Читать книгу Als sie Licht ins Dunkel brachte - Sandra Halbe - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеPhilip
„Guten Abend!“, rief ich freudig, als ich meine Wohnungstür aufmachte und meinen Besuch begrüßte. „Hallo Rotschopf“, lächelte ich, als Franzi hereinkam.
„Hey!“ Scheinbar entrüstet knuffte sie mir in die Seite, bevor sie an mir vorbei in die Küche stürmte, um dort ganz ungeniert in die Töpfe und Pfannen zu spähen. In der Zwischenzeit begrüßte ich Jan, der genauso wie ich ungläubig im Flur zurückgeblieben war, während Franzi mit einem genüsslichen „Hmmmm“ einen Löffel aus der Besteckschublade fischte, um die Soße zu probieren.
„Wer bist Du und was hast Du mit Franzi gemacht?“, fragte ich. Ich weiß nicht genau, ob ich damit sie selbst oder Jan meinte. Auch er schüttelte ungläubig den Kopf, als wäre Franzi, die nun ganz freimütig den Küchentisch für uns drei eindeckte, eine Wildfremde für ihn.
„Wie geht es ihr?“, schob ich leiser hinterher.
Seit damals hatten wir uns alle angewöhnt, bei Jan nachzuhaken, ob alles in Ordnung war, wann immer Franzi sich kurz außer Hörweite befand. Damals. Als Franzi ihren langjährigen Freund Tobias erstach, nachdem dieser ihr zahlreiche Misshandlungen hinzugefügt hatte. Als sie nach dem Messer griff, damit er sie nicht umbringen würde. Damals, als sie ein nervliches Wrack war und nach der Tat nicht einmal mehr sprechen konnte. Als ein Richter sie für unschuldig befand und sie nur langsam, ganz langsam ins Leben zurückfand. Als ein Frankreich-Aufenthalt und vor allem Jan ihr wieder auf die Beine halfen. Das Ganze war nun fast drei Jahre her. Und eigentlich sahen wir alle, dass es Franzi gut ging und wie glücklich die beiden miteinander waren.
Anfangs waren wir noch auf Zehenspitzen um sie herumgeschlichen, als könnte jedes laute Geräusch oder jedes falsche Wort sie in eine neue Krise stürzen. Sobald in den Nachrichten von Mord oder häuslicher Gewalt die Rede war, hatten wir den Fernseher leiser gestellt oder ausgeschaltet. Wir hatten es vermieden, über unsere eigenen Probleme zu sprechen, um sie nicht zu sehr zu belasten. Erst nach und nach hatten wir begriffen, dass diese übertriebene Vorsicht nicht nötig war. Im Gegenteil: Sie hielten Franzi davon ab, wieder völlig auf die Beine zu kommen. Und so griff sie irgendwann selbst nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter. Oder sie merkte, wenn uns etwas beschäftigte, das wir vor ihr verstecken wollten. Dann fragte sie mit diesen für sie typisch weit aufgerissenen Augen, ob alles in Ordnung sei und ließ nicht locker, bis wir uns schließlich ein Herz fassten und erzählten, was gerade in uns vorging. Sie versuchte, uns immer wieder zu zeigen, dass die Schonfrist für sie nun vorbei war, bis wir es irgendwann begriffen. Diese übertriebene Vorsicht hatten wir uns also nach und nach abgewöhnt und taten in der Regel nun so, als sei all das nicht passiert. Aber die Frage, wie es Franzi ging, stellten wir alle. Immer. Wir alle, damit meine ich zum Beispiel Michi, Franzis ehemalige Mitbewohnerin. Sie war Ärztin in einem der umliegenden Krankenhäuser und versorgte ihre Freundin, wenn Tobias es mal wieder übertrieben hatte mit seinen Prügeleien. Dann gab es noch Mark, der mit Jan zusammen ein kleines Unternehmen mit Importen aus dem europäischen Ausland führte, zu dem in der Innenstadt auch ein Laden gehörte. Franzi war nach ihrem Studium auch im Geschäft der beiden eingestiegen. Sie und Jan hatten sich damals in einem kleinen Café kennengelernt, wo sie so manchen Nachmittag miteinander verbrachten und sich schließlich näherkamen. Die Inhaberin des Cafés, Betti, war mittlerweile auch zu einer guten Freundin der beiden geworden. Und dann gab es da noch mich, Philip. Franzi und ich waren zusammen in unserem kleinen Heimatdorf aufgewachsen. Sie hatte damals Jan und mich einander vorgestellt, als ich zufällig in derselben Stadt landen sollte und Jan ein freies Zimmer zur Verfügung hatte. Wir beide hatten uns daraufhin eine ganze Weile lang eine Wohnung geteilt. Auch jetzt, nachdem er mit Franzi zusammengezogen war, hatten wir regelmäßigen Kontakt. So hatten wir uns auch heute zum gemeinsamen Abendessen in Jans alter Wohnung verabredet, die ich immer noch bewohnte.
