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Kapitel 2

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Betti

Anfangs schob mein Vater es auf das südländische Temperament meiner Mutter. Sie war eben Italienerin, sagte er sich. Immerhin waren es diese großen Emotionen, in die er sich verliebt hatte, als er bei meinen Großeltern arbeitete. Gegensätze ziehen sich eben an, sagte er sich. Er hatte nie eine Frau gewollt, die ruhig und in sich gekehrt war. Keine Frau, die, wie er, immer erst alles gründlich abwog und angestrengt über jedes Detail nachdachte, sondern eine Frau voller Energie und Spontaneität. Eben eine Frau wie meine Mutter. Und so störte es ihn zuerst auch nicht, wenn sie vor Aufregung schrie und keifte und die Türen zuknallte, als sie frisch verheiratet in ihre erste gemeinsame Wohnung gezogen waren. Als Maria zum ersten Mal während eines Streits Porzellan durch die Küche warf, schob er es auf die Schwangerschaftshormone und ließ sie gewähren. Stumm kehrte er die Scherben auf, als sie aus der Wohnung stürmte, im festen Glauben, dass der Ärger sich legen würde. Und meistens behielt er ja auch recht.

Erst als ich auf der Welt war und sie während eines Streits wieder einmal aus Wut zu einem Glas griff, um es an die Wand zu schmeißen, gebot er ihr Einhalt. In ihren Augen las er den Groll und spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte, als er auf sie zukam und ihr das Glas aus der Hand nahm. Bevor sie protestieren und ihrem Ärger weiter Luft machen konnte, schüttelte er stumm den Kopf, umfasste ihre bebenden Arme mit beiden Händen und nickte mit dem Kopf in meine Richtung. Er gab sich Mühe, diese Geste dezent zu halten, aber ich nahm sie trotzdem wahr. Ich saß auf dem mir angestammten Platz am Küchentisch beim Mittagessen. Mama folgte seinem Blick und starrte mich an, am ganzen Körper zitternd. Sie atmete so schwer, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. In ihren Augen las ich immer noch die kochende Wut. Bei meinem Anblick weiteten diese sich jedoch, als würde ihr jetzt erst klar, dass sie nicht allein hier in der Küche waren. Wortlos wandte sie sich wieder meinem Vater zu und nickte ihm kurz zu. Sie hatte verstanden. Mit einem Mal hörte das Zittern auf und sie ließ sich auf einen der freien Stühle fallen, als hätte damit auch jegliche Kraft ihren Körper verlassen. Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen und begann, leise zu schluchzen. Dabei murmelte sie irgendetwas auf Italienisch, das ich nicht verstand. Mein Vater strich ihr mit dem Arm immer wieder beruhigend über den Rücken.

Meine Erinnerung an diese Szene ist sehr blass, also kann ich noch nicht besonders alt gewesen sein. Aber ich hatte bereits zu dieser Zeit gelernt, immer leise zu sein und den Kopf einzuziehen, wenn Mama in dieser Verfassung war. Alles konnte sie wütend machen. So war auch dieser Streit durch eine Kleinigkeit entstanden, so unbedeutend, dass ich Dir noch nicht mal mehr sagen kann, um was es eigentlich ging. Aber diese Ausraster passierten mit der Zeit immer häufiger. Nur an den Abenden, wenn meine Nonna auf mich aufpasste und Mama arbeiten musste, war sie in bester Stimmung, sodass die Gäste bei Giovanni nicht bemerkten, was sich bei uns zu Hause abspielte.


Nach ihren Schichten war Mama oft so ausgelaugt, dass sie tagelang im Bett lag. Alles strengte sie an. „Ich bin so müde“, sagte sie an solchen Tagen immer, „so unendlich müde.“ Dementsprechend viel schlief sie. An diesen Tagen umsorgten Papa und ich meine Mutter, als wäre sie das Kind in unserer Familie und nicht ich. Wir brachten ihr ein Tablett mit Essen ans Bett, das ich in den meisten Fällen unangetastet zurück in die Küche nahm. Manchmal legte Papa einen Schokoriegel mit dazu. Den ließ ich dann in einem unbemerkten Moment in meiner Tasche verschwinden, wenn Mama ihn mit der restlichen Mahlzeit zurückgehen ließ. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater die Schokolade in Wirklichkeit für mich dort deponierte oder ob er wirklich dachte, meine Mutter würde alles außer den Süßigkeiten verschmähen. Aber ich denke eher, dass der Riegel wirklich für mich bestimmt war. Vielleicht war er als Trostpflaster oder Entschädigung gedacht. Immerhin musste Papa dafür sorgen, dass wir finanziell über die Runden kamen. Wenn Mama mal wieder im Bett lag, unfähig, ihre Schichten im Restaurant zu übernehmen, musste er einspringen. Oft war dies auch kurzfristig der Fall, sodass er mich gerade an Abenden, wenn es spät werden würde, mit ihr allein zurücklassen musste, wenn niemand auf mich aufpassen konnte. „Du bist mein großes Mädchen“, sagte Papa dann immer. Und ich nickte, stolz darauf, dass er mir so vertraute.

