halle zurück, betätigte den Lichtschalter, die Wandlampen sprangen an, den großen Kronleuchter ließ ich ausgeschaltet. Langsam knöpfte ich meinen Mantel auf, betrachtete das kunstvoll gedrechselte Geländer der Treppe. Wie oft war ich als kleines Mädchen dort heruntergerutscht und von Mademoiselle Duvallier dafür gescholten worden? Sie hatte mich immer l’enfant terrible, das schreckliche Kind, genannt. Wenn sie sich dann bei Vater über mich beschwerte, nahm er dies meist höchstamüsiert zur Kenntnis. Mein Herz wurde schwer, als wäre es aus Marmor, ich ließ die Tränen zu, die in meinen Augen brannten.

»Das Feuer erwartet Sie.« Anne kam aus dem Salon. »Was ist los?«, fragte sie sanft.

»Es tut schrecklich weh. Anne, ich vermisse meinen Vater so sehr, dass ich glaube keine Luft mehr zu bekommen, wenn ich an ihn denke«, erwiderte ich mit tränenerstickter Stimme. Sie zog mich an sich, von Schluchzern geschüttelt sank ich in ihre Arme, schmiegte mich an sie, spürte den rauen Stoff ihres Mantels unter meiner Wange. In meinem Leben gab es keinen Platz mehr für Standesunterschiede.

»Sie waren die letzten Wochen so stark gewesen. Aber Sie haben jedes Recht Ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Weinen Sie ruhig Lady Eleonore, weinen Sie um Ihren Vater«, flüsterte Anne und strich über meinen Rücken.

Ich vermochte nicht zu sagen, wie lange wir so zusammen in der leeren Halle standen. Irgendwann kamen keine Tränen mehr, schniefend löste ich mich von Anne.

»Jetzt habe ich Ihnen die Ohren genug zugeheult«, sagte ich.

»Immer, wenn Sie Trost brauchen, habe ich ein offenes Ohr für Sie. Auch wenn ich es bisher niemals zu sagen wagte, es jetzt ebenso nicht dürfte, will ich es trotzdem tun. Ich sehe Sie als Freundin und ich hoffe, Sie betrachten mich auch als die Ihre.«

»Wie könnte ich in Ihnen keine Freundin sehen, liebe, wundervolle Anne?« Wir nahmen uns bei den Händen.

»So, und jetzt gehen wir in den Salon, hier ist es eiskalt.« Sie ließ mich los, schritt voran, ich folgte ihr. Das Feuer hatte es noch nicht geschafft, den ganzen Salon zu beheizen, doch direkt vor dem marmoreingefassten Kamin war es sehr gemütlich.

»Ich mache uns einen Tee«, meinte Anne.

»Einen Tee zuzubereiten, dies sollte ich auch lernen. Es ist nicht mehr nötig, dass Sie mich bedienen«, widersprach ich.

»Ich bereite den Tee für eine Freundin zu, nicht für meine Herrin. Das hat keineswegs etwas mit Bedienen zu tun.« Sie verließ den Salon. Ich entledigte mich meines Mantels, den ich über die Lehne eines Sessels hing, um anschließend auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin Platz zu nehmen. Die lodernden Flammen zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich starrte sie an, als hätten sie eine magische Wirkung. Sie begannen vor meinen Augen zu verschwimmen, bis ich sie kaum noch wahrnahm. Graves Angebot geisterte durch meine Gedanken. Wenn ich ihn heiratete würde dieses Haus mir gehören. Warum sträubte ich mich so gegen das Angebot? War es in meinen Kreisen nicht üblich, eine Vernunftehe einzugehen? Idealerweise mit dem zukünftigen Träger des Titels meines Vaters. Das war der besagte Vetter aus Bristol. Irgendein Ur Ur etwas meinerseits war mit einem Ur Ur seinerseits verwandtschaftlich verbunden gewesen. Doch dieser Vetter hatte eine Ehefrau und war der Vater von fünf strammen Burschen, also kein geeigneter Kandidat für eine Heirat. Zumindest konnte er sich jetzt Earl of Warrington nennen. Was ihm aber keinen Nutzen brachte, denn es gab kein Land, kein Vermögen, nichts dazu. Aber wenn er ein geeigneter Kandidat gewesen wäre? Hätte ich nicht ohne auch nur eine Sekunde zu Zögern in diese Verbindung eingewilligt, um wenigstens den Titel meines Vaters zu erhalten? Für einen zukünftigen Sohn und Erben, wenn mir das Schicksal, das im Moment so grausam mit mir umsprang, einen männlichen Nachkommen vergönnte?

