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I. Kapitel

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San Francisco, USA

Deborah Bloomberg strich sich ihre braune Lockenmähne aus der Stirn, klappte ihren Laptop zu und warf sich schwungvoll ihre Handtasche über die Schulter. Für heute hatte sie genug gearbeitet und freute sich nun darauf, gemütlich zu Hause die Füße hochzulegen.

"Bye Frank, ich mache dann mal Schluss für heute. Die Einladungen sind alle raus", rief sie ihrem Chef, Frank Summers, zum Abschied zu.

"Ok Debbie, schönen Feierabend, den hast du dir verdient. Bis morgen!"

Sie liebte ihren Job, war es doch genau das, wovon sie bereits während ihres Studiums der Kunstgeschichte geträumt hatte. Nachdem sie den Abschluss als Kunsthistorikerin in der Tasche hatte, klapperte sie alle namhaften Galerien Kaliforniens ab, doch ohne ausreichend Erfahrung und Referenzen, standen ihre Chancen leider schlecht. Als sie sich schon beinahe mit dem Gedanken abgefunden hatte, ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs zu meistern, fiel ihr Blick während eines Einkaufsbummels auf das Schild der gerade neu eröffneten "Summers Gallery". Ohne lange zu zögern, spazierte sie durch die Eingangstür. Der Ausstellungsraum war nicht besonders groß, dafür war die Auswahl der Kunstwerke sehr erlesen und die Einrichtung stilvoll, wenn auch schlicht gehalten. Ein sympathischer Herr mit grau meliertem Haar kam ihr entgegen, reichte ihr die Hand zur Begrüßung und stellte sich als Frank Summers vor. Deborah schätze ihn auf Mitte fünfzig, sein freundliches Lächeln und der gütige Blick seiner braunen Augen waren ihr sofort sympathisch.

"Guten Tag, mein Name ist Deborah Bloomberg, ich habe vor einem halben Jahr mein Examen in Kunstgeschichte in Berkeley gemacht und bin auf der Suche nach einem Job. Ich kam gerade an ihrer Galerie vorbei, und die Auswahl der ausgestellten Werke ist sehr geschmackvoll. Bitte verzeihen Sie mir, dass ich derartig mit der Tür ins Haus falle, aber die Ausstellung ihrer Galerie hat sofort meine Begeisterung geweckt. Ich kann nicht mit langjähriger Erfahrung in diesem Beruf oder namhaften Referenzen aufwarten, aber ich bin jung, voller Tatendrang und habe den besten Abschluss meines Jahrgangs absolviert. Bitte geben Sie mir eine Chance."

Frank Summers musterte sie einen kurzen Augenblick, diese junge Frau mit den widerspenstigen, braunen Locken und den aufgeweckten, bernsteinfarbenen Augen, aus denen ihm die Begeisterung entgegen funkelte, war ihm sympathisch. Zwar suchte er nicht nach einer festen Mitarbeiterin, zumal die Galerie noch ganz am Anfang stand und er nicht abschätzen konnte, wie sie sich etablieren würde. Aber Deborahs Begeisterung sprang wie ein Funke auf ihn über und er wollte der ungestümen, jungen Frau gerne einen Versuch zugestehen.

"Na schön, Sie scheinen ja wirklich eine Menge Leidenschaft für diesen Beruf mitzubringen, das ist nicht zu übersehen. Und ein wenig Unterstützung könnte ich hier tatsächlich brauchen. Wie Sie sehen, ist die Galerie noch ganz am Anfang, und es gibt viel zu tun. Aber einen festen Vertrag kann ich Ihnen nicht anbieten, noch nicht. Ich würde sagen, wir versuchen es erst einmal für drei Monate mit ein paar Stunden in der Woche. Einverstanden?"

Deborah konnte ihr Glück kaum fassen, hatte Frank Summers gerade eben wirklich zugestimmt? Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Kühnheit umgehend belohnt würde und war nun um so mehr überwältigt. Am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt und wäre ihm direkt vor Freude um den Hals gefallen, ermahnte sich aber selbst, sich zusammenzureißen, bevor der gute Mann sie doch noch für komplett verrückt hielt.

"Oh Mr. Summers, vielen, vielen Dank! Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen! Ich werde Ihnen beweisen, dass ich die Beste für diesen Job bin."

"Gut, dann fangen wir gleich morgen früh um neun Uhr damit an."

Als Deborah wieder hinaus auf den Bürgersteig trat, hätte sie vor Glück über den Asphalt schweben können. Nun hatte sie ihren ersten richtigen Job und durfte ihr Können unter Beweis stellen.

Das Ganze war nun zehn Jahre her. Seither hat sich die Galerie Summers zu einem absoluten Insidertipp gemausert, was nicht zuletzt auch an Deborahs Engagement und Herzblut lag. Frank wurde im Laufe der Jahre zu ihrem Mentor und väterlichen Freund, vor kurzem hatte er ihr sogar die Teilhaberschaft an der Galerie angeboten. Ein Lebenstraum ging damit für Deborah in Erfüllung. Nun waren sie gerade dabei, eine große Vernissage zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit wollten sie die Umfirmierung zu "Summers & Bloomberg Gallery" bekannt geben. In vier Wochen sollte es soweit sein.