Ich war froh, den Schokoriegel zu haben. Welches Kind isst nicht gern etwas Süßes? Und die Kau- und Schmatz-Geräusche aus meinem Mund, wenn ich ihn abends im Bett langsam aß, übertönten wenigstens für kurze Zeit das Weinen und Schluchzen meiner Mama, das durch die Wände im Schlafzimmer zu mir durchdrang.

Philip

Der Papierkram, den man ausfüllen musste, um einen Flüchtling zu beherbergen, hielt sich wider Erwarten wirklich in Grenzen. Wie Betti vorhergesagt hatte, waren die Leute von der Stadtverwaltung froh, einige von ihnen aus den behelfsmäßigen Quartieren in richtigen Unterkünften unterbringen zu können, sodass die bürokratischen Hürden so niedrig wie möglich gehalten wurden. Sie luden mich zum Stammtisch „Hier sind wir!“ ein. Dort trafen sich alle zwei Wochen Familien oder Mitbewohner, die sich wie ich dazu entschlossen hatten, einem Flüchtling ein Zuhause anzubieten, um sich über ihre Erfahrungen mit diesen auszutauschen. Auch über die Erlebnisse mit den Verwaltungen und diversen Integrationsprogrammen wurde geredet. Einmal im Monat fanden diese Treffen zusammen mit den jeweiligen Flüchtlingen statt. Gebannt lauschte ich den Berichten der Teilnehmer und machte mir eifrig Notizen. Freundlich schüttelte ich die Hände von Hamid, Yussuf und Ferefta, die bereits in „ihren“ Familien untergebracht waren. Und dann war es endlich soweit: Alle Unterlagen waren unterschrieben. Die Miete für das freie Zimmer wurde bis auf Weiteres von der Stadt übernommen. „Mein“ Flüchtling war momentan bei einem kleinen Malerbetrieb beschäftigt, sodass er jeden Monat ein kleines Gehalt erhielt. Sein Chef war anscheinend sehr zufrieden mit ihm. „Man bekommt ja in dieser Stadt keinen brauchbaren Nachwuchs mehr“, hatte er mir grummelnd erklärt, als ich ihn kennenlernte. Niemand wolle eine Ausbildung im Handwerk machen. Er sei dankbar, einen dermaßen engagierten jungen Mann gefunden zu haben. Hoffentlich würde der Asyl-Antrag genehmigt, sodass er Haitham, den jungen Mann aus Syrien, fest anstellen dürfe.


Aufgeregt stand ich vor der Flüchtlingsunterkunft, in der momentan um die 60 Menschen beherbergt wurden. In der Vergangenheit war ich oft an diesem Gebäude vorbeigelaufen, ohne mir Gedanken zu machen, was sich hinter diesen Mauern verbarg. Erst jetzt, bei näherem Hinsehen, wurde mir klar, dass das Haus für so viele Menschen gewiss nicht sonderlich viel Platz bot. Auch die Demonstrationen gegen Flüchtlinge, die sich in regelmäßigen Abständen vor dieser Unterkunft abspielten, hatte ich bislang geflissentlich ignoriert.

Ungeduldig wartete ich auf die Leiterin Frau Meyr, die in dem Gebäude verschwunden war, um „meinen“ Flüchtling abzuholen.

Ein Teil von mir, der feige und auch ein wenig selbstsüchtig war, wollte die Gelegenheit nutzen und unbemerkt in einer der Nebenstraßen verschwinden. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich konnte doch kaum für mich selbst sorgen, und nun sollte ich dermaßen viel Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen? Ihm Deutschland und seine Sitten und Gebräuche erklären? Ihn „integrieren“? Dafür sorgen, dass er sich hier heimisch fühlte? Oh Gott, Philip, wie konntest Du nur so dumm sein und all das auf Dich nehmen? Ich spürte, wie ich zu hyperventilieren begann. Doch dann zwang ich mich zur Ruhe. Ich erinnerte mich an die Gespräche mit Frau Meyr, die dafür Sorge zu tragen hatte, dass die Menschen, die bereit waren, einen Flüchtling bei sich aufzunehmen, auch wirklich dafür geeignet waren. Sie hatte mir immer wieder versichert, dass Unterstützung da war, sollte ich mich einmal überfordert fühlen. Haitham aufzunehmen würde keinesfalls bedeuten, dass die Betreuung von der Stadt damit abgeschlossen war. Ich erinnerte mich an die lächelnden Gesichter am Stammtisch. Diese Familien waren so froh darüber, etwas Gutes tun zu können und die heikle Situation, in der sich das Land gerade befand, etwas entschärfen zu können. Auch die Flüchtlinge, die die Chance bekamen, nicht in einer dieser engen Behausungen wohnen zu müssen, machten einen alles andere als unzufriedenen Eindruck. Und nicht zuletzt dachte ich an Betti: „Du bietest damit einem Menschen eine Perspektive“, hatte sie gesagt. Als sie über die Möglichkeit sprach, einem Menschen zu helfen, hatte sie so überzeugt geklungen, dass für mich überhaupt kein Zweifel bestanden hatte, das Richtige zu tun. Ihr Strahlen hatte den ganzen Raum erhellt. Und wieder wurde mir bewusst, wie wenig ich doch eigentlich von ihr wusste.