Wenn Jan meine Nachfrage nach Franzis Zustand störte, so zeigte er es nicht. „Hin und wieder hat sie noch Albträume.“, sagte er leise. „Sie hat die Therapeutin letzte Woche noch mal gesehen. Die scheint ihr geholfen zu haben. Es geht aufwärts, immer wieder ein Bisschen.“
Ich drückte kurz seinen Arm. Ich würde für ihn da sein, wenn er mal jemandem zum Reden brauchte. Er nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, drehte sich dann aber herum und steuerte auf die Küche zu.
„Komm, Phil. Ich habe einen Bärenhunger. Und wenn Du Franzi weiter hier allein lässt, ist gleich nichts mehr übrig für uns!“
„Warum wolltest Du eigentlich Koch werden?“, fragte Jan mich unvermittelt, nachdem wir alle gegessen hatten.
Ich überlegte einen Moment. „Ich weiß es gar nicht so genau“, gab ich schließlich zu. „Als ich meine Ausbildung begann, liefen im Fernsehen noch gar nicht so viele Kochsendungen, die mich beeinflusst haben könnten. Kochen war lange nicht so `in`, wie es heute ist. Aber ich fand schon immer, dass ein schöner Abend im Kreise von Freunden oder der Familie durch nichts zu übertreffen ist. Und mit einem guten Essen wird so ein Abend erst richtig perfekt. Tja, und dann wollte ich eben lernen, wie ich so ein gutes Essen selbst richtig hinbekomme.“
„Und das mit Erfolg“, sagt Franzi und deutet auf die leeren Schüsseln und Teller. „Ich finde, das sollten wir öfter machen. Vielleicht laden wir noch Mark und Michi ein. So eine Art `Perfektes Dinner` für Freunde. Was meint Ihr?“
„Aber ohne Punktevergabe, oder?“, fragte Jan.
„Und ohne durch die Wohnungen der anderen zu rennen und in jede Schublade zu glotzen!“, schob ich schnell hinterher. Bei dem Gedanken daran, gerade heute jemanden in mein Schlafzimmer zu lassen, stellten sich in meinem Nacken sämtliche Haare auf.
Sie zuckte mit den Schultern. „Es muss ja kein Wettbewerb werden. Aber wir sehen einander kaum noch. Wann haben wir denn zuletzt alle zusammen an einem Tisch gesessen? Die Arbeit vereinnahmt uns so stark, dass wir anschließend eigentlich nur noch auf die Couch fallen. So ein gemütlicher Abend mit einem netten Essen wäre da doch ein tolles Gegenprogramm.“
„Und würde uns zwingen, mal wieder die Pizza vom Lieferservice nebenan liegen zu lassen“, grinste Jan. Er und ich waren begeistert. Nun mussten wir nur noch Michi und Mark mit ins Boot holen.