Zu lange hatte ich mich an meine romantischen Vorstellungen einer Liebesheirat geklammert. Romane über das Finden des wahren Seelengefährten verschlungen und davon geträumt, dies selbst einmal zu erleben. Mein Vater hätte mir das auch zugestanden, wenn er noch bei mir wäre. Aber das war er nicht, er hatte mich verlassen und ich stand nun vor der Entscheidung: Wollte ich mein Geburtshaus verlieren, das Einzige, das mir von meinem Vater geblieben war? Oder sollte ich eine Vernunftehe eingehen, die vielleicht zeitlebens ohne Liebe auskommen musste. Zudem würde Graves durch eine Heirat alles für mich entscheiden dürfen, jegliche Belange meines Lebens. Anderseits hatte ich von Verbindungen gehört, die aus Vernunft geschlossen worden waren und im Laufe der Zeit zu einer tiefen Zuneigung geführt hatten, vielleicht war dies auch mein Schicksal.

»Zum Glück war von heute früh noch genug Glut im Herd gewesen, so gelang es mir, das Feuer schnell wieder zu entfachen.« Anne betrat das Zimmer, sie hatte ihren Mantel wohl in der Küche gelassen. Das Geschirr auf ihrem silbernen Tablett klirrte leise bei jedem Schritt. Sie stellte es auf dem Serviertisch ab. »Sie sind so still Lady Eleonore, was geht Ihnen durch den Kopf?«

»Ich denke über Mister Graves Angebot nach«, erwiderte ich.

»Ziehen Sie es in Betracht?«, fragte Anne, während sie Tee einschenkte.

»Es wäre vernünftig«, erwiderte ich.

»Aber ist es auch das, was Sie wollen?« Anne brachte die Tasse zu mir, die ich dankbar entgegennahm und blieb neben dem Sofa stehen.

»Bitte Anne, hören Sie auf, sich wie eine Bedienstete zu benehmen. Wir sind allein in diesem Haus, da können wir sämtliche Konventionen über Bord werfen. Holen Sie sich einen Tee, wenn Sie möchten, und setzen Sie sich in Gottes Namen zu mir.«

»Es ist für mich eine sehr ungewohnte Situation«, erwiderte Anne mit einem entschuldigenden Lächeln, kam aber meiner Aufforderung nach. Nachdem sie sich Tee genommen hatte setzte sie sich neben mich.

»In Zeiten wie diesen zählt nicht, was ich gerne möchte«, beantwortete ich ihre Frage. »Seien wir ehrlich, meine Qualifikationen als Gouvernante sind eher dürftig. Ich habe im Umgang mit Kindern keinerlei Erfahrung. Dann ist mir der Gedanke, dass dieses Haus an eine Firma vermietet und vorher umgebaut wird, höchst zuwider. Nach Bristol möchte ich ebenfalls nicht. Die Verbindung mit Graves würde alle diese Probleme aus der Welt schaffen«, resümierte ich pragmatisch.

»Macht es Ihnen keine Angst einen Mann zu ehelichen, den Sie noch nicht einmal kennengelernt haben?«

»Arrangierte Ehen sind in Adelskreisen noch immer üblich«, antwortete ich schlicht.