Frau Meyr riss mich aus meinen Gedanken. Unbemerkt war sie wieder neben mich getreten, einen jungen Mann mit einem Rucksack an ihrer Seite.

„Herr Neuer, das hier ist Haitham.“, stellte sie mir ihren Begleiter vor.

„Hallo Haitham, ich bin Philip.“ Wir gaben uns die Hand. Abwartend. Vorsichtig. Wie scheue Tiere, die sich erst einmal beschnuppern müssen. Als könnten wir einander durch einen simplen Händedruck verletzen.

„Danke, Philip“, sagte Haitham schließlich leise. Ich lächelte ihm aufmunternd zu.

„Dann wollen wir mal!“, sagte Frau Meyr fröhlich, bevor sich ein unangenehmes Schweigen zwischen uns beiden ausbreiten konnte. Also schulterte Haitham seinen Rucksack und wir liefen hinter Frau Meyr her in Richtung meiner Wohnung. Auf dem Weg dorthin hatte ich Zeit, mir meinen neuen Mitbewohner ein wenig genauer anzuschauen: Haitham musste Mitte 20 sein, also jünger als ich mit meinen 32 Jahren. Seine dunkle Jeans und das karierte Hemd, das er an den Armen hochgekrempelt hatte, ließen eine sportliche Figur vermuten. Seine dunklen Augen, die sich hinter einer dunkel gerahmten Brille versteckten, hatten einen aufmerksamen, fast etwas gehetzten Blick. Auf seinem Kopf kräuselten sich schwarze Locken. Den ganzen Weg lang umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen, das mir den Großteil meiner Zweifel nahm. Es wird schon klappen, sprach ich mir selbst Mut zu.


Zu Hause angekommen zog Frau Meyr sich diskret in die Küche zurück, damit ich Haitham als Allererstes ungestört sein Zimmer zeigen konnte. Der freie Raum in meiner Wohnung war spärlich eingerichtet worden, aber sollte alles Nötige bieten. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein neuer Mitbewohner ja nichts als einen großen Rucksack mitgebracht hatte, sodass mir das Zimmer auf einmal wirklich karg vorkam. „Es ist nichts Besonderes“, entschuldigte ich mich. „Wir können ein wenig Deko kaufen oder schauen, ob Dir sonst etwas fehlt.“

Energisch schüttelte mein neuer Mitbewohner den Kopf: „Das hier ist Paradies!“, erwiderte er energisch mit einem leichten Akzent, und fügte dann wieder leiser hinzu: „Danke, Philip.“

„Jaja, ist gut jetzt“, winkte ich ab und klang dabei ein wenig resoluter als ich es eigentlich wollte. Diese riesige Dankbarkeit hatte ich nicht erwartet, und die Situation war mir nun doch ein wenig unangenehm. Zumal ich vor dem Wohnheim ja in der Tat noch kurz darüber nachgedacht hatte, mich auf dem Absatz umzudrehen und davon zu laufen. Durch das Leuchten in Haithams Augen fühlte ich mich jetzt schlecht dafür. Damit ich nicht noch weiter ins Grübeln kommen konnte, berührte ich ihn kurz am Arm und sagte: „Komm, ich zeig Dir den Rest der Wohnung.“

Betti

Ich habe Papa nie gefragt, wie er das sah, aber als die Phasen, in denen meine Mutter im Bett lag, vor sich hin weinte und kaum etwas aß, zunahmen, wünschte ich mir fast die jähzornige Frau zurück, die Sachen durch die Gegend warf und unzusammenhängende Sätze auf Italienisch schrie. Zu dieser Zeit war uns beiden längst klar, dass dieses Verhalten, das sie an den Tag legte, alles andere als normal war.

Als ich eines Tages aus der Schule nach Hause kam, stand unser Hausarzt an Mamas Bett und packte gerade die Spritze wieder ein, die er ihr offensichtlich gerade verpasst hatte. Mein Papa, der auf der anderen Seite des Bettes stand, hatte einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. Ich blieb im Flur stehen und traute mich nicht so richtig, zu den Erwachsenen zu stoßen. In mein Zimmer gehen wollte ich aber auch nicht. Was war los mit meiner Mama? Ich schnappte die Worte „Zusammenbruch“ und „Antidepressivum“ auf, Worte, die ich nicht verstand, aber sie klangen gefährlich. Um mehr hören zu können, ging ich einen Schritt in Richtung Schlafzimmer. Leider entdeckte mein Vater mich in diesem Moment, ging mit einem ernsten Blick auf mich zu und schloss die Tür von innen, sodass ich nicht mehr die Möglichkeit hatte, zu lauschen. Frustriert machte ich mich auf in mein Zimmer, wo ich vor mich hinstarrte. An meine Hausaufgaben konnte ich nun wirklich nicht denken. Aber etwas Anderes konnte ich gerade auch nicht tun. Also kramte ich seufzend in meiner Tasche nach meinen Büchern und versuchte es wenigstens, bis ich später die Haustür gehen hörte. Der Arzt schien gegangen zu sein.