Wie wichtig diese Abende werden würden, ja, dass sie mein Leben grundlegend verändern würden, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Betti
Meine Mutter Maria war eine junge Frau, als meine Großeltern damals beschlossen, nach Deutschland einzuwandern. Freunde von ihnen waren bereits hier und hatten sich ein neues Leben aufgebaut. Viel hatte man ihnen versprochen von „Bella Germania“. Hier sollte es ihnen bessergehen als zu Hause im fernen Italien. Doch dass man ihnen in dem kleinen Dorf, wo sie landen würden, zunächst mit Argwohn begegnen sollte, dass man sie „Spaghettifresser“ nennen würde, das hatte man ihnen nicht gesagt. Die Leute warfen ihnen hinter vorgehaltener Hand vor, dass sie den Deutschen nur das Geld aus der Tasche ziehen und damit wieder in ihre Heimat verschwinden würden. Dass der Staat für sie viel mehr tue als fürs eigene Volk. Mit dem Knüpfen von Kontakten taten sie sich dementsprechend schwer, sprachen sie doch keinen Brocken deutsch. Die Einheimischen ignorierten sie weitgehend, im Dorf wurde die Familie geschnitten. Meine Großeltern ließen sich trotzdem nicht unterkriegen. Ein kleines leerstehendes Gebäude in der Nähe des Marktplatzes war schnell gefunden. Mit jeder Menge Arbeit, Schweiß und der Hilfe der wenigen anderen Italiener, die es in unsere Gegend verschlagen hatte, bauten sie es nach und nach zu einem gemütlichen Lokal um. Einen kleinen Kredit hatte mein Großvater bei der Bank herausholen können - keine Ahnung, wie er das angestellt hat. Die Renovierungskosten und auch die Miete für die ersten Monate konnten sie damit zumindest vorerst bezahlen, und so feierte es bald Eröffnung, ihr eigenes kleines Restaurant „da Giovanni“.
So sehr die Leute in unserem Dorf auch über die Italiener schimpften, so sehr genossen sie das Essen, das meine Nonna ihnen servierte. Schnell sprach sich herum, dass es bei Giovanni die besten hausgemachten Nudeln im Umkreis gab. Das herzliche Auftreten meiner Großeltern tat sein Übriges. Mit einem Mal war das Lokal ständig gut gefüllt und der Andrang ließ nicht nach. Abends kamen die Arbeiter auf ein schnelles Bier an der Theke herein, um den Feierabend einzuläuten. Am Wochenende war unser Restaurant ein beliebtes Ziel für Familien: Ja, meine Großeltern waren in Deutschland angekommen.
Spätestens seit die beiden in einen Steinofen für hausgemachte Pizza investiert hatten, konnten sie die Arbeit nicht mehr allein stemmen. Mein Opa hatte von Geburt an ein Herzleiden und die Arbeit in der heißen Küche fiel ihm vor allem in den Sommermonaten immer schwerer. Meine Grußmutter sprang zwischen Theke und Küche hin und her, um ihn zu entlasten, während meine Mutter im Gastraum kellnerte. Doch auch Nonna wurde nicht jünger, und so kam auch sie an die Grenze der Belastbarkeit. Schließlich wurde der junge Oliver als Küchenhilfe angestellt, um die Situation zu entschärfen. Oliver und Maria verbrachten von da an sehr viel Zeit miteinander. Speziell unter der Woche, an ruhigeren Tagen, zogen meine Großeltern sich gern einmal zurück und ließen Maria und Oliver allein, wenn sich der Gastraum langsam leerte. Schon nach kurzer Zeit waren die beiden jungen Leute so gut aufeinander eingespielt, dass meine Großeltern keine Bedenken hatten, ihnen an manchen Tagen das Ruder gänzlich zu überlassen. Es kam, wie es kommen musste: Irgendwann verliebten Oliver und Maria sich ineinander. Schon bald klingelten die Hochzeitsglocken. Meine Großeltern waren sehr konservativ, weißt Du. Und wenn das junge Paar noch länger mit der Hochzeit gewartet hätte, wäre der Babybauch meiner Mutter nur allzu deutlich unter dem weißen Brautkleid zu sehen gewesen.