»Ich könnte nie einen Mann heiraten, den ich nicht liebte.« Anne nahm einen Schluck, sah mich über den Rand ihrer Tasse hinweg an.

»Als junges Mädchen träumte ich ebenfalls von einer Liebesheirat, doch jetzt bin ich kein kleines Mädchen mehr und muss mich den Tatsachen stellen.« Ich hörte mich reden, alles Gesagte war logisch und rationell, doch mein Herz schrumpfte auf die Größe einer getrockneten Pflaume zusammen, denn es wollte nicht aus Vernunft heiraten, sondern aus Liebe. Es sehnte sich nach einem Seelengefährten, der es immer beschützen wollte und keinesfalls brechen würde.

»Ich habe nur eine Bitte, überstürzen Sie nichts, schlafen Sie eine Nacht darüber, bevor Sie Spaulding eine Antwort zukommen lassen. Versprechen Sie mir dies.«

»Gute Anne, ich verspreche es«, erwiderte ich.

Schweiß klebte das Schlafkleid an meine Haut, die ganze Nacht war ich von Alpträumen geplagt worden. Gesichtslose Männer mit groben Händen fielen in unser Haus ein, um es kurz und klein zu schlagen. Der Geist meines Vaters schwebte hilflos über ihnen und flehte mich an, sie zu stoppen. Aber ich konnte es nicht. Plötzlich umzingelten mich schreiende Jungs, während die Wände immer näherkamen. Es war fürchterlich gewesen. Ich streckte meine zittrige Hand in Richtung Glocke aus, als mich der Gedanke, dass es in diesem Haus keine Bediensteten mehr gab, wie ein Faustschlag traf. Einzig Anne war noch zugegen und die wollte ich nicht belästigen. Von nun an würde ich selbst für meine Morgentoilette sorgen müssen. Entschlossen stand ich auf. Im Zimmer war es eiskalt, denn es war gestern nicht von einem Feuer gewärmt worden und vor dem zu Bett gehen hatte ich darauf verzichtet, doch noch eines zu entfachen. Auch aus dem Grund, da ich noch nie eines entzündet hatte, und Anne nicht darum bitten wollte.

Ich schlüpfte in meine Pantoffel. Bilder aus meinen Alpträumen blitzten auf, ein Schwindelgefühl überkam mich und ich musste mich an einem der Pfosten, die den Himmel meines Bettes trugen, festhalten. Mit wildpochendem Herzen sah ich zu dem Sekretär in der Ecke. Es war an der Zeit eine Entscheidung zu treffen. Also ging ich zu dem Möbel, setzte mich auf den Stuhl davor und nahm einen Bogen Papier zur Hand. Kälte kroch unter das Nachtgewand, eine Gänsehaut überzog meinen Körper, während ich das Schreiben aufsetzte. Meine Finger wurden ganz steif, doch ich war entschlossen.

»Sie sind ja schon wach. Warum haben Sie nicht geläutet?« Anne betrat das Zimmer. Ich drehte mich nicht um, hörte wie sie die Schüssel auf der Kommode mit Wasser füllte.

»Bitte waschen Sie sich, solange es noch warm ist«, meinte sie. »Außerdem tragen Sie Ihren Morgenrock nicht. Es ist eiskalt hier drin. Sie werden sich noch den Tod holen«, fügte sie streng hinzu, doch ich erwiderte nichts, konzentrierte mich auf mein Schreiben.

»Sie verfassen die Antwort für Spaulding nicht wahr?« Anne stellte sich neben mich.

»Ich werde das Angebot annehmen. Zudem informiere ich ihn darüber, dass ich gedenke, Sie mit mir zu nehmen. Dieser Graves scheint vermögend zu sein, wir werden ein gutes Gehalt für Sie aushandeln.« Jetzt hob ich den Kopf und blickte in ihr Gesicht. »Was sagen Sie dazu?«

»Wenn Sie Mister Graves wirklich heiraten möchten, werde ich Ihnen folgen«, sagte Anne mit gerunzelter Stirn.