„Was ist mit Mama?“, fragte ich Papa beim Abendessen. Über Marias Zustand zu sprechen war eigentlich ein Tabuthema für uns zwei. Mein Vater und ich hatten während der Phasen, in denen meine Mutter kaum aus dem Bett aufstehen konnte, eine traurige Routine entwickelt: Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, hatte Papa schon Mittagessen gekocht und versucht, Mama zum Essen zu bewegen. Wir beide aßen gemeinsam am Tisch, überwiegend schweigsam. Ich erzählte kurz von der Schule, Papa berichtete ein wenig von seiner Schicht letzte Nacht oder richtete Grüße von meinen Großeltern aus. Oft kochte auch Nonna für uns, wenn Papa mittags ins Lokal musste oder zum Einkaufen unterwegs war. Nachmittags erledigte ich meine Hausaufgaben. Abends kümmerte ich mich in der Regel um Mama, da Papa nun fast immer arbeiten musste und Nonna nicht da war. Nonno ging es immer schlechter, sodass mein Vater in der Küche des Restaurants die Führung übernahm. Meistens schmierte ich ein paar Brote oder wärmte Reste vom Mittagessen auf. Wenn Mama nicht gerade schlief, erzählte ich ihr von meinem Tag oder las ihr ein paar Seiten vor. Ich kämmte ihre Haare, die von ihrem Kopf abstanden wie ein großes Vogelnest. Anschließend fiel ich selbst ins Bett, wo ich dann aus Gewohnheit noch meinen Schokoriegel aß, bevor dann auch ich einschlief. Manchmal hörte ich nachts die Wohnungstür gehen, wenn Papa von der Arbeit nach Hause kam. Dann hörte ich, wie sich die Tür zu meinem Zimmer leise öffnete und er den Kopf reinsteckte, um nach mir zu sehen. Ich stellte mich schlafend, damit er sich keine Sorgen machte, dass ich noch wach im Bett lag. Doch oft schlief ich in der Tat einfach durch und hörte ihn erst gar nicht, bis morgens der Wecker klingelte. Dann begann der ganze Kreislauf von vorn.

Ob ich nachmittags nach den Hausaufgaben vor die Tür kam, hing davon ab, wie viel Aufmerksamkeit meine Mutter forderte. Freunde hatte ich nicht wirklich. Von Natur aus war ich eher still und zurückhaltend wie mein Vater. Hinzu kam die Situation zu Hause: Ich wusste, dass das, was wir erlebten, nicht der Normalität entsprach. Was sich in unseren Wänden abspielte, ist nichts, mit dem man hausieren geht. Also sprach ich nicht darüber. Da die Pflege meiner Mutter während dieser Phasen allerdings mehr oder weniger meinen kompletten Alltag bestimmte, gab es nicht viel Anderes, über das ich reden konnte. Also ließ ich es einfach. In der Schule war ich nicht schlecht, aber durch die Sorge um meine Mutter vollbrachte ich natürlich auch keine Höchstleistungen.


Nach einiger Zeit waren mein Vater und ich, wie gesagt, recht gut aufeinander eingespielt. Wie lange wir so nebeneinander her lebten, kann ich gar nicht so genau sagen. Immerhin gab es zwischendurch ja auch immer wieder Momente, in denen meine Mutter ganz normal am Leben teilnahm, als hätte es diese Episoden vorher nie gegeben. Auch Papa und ich taten dann einfach so, als wäre nichts gewesen. Der Arztbesuch an jenem Tag hatte unsere Routine jedoch durchbrochen und Papa saß mit mir beim Abendessen. Ins Restaurant wollte er erst später. Deswegen hatte ich mir nun ein Herz gefasst und sprach Papa auf Marias Zustand an.

„Was ist mit Mama?“, fragte ich also.

Papa sah von seinem Brot auf und zog die Augenbrauen nach oben. Mit diesem Tabubruch hatte er wohl nicht gerechnet.

„Was soll mit ihr sein?“, versuchte er der Frage auszuweichen. Aber ich war mittlerweile schon 15 Jahre alt. In diesem Alter verlangt man Antworten und lässt sich nicht mehr einfach so abspeisen. Vielleicht war es auch der erste vorsichtige Akt der Rebellion eines pubertierenden Teenagers, der mich weiterfragen ließ.

„Der Arzt war heute da. Was ist los?“, wiederholte ich.

Einen Moment lang überlegte Papa. Er ließ sich Zeit mit der Antwort und biss noch einmal in aller Seelenruhe in sein Brot. Aber mein Blick machte ihm wohl deutlich, dass ich nicht lockerlassen würde, bis er mir etwas sagte. „Mama geht es schlecht“, sagte er schließlich.