Die Hochzeitsfeier war eine ganz kleine Veranstaltung. Auch wenn das Geschäft gut lief, musste man doch vorsichtig mit dem Ersparten umgehen. Der Pizzaofen war meinen Großeltern heilig. Nicht auszudenken, wenn eine Reparatur an diesem oder an ihrem kleinen Häuschen fällig werden würde! Dafür musste dann einfach Geld da sein. Von den finanziellen Möglichkeiten abgesehen hielten sich aber auch die sozialen Kontakte meiner Eltern in Grenzen. Zwar gab es die italienische Gemeinschaft und auch den ein oder anderen Stammgast, den sie hätten einladen können - in unserem Restaurant hatten sie auch bereits zusammen mit einigen Gästen auf die Trauung angestoßen. Doch enge Freunde hatten die beiden nicht viele. Und so kehrten sie nach der Zeremonie lediglich mit der Familie in ein kleines Lokal ein, aßen gemeinsam zu Mittag und ließen die Veranstaltung nach dem Kaffee ausklingen. Meine Mutter sprach immer davon, die richtig große Feier mit den Familienmitgliedern, die in Italien zurückgeblieben waren, nachzuholen. Meine Großeltern zogen dann nur die Augenbrauen hoch, ersparten sich aber jeglichen Kommentar. Und ein paar Monate später hatten sich die Reisepläne sowieso vorerst erledigt, als ich auf die Welt kam.
Eine der ersten bewussten Erinnerungen, die ich habe, ist die, wie mein Vater von meiner Geburt berichtet. Stundenlang hatte meine Mutter in den Wehen gelegen. Einen Kaiserschnitt hatte sie abgelehnt und wollte ihre Meinung nur ändern, wenn ihr oder mein Leben in Gefahr gewesen wäre.
„So eine sture Frau“, zischte eine der Schwestern meinem Vater zu, als sie ihm auf dem Flur über den Weg lief. „Es könnte alles so einfach sein, aber die Dame will ja um jeden Preis eine natürliche Geburt!“
Mein Vater kannte meine Mutter gut genug. Deswegen wusste er, dass jeder Widerstand zwecklos war, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Also sparte er sich seinen Atem und erwiderte einfach nichts auf die bissigen Kommentare der Schwester. Er lief weiter den Flur auf und ab und schaute aus dem Fenster, bis er schließlich meine Schreie im Geburtszimmer hörte.
„Als ich Dich zum ersten Mal sah“, erzählte er mir immer, „war ich, gelinde gesagt, ein wenig überrascht. Immerhin war Deine Mutter eine Italienerin, so wie man sich eine Südländerin eben vorstellt: Rabenschwarzes Haar, olivenfarbene Haut und rehbraune Augen. Also hatten wir beide ein Baby mit dunklen Augen und Haaren erwartet, so wie sie sie hatte. Wir dachten einfach, dass ihre Gene sich durchsetzen würden. Das Mädchen, das Deine Mutter im Arm hielt, als ich das Zimmer betrat, war jedoch blond, fast weißhaarig. Und die Augen waren himmelblau, so wie meine. Weißt Du, wenn es umgekehrt gewesen wäre, also Deine Mutter die Deutsche und ich, Dein Vater der Italiener, könnte ich mir eine wunderschöne Eifersuchtsszene vorstellen.“ Mit diesen Worten baute er sich vor mir auf, begann wie verrückt mit den Händen zu gestikulieren und nahm einen italienischen Akzent an, als er sagte: „Maria, was haste Du getan, meine Kind ist eine Bastardo! Musse sein dunkel wie eine waschechte Italiano!“
Ich musste immer wahnsinnig lachen, wenn mein Vater, der eigentlich eher ruhig und zurückhaltend war, versuchte, sich aufzuführen wie ein cholerischer Italiener. Er musste nur aufpassen, dass meine Mutter ihn dabei nicht erwischte. Einmal kam sie zur Tür herein, als er gerade seine „Vorstellung“ gab. „Bastardo“, sagte sie verächtlich. „Bastardo. Bastardo!“, Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Weißt Du, Oliver, Betti ist der Beweis dafür, dass die Dunkelheit nicht immer siegt, sondern auch das Helle manchmal die Oberhand hat. Manchmal bringt jemand Licht ins Dunkel. Merk Dir das!“
Welche Dunkelheit meine Mutter damit meinte, sollten wir erst später erfahren.