»Bestimmt erweist sich dieser Mister Graves als äußerst charmant und nett. Er soll ja sehr ansehnlich sein, wie Mister Spaulding es ausdrückte.« Ich schenkte Anne ein aufmunterndes Lächeln, obwohl ich die Worte, die ich ihr gegenüber gerade ausgesprochen hatte, selbst nicht für bare Münze nahm. Wenn er ein aufrechter und attraktiver Mann war, warum versteckte er sich hinter einem Anwalt?

»Ich möchte es Ihnen wünschen, Lady Warrington.«

»Hier, ich habe ein paar Münzen in einer Schublade meines Schreibtischs gefunden, damit können Sie einen Boten beauftragen, das Schreiben wegzubringen.« Ich reichte Anne das Geld, dann blies ich warmen Atem auf den Bogen, damit die Tinte schneller trocknete. Ich wollte den Brief so schnell wie möglich versenden, um es mir nicht doch noch anders zu überlegen. Mit einem flauen Gefühl im Magen faltete ich den Bogen und steckte ihn in ein Kuvert, das ich mit Spauldings Namen versah. Anschließend erhob ich mich.

»Ich tue das Richtige«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Anne, während ich ihr den Brief überreichte, den sie schweigend entgegennahm.

»Ach bevor ich es vergesse.« Schnell lief ich zu meinem Frisiertisch. »Auch Sie sollen ein Schmuckstück erhalten.«

Anne kam zu mir. Ich wollte die Schatulle öffnen, doch sie legte ihre Hand auf meine, ich hielt inne.

»Ich weiß, dass ich Sie nicht davon abhalten kann, das konnte ja nicht einmal Mister Cummings, und ich möchte Sie keinesfalls beleidigen. Aber ich habe eine Bitte, verwahren Sie das Präsent wie auch mein Zeugnis für mich. Wäre dies möglich?«

»Natürlich kann ich dies für Sie tun«, erwiderte ich. »Aber wollen Sie nicht einmal wissen, was ich Ihnen zugedacht habe?«

»Alles zu seiner Zeit.« Ein mildes Lächeln umspielte ihre Lippen. »So, jetzt werde ich mich darum kümmern, dass der Brief zu Mister Spaulding kommt.« Damit nahm sie die Hand weg und verließ den Raum. Ich öffnete das kleine Kästchen, darin befanden sich noch einige wenige Schmuckstücke. Zielstrebig ergriff ich ein Medaillon und klappte es auf. Auf der einen Seite war ein Bild meiner Mutter, auf der anderen eines meines Vaters. Zart strich ich über das Porträt meiner Mutter. Ich konnte mich noch gut an sie erinnern. Sie starb kurz nach meinem zwölften Geburtstag an einer Lungenentzündung. Von ihr hatte ich das kastanienrote Haar und die grünen Augen geerbt, von meinem Vater die englische Beherrschtheit, wobei häufiger als mir lieb war ihr schottisches Temperament durchblitzte. Seit ihrem Tod war mein Vater ein anderer Mensch geworden und, wie ich in den letzten Wochen auf so schmerzliche Weise erfahren musste, der Spielsucht anheimgefallen. Ich musterte sein Bildnis, hatte das Gefühl in einem zu engen Korsett zu stecken, das mir die Luft zum Atmen raubte. Nun war ich eine Waise, ohne Eltern und ganz allein auf der Welt. Vielleicht war es auch die Angst vor einem Leben in Einsamkeit, die mich letztendlich dazu bewogen hatte, Graves Antrag anzunehmen.

Am nächsten Nachmittag saß ich im Speiseraum der Angestellten. Da Anne und ich nur noch zu zweit waren, hatte ich beschlossen, dass es zweckmäßig wäre, den Küchenofen als einzige Wärmequelle zu nutzen.