Fast hätte ich aufgelacht und „Was gibt es Neues?“ gefragt. Aber ich riss mich zusammen und wartete, dass er weitersprechen würde.

„Du weißt ja, dass sie viel schläft in letzter Zeit. Sie scheint keine Energie mehr übrig zu haben für irgendetwas Anderes. Sie isst kaum noch. Gestern“, er schluckte, „gestern hat sie nicht mal mehr die Kraft gehabt, aufzustehen, um…“, wieder machte er eine Pause und suchte nach den Worten, „um auf die Toilette zu gehen. Sie hat ins Bett gemacht, Betti. Sie hat ins Bett gemacht und es noch nicht einmal gemerkt. Als ich von der Arbeit nach Hause kam, lag sie da in dieser Pfütze, seelenruhig schlafend, als wäre nichts passiert.“ Er brach ab und sah auf seinen Teller mit Broten. Nach ein paar Sekunden schob er diesen mit der Hand von sich weg. Bei der Erinnerung daran, wie er Maria letzte Nacht vorgefunden hatte, verschlug es ihm wohl den Appetit. „Ich musste sie waschen wie ein Kind“, sagte er leise, immer noch auf den Tisch vor sich starrend. „Deswegen habe ich heute Morgen den Arzt gerufen. So kann es nicht weitergehen.“ Wieder grübelte er einen Moment lang vor sich hin. Erst dann schien ihm klar zu werden, dass er diese Geschichte gerade seiner Tochter erzählt hatte. Vorsichtig sah er zu mir herüber. Wie hatte ich das Ganze aufgefasst?

Ich kann nicht sagen, dass ich sonderlich schockiert war. Angewidert, überrascht, natürlich. Aber wirklich schockiert? Nein. Zu sagen ich hätte das alles kommen sehen wäre natürlich nicht wahr. Vielleicht ließ ich diese Nachricht auch einfach nicht richtig an mich heran. Aber dass Mama krank war, hatten wir doch schließlich beide gewusst. Ich nickte zum Zeichen, dass ich alles zur Kenntnis genommen hatte. „Was hat der Arzt gesagt?“, fragte ich ihn. Für mehr fehlten mir dann doch die Worte.

„Sie bekommt jetzt Tabletten, die ihr hoffentlich helfen werden.“

„Weiß Nonna Bescheid?“

„Ich treffe die beiden gleich vor der Arbeit.“ Bei dem Gedanken an das Gespräch mit meinen Großeltern sah mein Vater noch eine Spur unglücklicher aus. Auf der anderen Seite konnte seine Erzählung auch für die beiden keine riesige Neuigkeit sein. Seit Monaten war Maria nun schon nicht mehr ins Restaurant zum Arbeiten gekommen und hatte sich nicht bei meinen Großeltern blicken lassen. Wenn Nonna bei uns zu Hause vorbeischaute, sah sie, in welchem Zustand ihre Tochter sich meistens befand. Aber auch wir sprachen nie über Mama. Ob sie es mit meinem Vater anders hielten, weiß ich nicht. Vielleicht wollten die Erwachsenen mir das Ganze so weit wie möglich ersparen, auch wenn das natürlich nicht ging.

Diese Dunkelheit, die Mama umgab, war nicht zu übersehen. Doch weder Papa noch ich ahnten, dass das hier erst der Anfang war.


Anfangs schienen die Tabletten wirklich zu helfen. Die Phasen, in denen Maria morgens aufstand, ihrer täglichen Routine im Badezimmer nachging und anschließend wieder in der Küche stand und sich ums Mittagessen kümmerte, nahmen wieder zu. Auch im Restaurant ließ sie sich hin und wieder blicken und übernahm wieder ein paar Schichten. Die Gäste gaben ihr das Gefühl, sie vermisst zu haben, was ihr zusätzlichen Auftrieb verschaffte. Dadurch schöpften Papa und ich vorsichtig Hoffnung, dass alles wieder so werden würde wie früher. Doch bei genauem Hinsehen erkannten wir, dass nicht alles genauso war wie zuvor: Die Tabletten sorgten dafür, dass Maria es morgens aus dem Bett schaffte. Sie konnte wieder vor die Tür gehen. Und Menschen, die sie nicht so genau kannten, nahmen diesen Unterschied vielleicht nicht wahr: Aber die Tabletten sorgen auch dafür, dass ihre Emotionen sich in Grenzen hielten. Ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht mehr. Ihre Mundwinkel hoben sich, als würde jemand sie gegen ihren Willen hochkurbeln, ganz langsam und schwer. Und der Ausdruck in ihren Augen blieb der gleiche, den sie während ihrer wochenlangen Phasen im Bett hatte: Unendlich müde und leer. Oft ertappte ich sie dabei, wie sie tagträumend an den Töpfen stand, wenn ich mittags aus der Schule kam. Sie ähnelte einem Roboter. Ich musste sie aus ihren Gedanken reißen, um zu verhindern, dass vor ihren Augen alles anbrannte. So gewöhnte ich mir irgendwann an, die Wohnungstür mit einem Knallen zu schließen, wenn ich zu Hause eintraf, damit sie wieder zu sich kam. Ich wollte ihr nach dem Schreck einen Moment Zeit geben, sich zu fangen, bevor ich bei ihr in der Küche auftauchte.