Philip
Das nächste Abendessen fand bei Jan und Franzi statt. Mark und Michi konnten leider nicht kommen. Ich weiß nicht genau, wessen Idee es war, deswegen Betti an diesem Abend einzuladen. Natürlich waren wir einander schon einmal über den Weg gelaufen. Zwar war das Café weiterhin Jan und Franzis Stammlokal. Aber hin und wieder kam auch ich dort vorbei. Mal war ich auf dem Weg zur Arbeit und der Hunger nach einem Stück Kuchen, den wir nicht selbst auf der Speisekarte hatten, überfiel mich. Mal brauchte ich einfach einen Ort zum Durchatmen. Wenn am Vortag auf der Arbeit mal wieder die Hölle los gewesen war oder wenn das Getümmel der vielen Menschen auf der Straße mir einfach zu viel wurde, war das Café einfach perfekt, um einen Moment lang den Stress hinter mir zu lassen. Jan hatte den Ort einmal als „Yoga-Kurs für Feinschmecker“ bezeichnet. Und ich musste ihm zustimmen: Bei einem Stück hausgemachtem Kuchen auf den gemütlichen Sofas sitzend konnte ich in der Tat einfach einmal alles vergessen, was mich gerade beschäftigte. Es lag etwas abseits der großen Einkaufsstraßen, sodass hier nicht der gleiche Betrieb herrschte wie in den großen Café-Ketten der Stadt. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Franzi oder Jan hier sogar im hinteren Teil die Ruhe fanden, sich in ein Buch zu vertiefen. Wenn ich dort war, unterhielten Betti und ich uns natürlich auch miteinander. Aber ich konnte nicht behaupten, dass ich sie wirklich gut kannte. Genau genommen war eigentlich immer ich derjenige, der redete, während sie aufmerksam zuhörte. Vielleicht hatte ich deswegen sogar selbst vorgeschlagen, sie einmal einzuladen, um endlich einmal mehr über sie zu erfahren. Wahrscheinlicher war jedoch, dass Jan oder Franzi sie an einem ihrer Lesenachmittage im Café aufgefordert hatten, abends zum Essen vorbeizuschauen.
Als es an der Tür klingelte, war Jan gerade in der Küche beschäftigt, die Nudeln abzugießen, sodass ich schnell in den Flur lief, um zu öffnen.
„Wow!“, entfuhr es mir, als ich Betti vor mir stehen sah: Die blonden Haare, die im Café immer zusammengebunden waren, fielen ihr nun lockig über die Schultern. Das blaue Sommerkleid, das ihr bis zu den Knien reichte, hatte dieselbe Farbe wie ihre Augen.
„Selber Wow“, gab sie grinsend zurück, auch wenn ich nicht wusste, was an meiner Jeans und dem kurzärmligen Hemd, das mein Bäuchlein ein wenig kaschierte, bitte „Wow“ sein sollte. Einen Moment lang standen wir unschlüssig voreinander.
„Darf ich?“, fragte sie schließlich und nickte in Richtung Wohnungs-Flur.
„Verdammt, natürlich! Tut mir leid!“ Ich wich einen Meter zurück, damit sie hereinkommen konnte, und fühlte mich wie der letzte Idiot. Wenigstens war ich so schlau, ihr die Plastikschüssel, in der sich wahrscheinlich der Nachtisch befand, abzunehmen. Ich wollte Betti allerdings nicht allein hier stehen lassen. Mit in die Küche konnte ich sie und die Schüssel aber wahrscheinlich auch nicht nehmen, ohne zu riskieren, dass es dort zu eng werden würde. Also stand ich wieder ein wenig unbeholfen vor ihr herum, mit der dummen Schüssel in der Hand. Bevor sich die Stille zwischen uns noch weiter ausbreiten konnte, kam Gott sei Dank Jan in den Flur, um Betti zu begrüßen, und erlöste mich aus meiner peinlichen Lage.
„Wie geht es ihr?“, fragte Betti mit dem Blick in Richtung Küche, wo Franzi gerade das Gulasch in eine Porzellanschüssel füllte. Ich konnte nicht anders als aufzulachen, hatte ich doch vor nicht einmal einer Stunde bei meiner Ankunft genau dieselbe Frage gestellt.
„Ihr seht es doch“, erwiderte Jan nun auch leicht genervt. „Es geht ihr gut. Also hört endlich auf damit! Ob Ihr es glaubt oder nicht, sie weiß, dass Ihr mich jedes Mal fragt, und sie will nicht mehr behandelt werden wie eine Schwerkranke!“
„Wir machen uns doch nur Sorgen“, sagte Betti leise.