»Wissen Sie, als Kind habe ich viel Zeit hier unten verbracht, mich vor meiner Gouvernante im Vorratsraum versteckt oder Teig genascht, wenn Mrs Ross Kuchen backte. Hach, ihre Kuchen waren wirklich die besten.« Ich trank einen Schluck Tee.

»Ja, Mrs Ross Kochkunst vermisse ich wirklich sehr. Meine ist doch sehr stümperhaft.« Anne, die mir gegenübersaß, sah von ihrer Näharbeit auf.

»Seien Sie nur nicht so bescheiden. Der Eintopf heute war wirklich vorzüglich. Im Gegensatz zum mir sind Sie eine wahre Meisterin. Bisher schaffe ich es nur, Wasser zum Kochen zu bringen«, sagte ich.

»Vergessen Sie nicht, Sie haben heute zum ersten Mal Gemüse geschnitten und Ihre Sache sehr gut gemacht.«

»Das ist wirklich zu viel des Lobes, für diese kleine Schnippelei.« Mir entkam ein Lachen, doch als mir wieder einfiel, warum die vergangenen Wochen so viel Ernst erfordert hatten, erstarb es. Unruhig ging mein Blick zur Wanduhr, deren lautes Ticken von der Vergänglichkeit der Zeit kündete. Mit jeder Stunde, die verstrich, wurde ich nervöser. Vielleicht hätte ich Graves Angebot doch nicht annehmen sollen. Gab es wirklich keine bessere Lösung? Das Schrillen der Türglocke erschreckte mich so sehr, dass ich den Inhalt der Tasse über meinen Rock verschüttete.

»Ach herrje, wie ungeschickt ich bin«, schimpfte ich.

»Warten Sie.« Anne schob ihren Mantel, an dem sie gerade Knöpfe festgenäht hatte, zur Seite und holte einen Lappen. Wieder schrillte die Glocke.

»Würden Sie bitte öffnen, ich kümmere mich um meinen Rock.« Ich stellte die Tasse weg, nahm ihr das Tuch ab und begann damit, den nassen Fleck zu behandeln.

»Natürlich.« Anne hastete aus dem Raum. Die Dienstbotentür war nicht weit, ich hörte eine männliche Stimme. Es war ein Kurier, der einen Brief überbrachte. Vergessen war der Teefleck auf meinem Rock, schnell warf ich den Lappen auf den Tisch und erhob mich. Schon kam mir Anne entgegen.

»Das Schreiben ist von Spaulding«, informierte sie mich und reichte es mir. Mit zittrigen Fingern öffnete ich das Kuvert.

»Sehr verehrte Lady Warrington, Mister Graves ist hoch erfreut darüber, dass Sie seinen Antrag angenommen haben. Es wird in drei Tagen um neun Uhr am Morgen eine Kutsche vor Ihrem Haus bereit stehen …« Ich blickte zu Anne. »Wir haben effektiv nur noch heute und morgen, um unsere Habe zu packen. Denn am Montagmorgen müssen wir fertig sein.«

»Dann sollten wir damit beginnen, wenn Sie es wünschen.«

»Ich wünsche es«, erwiderte ich, straffte meine Schultern und faltete das Schreiben zusammen. Ich würde keinen Rückzieher machen, ich stand zu meinem Wort und hoffte, dass Mister Graves dies auch tat.

Die folgenden Tage verbrachten wir mit Packen, nur unterbrochen vom sonntäglichen Kirchenbesuch. Wenn man Koffer für eine Reise mit seinem Vater packte, war das eine Sache, doch wenn man seine Dinge zusammensuchte, um in ein neues Zuhause zu ziehen, war dies etwas ganz anderes. Ich versuchte mich nur auf das Notwendigste zu besinnen, aber alles erschien mir mit einem Mal immens wichtig zu sein. Vor allem, da ich keine Kenntnis darüber besaß, wie Mister Graves eingerichtet war. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, in welchem Teil Englands er lebte. Oder hatte er sein Domizil gar auf dem Kontinent? Darüber hatte ich mit Mister Spauldings gar nicht gesprochen. Vielleicht korrespondierte Graves deswegen nur schriftlich mit ihm, weil er gar nicht in England lebte. Es war wirklich nachlässig von mir gewesen, dies nicht zu erfragen.