Gern hätte ich Papa in dieser Zeit gefragt, ob er sich nicht auch manchmal die energiegeladene, wenn auch jähzornige Frau zurückwünschte, die Maria einmal gewesen war. Aber Mamas Zustand wurde von ihm eher als gegeben hingenommen und nur diskutiert, wenn es unbedingt sein musste. Und wollte ich ihn denn wirklich fragen, ob es ihm nicht manchmal fehlte, Geschirr hinter ihr aufzukehren, das sie vor Wut hingeworfen hatte? Wohl eher nicht. In dieser Zeit, in der die Tabletten ihre Gefühle ein wenig abdämpften, redete Mama gern von Italien. Wenn ich abends an ihrem Bett saß und Papa schon wieder auf der Arbeit war, redete sie von ihrer Familie, die sie dort zurückgelassen hatte. „In den Ferien müssen wir hin, Betti“, sagte sie, „wir müssen einfach!“.

Ich bildete mir ein, dass ihre Augen beim Gedanken daran wenigstens ein Bisschen heller strahlten. Vielleicht war es aber auch nur das Licht der Nachttischlampe, das sich in ihnen wiederspiegelte.

„Du musst doch Deine Familie kennenlernen“, fuhr sie fort.

Bei dem Gedanken daran, nach Italien zu fahren und vielleicht neue Familienmitglieder zu treffen, wurde ich ganz euphorisch. Lebhaft erinnerte ich mich an die Familienfeiern, die in unserem Restaurant abgehalten wurden. So stellte ich mir das Wiedersehen mit unserer Familie in Italien vor. Wenn meine Mutter nach so langer Zeit zurückkam, musste das doch gefeiert werden! Aber als ich versuchte, Nonna und Opa von diesen Gesprächen mit meiner Mutter zu erzählen, warfen sie einander einen Blick zu, den ich nicht verstand.

„Betti“, sagte Nonna irgendwann, nachdem ich ihnen wochenlang mit diesem Thema in den Ohren gelegen hatte, und konnte den leicht genervten Unterton in ihrer Stimme nicht mehr verbergen, „wir haben keine Familie mehr in Italien. Unsere Familie, das sind Dein Großvater, Deine Mutter und ich. Wir sind zusammen nach Deutschland gekommen und haben niemanden in Italien zurückgelassen. Es gibt nur uns drei.“


Ein paar Tage nach diesem Gespräch habe ich mit dem Laufen angefangen. Mama war nun wieder einigermaßen in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen, sodass mir nachmittags ein wenig Zeit blieb, nachdem ich die Hausaufgaben erledigt hatte. Immer noch hatte ich keine Freunde, die ich nach der Schule treffen konnte, sodass ich den Leerraum, der eigentlich der Pflege von Maria vorbehalten gewesen war, nun anderweitig füllen musste. Aber abgesehen von der Zeit, die ich nun totzuschlagen hatte, lief ich, um diese Flut an Gedanken zu bewältigen, die auf mich einprasselten wie ein Wasserfall. Ich war so unendlich froh, dass Mama wieder sprach! Dass sie aus dem Bett, aufstand, sich wieder wusch, einfach wieder Mama war! Doch das, was sie sagte, ergab anscheinend keinen Sinn. Es gab niemanden, den sie in Italien zurückgelassen hatte, sagte Nonna. Auf der anderen Seite: Warum sollte Mama lügen? Warum sollte sie eine Familie erfinden, die es in Wirklichkeit gar nicht gab? Und wenn sie erfunden war, warum war sie dann so euphorisch, wenn sie darüber sprach? Waren ihre Eltern, Papa und ich ihr denn nicht genug? Wer sagte denn nun die Wahrheit? Dieses Gedanken-Karussell stand einfach nicht mehr still. Morgens wachte ich auf und es drehte sich bereits. Wenn ich abends im Bett lag, wurde mir regelrecht schwindlig davon. In der Schule ging es unermüdlich weiter, sodass mein Lehrer mich oft am Arm berührte, weil er mir eine Frage gestellt hatte und ich nichts mehr von dem mitbekam, was um mich herum vor sich ging. Nur wenn ich lief, wurde das Drehen langsamer und hörte irgendwann ganz auf. Erst mischten sich das Getrommel meiner Füße und das Wummern meines Herzens mit der Jahrmarktmusik in meinem Kopf. Doch irgendwann übertönten die Geräusche, die mein Körper von sich gab, alles andere. Wenn ich lief, konnte ich aus dem Karussell aussteigen und es wenigstens für einen Moment hinter mir lassen. Es würde auf mich warten und sich munter weiterdrehen, wenn ich zurück nach Hause kam und wieder aufspringen musste.