„Ich weiß“, gab Jan nun etwas ruhiger zurück, als er merkte, dass seine kleine Standpauke uns wirklich naheging. „Aber es ist jetzt schon eine ganze Weile her. Wir kommen damit zurecht. Trotzdem mag ich nicht unbedingt jedes Mal an das, was passiert ist, erinnert werden, wenn wir uns sehen. Also lasst es einfach gut sein. Wir melden uns, wenn wir Hilfe brauchen. Versprochen.“
Betti und ich warfen erst einander und dann Jan einen Blick zu und nickten schließlich.
„Und Michi?“, fragte ich.
„Auch sie weiß Bescheid und wird hoffentlich nicht immer wieder nachfragen, wenn es keinen wirklichen Grund dazu gibt.“
„Einen Grund wofür?“, hörten wir auf einmal Franzi hinter uns. Jans Augen wurden kreisrund.
„Dich allein in der Küche werkeln zu lassen, während wir uns hier im Flur über den Nachtisch hermachen“, erwiderte Betti lächelnd, als hätten wir nie über etwas Anderes gesprochen. Sie berührte Franzi, die mit dem Gulasch vor uns stand, zur Begrüßung kurz am Arm. „Komm, gib mir das schon einmal. Dann kann ich mich wenigstens ein wenig nützlich machen, wenn ich mich schon bei Euch durchfuttern darf. Oh, riecht das gut! Pass bloß auf, dass ich das hier nicht alles allein esse!“ Bevor Betti mit der Schüssel ins Wohnzimmer verschwand, schaute sie noch einmal über die Schulter zurück und zwinkerte uns zu.
„Dann lass uns mal sehen, dass wir für das hier noch einen Platz im Kühlschrank finden.“ Jan deutete auf die Plastik-Schüssel, die ich immer noch in den Händen hielt. Unmerklich hatten wir beide aufgeatmet, als Betti uns so geschickt aus der Situation herausmanövriert hatte. Nun machten wir uns auf in die Küche, um den Nachtisch kalt zu stellen und den Rest des Abendessens ins Wohnzimmer zu bringen, wo schon der gedeckte Tisch auf uns wartete.
„Puh, ich weiß nicht, wann ich zuletzt so viel gegessen habe!“, stöhnte Jan nach dem Essen und rückte mit seinem Stuhl ein Stück vom Tisch ab.
„Da bist Du nicht der Einzige!“, schloss sich Franzi dem Gejammer an. Wir hatten zu viert alles weggeputzt und hielten uns nun die gut gefüllten Bäuche.
„Aber ich habe doch auch noch Nachtisch mitgebracht“, protestierte Betti halbherzig. „Mousse au Chocolat!“
Bei der Aussicht auf noch mehr Essen rissen wir alle panisch die Augen auf.
„Vielleicht nach einer Pause“, ergänzte sie halbherzig und lächelte gequält. Auch bei ihr war anscheinend gerade nicht mehr wirklich viel Platz.
Während des Abendessens hatten wir über dies und das gesprochen. Wieder einmal war auch die Suche nach einem neuen Mitbewohner für meine Wohnung eines unserer Gesprächsthemen. Seit Jan aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, hatte ich immer mal wieder jemanden für das leerstehende Zimmer gefunden. Aber oft waren es in der Tat Studenten im ersten Semester, die entweder nach ein paar Wochen das Handtuch schmissen, weil das Studium anscheinend doch nicht das war, was sie sich vorgestellt hatten. Oder aber das Studentenleben wurde dermaßen ausgiebig gefeiert, dass es für mich, der schon im Berufsleben stand, auf Dauer nicht erträglich war, weil ich nach einer anstrengenden Schicht im Restaurant einfach ein wenig Ruhe brauchte. Irgendwann hatte ich Studienanfänger direkt abgelehnt, auch wenn vielleicht der Ein oder Andere unter den Bewerbern ein angenehmer Mitbewohner gewesen wäre. Aber ich hatte einfach keine Lust mehr, es darauf ankommen zu lassen. Dafür war ich einmal zu oft über Alkoholleichen geklettert, um die Musik leiser zu machen, wenn ich nachts von der Arbeit nach Hause kam und in meiner Abwesenheit mal wieder eine Party gefeiert worden war.