Schlussendlich, nach langem Hin und Her, stand unser Gepäck abholbereit in der großen Halle, am Fuße der Treppe. Es war gar nicht einfach gewesen, die Koffer nur zu zweit und ohne männliche Unterstützung herunterzutragen.

»Es ist bald neun«, informierte mich Anne.

»Ist gut, ich komme gleich.« Langsam schritt ich durch das Arbeitszimmer meines Vaters. Ich hatte es seit dessen Auffinden an diesem verhängnisvollen Morgen nicht mehr betreten. Sämtliche Spuren seines gewaltsamen Todes waren beseitigt worden, alles schien wieder in bester Ordnung zu sein. Das tiefe Loch in meinem Herzen, das er hinterließ, würde jedoch niemals verheilen. Mit seinem Freitod hatte er mich um so viele Stunden mit ihm schändlich betrogen.

»Ich werde jetzt gehen Vater«, sagte ich mit belegter Stimme, in der Hoffnung, sein Geist könnte mich hören. Im Hintergrund vernahm ich, wie Anne die Haustür öffnete.

»Wo auch immer du bist, ich liebe dich.« Eilig, um dem Damm der meine Tränen hielt nicht die Chance zu geben zu brechen, stürmte ich aus dem Zimmer, einer neuen Zukunft entgegen.

»Mister Mason wird mit uns kommen«, informierte mich Anne, trat zur Seite und ich stand vor Spauldings Sekretär, der wie immer sehr überheblich dreinblickte.

»Ich bin angenehm überrascht, dass Sie uns begleiten«, sagte ich höflich.

»Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite. Es ist nicht schicklich, wenn Damen ohne männliche Begleitung reisen. Zudem habe ich noch Papiere für Mister Graves und ich freue mich Ihnen sagen zu können, dass er ihrem Anliegen zugestimmt hat und ihre Zofe mitkommen kann, da er sowie eine Kammerdienerin für Sie hätte einstellen müssen. Ist dies Ihr Gepäck?« Mason deutete zu den Koffern vor der Treppe.

»Ja.« Ich nickte, war ungeheuer über Graves Zustimmung in Bezug auf Anne erleichtert. Aber auch wenn er Nein gesagt hätte, wäre sie mitgekommen. So einfach hätte ich nicht klein beigegeben.

»Dann hole ich den Kutscher, er soll beim Einladen helfen«, erwiderte Mason und ging zur Tür.

Nachdem das Gepäck verladen war, brachte uns die Kutsche zum Bahnhof. Mason war gar nicht erfreut darüber gewesen, als ich darauf bestand, Anne in der Kutsche mitfahren zu lassen und nicht neben dem Kutscher, wie es sich für Dienstboten geziemte. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich sicher, was ich bisher aufgrund seines Benehmens nur erahnt hatte. Ich fand diesen Mann, der selbst nur ein kleiner Angestellter war und trotzdem solcherlei Allüren an den Tag legte, wenig sympathisch. Auch im Zug setzte ich durch, dass Anne neben mir in der ersten Klasse saß. Mason hatte uns gegenüber Platz genommen. Er führte nur wenig Gepäck mit sich, einen kleinen Reisekoffer und Aktentasche, die er auf den freien Platz zu seiner Rechten legte. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er seine Nasenwurzel, schloss die Augen. Ich blickte aus dem Fenster, die Landschaft zog schneller an uns vorbei als Vögel über den Himmel schwirrten. Wenn ich richtig lag fuhren wir in Richtung Süden. Unentwegt fragte ich mich, ob ich das Richtige tat.

Ravenhurst

Подняться наверх