Philip

Haitham ein neues Zuhause zu bieten war eine tolle Idee gewesen. Endlich hatte ich wieder Leben in der Wohnung. Die ersten zwei Wochen hatte ich meine Schicht im Restaurant auf den Mittag gelegt, sodass ich zu Hause war, wenn Haitham von der Arbeit heimkam. So konnten wir ein wenig Zeit miteinander verbringen und uns in Ruhe kennenlernen. Manchmal gestaltete sich die Kommunikation ein wenig anstrengend: Seine Deutschkenntnisse wurden immer besser, aber waren hin und wieder eben doch noch ein wenig gebrochen. Aber er lernte wirklich schnell und war ein wirklich angenehmer Mitbewohner.

Eines Abends, wir teilten uns nun schon seit etwa drei Wochen unsere Wohnung, kam ich vom Einkaufen nach Hause. Schon im Treppenhaus begrüßte mich ein wahnsinnig intensiver Duft, bei dem mein Magen direkt ein erwartungsvolles Knurren von sich gab. Je näher ich der Wohnung kam, umso stärker wurde der Geruch, und als ich die Wohnungstür aufschloss, nahm er mir beinahe den Atem. Dazu gesellte sich ein Klappern und Klirren aus der Küche. Einen Moment schloss ich die Augen und ließ den Duft und die Geräuschkulisse vom Flur aus auf mich wirken. Ich versuchte, einzelne Komponenten herauszufiltern, aber das gestaltete sich als schwierig. Es roch wahnsinnig exotisch. War das Koriander? Und Knoblauch? Ja, da war eindeutig Knoblauch. Ich konnte mich gar nicht satt riechen. Ein neuerliches Knurren meines Magens ließ mich schließlich meine Augen wieder öffnen. Ich schüttelte kurz den Kopf über mich selbst. Wie das wohl aussehen musste: Der dicke Koch mit der Einkaufstüte, die Nase hochgereckt, schnüffelnd mit geschlossenen Augen im Wohnungsflur. Noch nicht einmal die Tür hatte ich hinter mir geschlossen. Grinsend holte ich das nun nach. Dann packte ich meine Tasche mit den Einkäufen und steuerte auf die Küche zu. Dort stand Haitham und probierte gerade, was in den Töpfen so verdammt gut roch.

„Was ist das Leckeres?“, fragte ich und schob verlegen ein „Hallo, Haitahm“ hinterher. Wie sollte er denn bitte deutsche Sitten lernen, wenn ich mich hier selbst benahm wie ein Banause?

„Philip!“, rief mein Mitbewohner erfreut aus. Ihm schien mein kleiner Fauxpas gar nicht aufgefallen zu sein. Stattdessen bedeutete er mir mit einer Handbewegung, näher an ihn und das, was er da fabrizierte, heran zu kommen.

Gern kam ich der Aufforderung nach. Neugierig spähte ich in die beiden Töpfe, die da auf dem Herd standen. In einem befand sich anscheinend Reis. Und dann auch wieder nicht. Einen Moment starrte ich auf den Inhalt und versuchte zu erkennen, was sich außer Reis denn noch darin befand. Schließlich gab ich auf. „Was ist das?“, fragte ich Haitham, der neben mir stand und anscheinend mit meiner Frage gerechnet hatte.

„Das ist syrischer Reis“, erklärte er mir stolz. „Reis mit Fadennudeln“, ergänzte er, als er meinen Gesichtsausdruck sah.

„Fadennudeln“, murmelte ich, verkniff mir aber ein erneutes „Was ist das?“ und wandte mich dem anderen der beiden Töpfe zu. Denn aus diesem kam der Geruch, der meinen Magen nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Neugierig hob ich den Deckel an. Die Tomatensoße konnte ich direkt zuordnen. Auch Fleisch meinte ich zu erkennen. Aber was war das?

„Das sind Okras“, kam Haitham mir wieder zu Hilfe, bevor ich überhaupt Zeit hatte, zu fragen. „Gemüse.“

Die Schoten hatten Ähnlichkeit mit Paprika oder Peperoni. Doch ich verkniff mir wieder, nachzufragen, um was genau es sich hier denn handelte. Ich war schließlich Koch! Dass ich Lebensmittel nicht zuordnen konnte, fand ich dann doch merkwürdig. Kopfschüttelnd schloss ich den Topfdeckel wieder und machte mich daran, meine Einkäufe zu verstauen.

„Erwartest Du Besuch?“, fragte ich Haitham, während ich Aufschnitt und Salat im Kühlschrank verstaute.

„Dich!“, erwiderte er.

„Du kochst für mich?“, fragte ich ungläubig.

Haitham nickte und lächelte mich mit großen Augen an.

„Aber für mich musst Du doch nicht so einen Aufwand betreiben!“, protestierte ich.