„Ich werde nie die Nacht vergessen, in der ich in meinem Schlafzimmer eine wildfremde Frau vorgefunden habe. Die Gute hatte sich einfach mal zum Schlafen in mein Bett gelegt, als es ihr zu viel wurde.“ Beim Gedanken an den Schock, als ich, schon im Halbschlaf, unter die Decke kroch und feststellte, dass ich nicht allein war, musste ich heute, ein paar Monate später, immer noch fassungslos mit dem Kopf schütteln.
„Andere hätten sich vielleicht über so eine Überraschung gefreut“, gab Jan grinsend zu bedenken und verzog kurz darauf schmerzverzerrt das Gesicht, als Franzi ihn mit einem Tritt unter dem Tisch zum Schweigen brachte.
„Glaub mir, ihr markerschütternder Schrei und mein Plumps auf den Boden, als ich rückwärts aus dem Bett fiel, hätten jede noch so kleine Freude zunichtegemacht.“, antwortete ich. Gedankenverloren schwenkte ich das Glas Wein in meiner Hand hin und her. „Es muss doch auch noch vernünftige Mitbewohner geben. Allein kann ich auf Dauer die Wohnung nicht halten.“
Jan nickte verständnisvoll, hatte er doch aus genau diesem Grund damals mich bei sich einziehen lassen. Auch ihm war es lieber gewesen, mit einem Berufstätigen zusammen zu wohnen. Als er mit Franzi zusammengezogen war, hatte er mir die Wohnung überlassen. Ich fühlte mich dort ausgesprochen wohl. Umziehen kam für mich nicht infrage, solange ich es vermeiden konnte. Doch das leere Zimmer war mir auf Dauer einfach zu deprimierend, von der Miete, die ich nun allein zu zahlen hatte, ganz zu schweigen.
„Hast Du schon mal daran gedacht, einen Flüchtling bei Dir aufzunehmen?“, fragte Betti auf einmal. Erst jetzt fiel mir auf, wie still sie den ganzen Abend über gewesen war. Sie hatte sich immer wieder an unseren Gesprächen beteiligt. Aber wie auch im Café hatte sie die meiste Zeit zugehört.
„Einen Flüchtling?“, fragte ich nach.
„Naja, es gibt im Moment viele von ihnen in der Stadt, die Hilfe brauchen und unter wirklich unmenschlichen Bedingungen wohnen. Und es werden immer mehr. Die Stadt sucht händeringend nach Unterkünften und übernimmt sogar zumindest teilweise die Kosten für die Miete. Es gibt Flüchtlinge, die in Mentoren-Programmen untergebracht sind oder ein Praktikum machen und damit schon ein wenig Geld verdienen, um für ihre Verpflegung aufzukommen. Was ihnen aber noch fehlt, ist eine halbwegs angemessene Bleibe und ein Bisschen mehr Kontakt zu den Deutschen. Deswegen sind gerade WGs oder Zimmer bei Familien sehr gefragt, um diese Menschen noch besser in unserer Gesellschaft zu integrieren. Hin und wieder kommen Leute von der Stadtverwaltung in mein Café. Dann schnappe ich so was auf.“
Ich weiß nicht, ob ich Betti schon jemals so lange an einem Stück sprechen gehört habe, und auch sie schien von ihrer kleinen Rede erschöpft zu sein. Wie ein Luftballon, aus dem man die Luft gelassen hat, lehnte sie sich nun zurück und sah mich erwartungsvoll an. Einen Moment lang sagte ich gar nichts und ließ ihre Worte auf mich wirken. Über diese Option hatte ich noch nie nachgedacht, oder, besser gesagt, gar nicht von ihr gewusst.
„Das ist doch bestimmt mit jeder Menge Papierkram verbunden“, gab ich zu bedenken.
„Aber der lässt sich bewältigen. Auf ein paar Wochen mehr oder weniger kommt es doch nicht an, oder? Und wenn Du damit einem Menschen eine Perspektive bieten kannst, ist es das doch wert. Und außerdem,“ sie hob bedeutungsvoll den Finger, „weiß der bestimmt, dass er sich nicht einfach in Dein Bett legen darf.“