„Das ist kein Aufwand!“ Haitham machte eine abwertende Handbewegung. „Ich zeige Dir die syrische Küche, das macht Spaß!“ Er machte eine Bewegung in Richtung Wohnzimmer. Ich stellte fest, dass der Esstisch dort schon für zwei Personen gedeckt war. Auf der Arbeitsplatte standen schon zwei fertig angerichtete Schälchen. „Das ist die Vorspeise. In Syrien gibt es immer Vorspeise und Hauptgang.“

Als ich mir die Schälchen näher anschaute, stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Endlich etwas, das ich wiedererkannte! In vielen Bioläden der Stadt hatte sich das Gericht schon etabliert. „Taboulé“, stellte ich fest und nickte anerkennend.

Haithams Gesicht hellte sich auf. „Du kennst es?“

Ich erklärte ihm, dass wir die Vorspeise aus Bulgur, Tomaten, Petersilie und Minze auch hin und wieder auf der Speisekarte unseres Restaurants anboten. Durch die frischen Kräuter war dieser Salat speziell im Sommer ein gefragtes Gericht. Wir setzten uns damit ins Wohnzimmer. Ich nahm eine Gabel und stieß ein begeistertes „Hmmm“ aus. Es war einfach perfekt. Gespannt wartete ich auf den Hauptgang.

„Das ist Bamya“, erklärte Haitham mir, als er mir das Fleischgericht mit dem Nudel-Reis-Gemisch reichte.

Ich probierte einen Bissen und hätte mir gern selbst auf die Schulter geklopft: Die Soße war eindeutig mit Knoblauch und Koriander gewürzt. Da hatte meine Nase also recht gehabt! Die Okras schmeckten ein wenig wie Bohnen. Und doch war das Gericht anders als alles, was ich bisher gegessen hatte. Wir aßen überwiegend schweigend, ich gab mich ganz diesem Geschmackserlebnis hin. „Toll!“, brachte ich zwischen zwei Bissen hervor. Dabei stellte ich fest, dass Haitham sehr langsam aß. Ich hatte mittlerweile schon zum zweiten Mal meinen Teller gefüllt, während er immer noch die erste Portion vor sich hatte. „Schmeckt es Dir denn nicht?“, fragte ich deswegen.

Er lachte auf. „In Syrien essen wir so lange, wie der Gast isst. Man hört nie vorher auf. Du isst viel, also muss ich langsam essen.“ Dabei schaute er auf meinen nicht zu übersehenden Bauch. Verlegen wandte er den Blick ab und schlug er sich mit der Hand vor den Mund. „Philip, es tut mir leid, ich wollte nicht…“

Lachend schüttelte ich den Kopf. „Keine Sorge. Ich weiß, dass ich ein wenig zu viel auf den Rippen habe. Nichts, wofür Du Dich entschuldigen musst. Du solltest so etwas aber nie zu einer Frau sagen.“, fügte ich grinsend hinzu. „Da könntest Du Dir mächtigen Ärger einhandeln.“

Ich war froh, dass Haitham nur von Vor- und Hauptspeise gesprochen hatte. Das Bayram breitete sich nach einer Weile sehr in meinem Magen aus, sodass darin für einen Nachtisch nur wenig Platz gewesen wäre. Als wir die Teller abgeräumt hatten, wollten wir uns noch einen Moment lang im Wohnzimmer zusammensetzen. Kurz nach mir kam Haitham mit zwei dampfenden Tassen herein und stellte eine von ihnen vor mir ab. Dann ging er noch einmal zurück in die Küche und holte die Zuckerdose mit zwei Löffeln. „In Syrien trinken wir viel Tee“, sagte er, während er eine beachtliche Menge Zucker in seine Tasse löffelte. „Das ist unser Nachtisch.“

Bei Löffel Nummer fünf zog ich die Augenbrauchen nach oben. „Bist Du sicher, dass…“, setzte ich an. Doch in diesem Moment verrührte er auch schon den Zucker in seiner Tasse und legte den Löffel danach zur Seite, sodass ich mir den Rest sparte. Ich selbst begnügte mich mit zwei Löffeln.

Eine Weile lang nippten wir schweigend an unserem Getränk.

„Danke, Haitham“, sagte ich nach einer Weile. „Das war ein toller Abend.“

„Du gibst Dir so viel Mühe, mir Deutschland zu zeigen. Ich dachte, ich versuche mal, Dir zu zeigen, wo ich herkomme“, antwortete er. „Und wie geht das besser als mit Essen?“

Ich dachte über seine Worte nach. Mit dieser Einstellung rannte Haitham bei mir offene Türen ein. Immer schon hatte ich gern gekocht, um Menschen an denselben Tisch zu bringen. Doch erst jetzt, wo ich darüber nachdachte, wurde mir klar, wie viel unserer Kultur sich eigentlich in der Küche abspielte. Und was für einen besseren Ort gäbe es also, Haitham und auch anderen Flüchtlingen unsere Kultur näherzubringen? „Ich muss mal kurz telefonieren!“, stieß ich hervor und ließ den verdutzten Haitham mit meiner halben Tasse Tee im Wohnzimmer zurück.

Als sie Licht ins Dunkel brachte

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