Auf dem Nachhauseweg hielt Deborah kurz bei der Taco Bell Filiale an, die direkt bei ihr um die Ecke lag, um sich ein schnelles TV Dinner mitzunehmen. Sie nahm sich zwar immer wieder vor, sich gesünder zu ernähren und Fast Food zu vermeiden, aber einerseits war es nach einem anstrengenden Arbeitstag sehr viel bequemer so und andererseits war es mit Deborahs Kochkünsten auch nicht besonders weit her, sehr zum Leidwesen ihrer Großmutter Rebecca. Aber wozu hätte sie sich diese Fähigkeiten aneignen sollen? Zu Hause wartete niemand auf sie, noch nicht mal ein Haustier, und für sich allein wollte Deborah nicht extra den Kochlöffel schwingen. Sie ging voll und ganz in ihrem Beruf auf, der ihr aber auch einiges abverlangte, und so fiel sie oftmals abends nach einem langen Tag mit einem Fertiggericht müde auf die Couch.

Großmutter Rebecca war Jüdin und sie zauberte die leckersten Latkes, Rugelach, Challah, Hühnersuppe mit Knaidlach und andere Spezialitäten der deftigen, jüdisch-aschkenasischen Küche. Während der Jahre in Israel kamen noch weitere sephardisch-orientalische Speisen zu ihren Kochkünsten hinzu, wie Hummus, Falafel und Schakschuka. Sie stammte aus einem wohlhabenden Geschäftshaushalt, ihr Vater war Fabrikant und die Familie schon seit Jahrhunderten in Deutschland ansässig. Rebecca war ihr zweiter Vorname, eigentlich hieß sie Gisela Rebecca und wurde von ihren Eltern, ihrer Großmutter und dem Kindermädchen liebevoll "Gisi" genannt. Sie war der Sonnenschein der Familie. Ihre Eltern hatten erst spät geheiratet, ihr Vater war verwitwet und Rebeccas Mutter war seine zweite Frau. Sie hatten schon nicht mehr damit gerechnet, dass der Ewige ihnen noch ein Kind schenken würde und waren über alle Maßen glücklich, als die kleine Gisela Rebecca zur Welt kam. Sie überschütteten die Kleine mit all ihrer Liebe und Fürsorge. Wie viele der assimilierten jüdischen Familien pflegten auch ihre Eltern den Brauch, einen deutschen und einen jüdischen Vornamen auszuwählen. Doch nach allem, was ihr und ihrer Familie im Dritten Reich zugestoßen war, wollte sie nicht mehr an Gisela erinnert und nur noch Rebecca genannt werden.

Deborah wusste nicht viel darüber, was ihrer Großmutter während des Krieges widerfahren war, Rebecca sprach nicht darüber. Sie war der Auffassung, dass man die Vergangenheit besser ruhen lassen sollte. Was würde es bringen, ihre Enkeltochter mit diesem Wissen zu belasten?

Deborah war fast ausschließlich bei ihrer Großmutter aufgewachsen, die sie liebevoll umsorgte und versuchte, ihr Vater und Mutter so gut es ging zu ersetzen. Deborahs Vater war Diplomat und alle paar Jahre verlagerte sich sein Dienstort in einen anderen Teil der Welt. Anfangs hatte ihre Mutter ihn noch begleitet, doch das Nervenkostüm ihrer Mutter war von jeher schwach. Anfängliche Phasen von Niedergeschlagenheit wechselten sich ab mit aufgekratzter Nervosität und wurden schließlich zu massiven Depressionen, Angstzuständen und Panikattacken. Als Deborah drei Jahre alt war, musste ihr Vater schweren Herzens einsehen, dass seine Frau der Verantwortung für Deborahs Obhut nicht mehr gewachsen war und professionelle Hilfe benötigte. Seither war ihre Mutter in einer Nervenheilanstalt untergebracht und lebte dort mehr oder weniger in ihrer eigenen Welt.

Rebecca hatte sich schon in früheren Jahren immer wieder gefragt, warum ihre Tochter oft so still und in sich gekehrt, ja beinahe niedergeschlagen war, fand sich dann aber mit der Erklärung ab, dass es wohl einfach mit einem von Natur aus eher introvertierten Gemüt zu tun hätte. Sie nahm ihre Enkelin zu sich und wollte alles in ihrer Macht stehende tun, um Deborah die Liebe und Fürsorge zukommen zu lassen, welche die Eltern ihr nicht geben konnten. Nach dem Tod ihres geliebten Mannes Jonathan, mit dem sie so viele Jahrzehnte das Leben geteilt hatte, gab ihr diese Aufgabe wieder neuen Halt und Zuversicht.

Deborah verehrte ihre Großmutter. Sie hatte eine glückliche Kindheit bei ihr und auch heute noch war die alte Dame ihre wichtigste Bezugsperson. Sie hatte es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht und wollte die Acht-Uhr-Nachrichten verfolgen, als ihr Handy läutete. Es war Rebecca.

"Hi Gran, was gibt's?" meldete Deborah sich.

Rebecca kam gleich ohne Umschweife zum Punkt: "Bist du schon zu Hause? Dann komm bitte sofort zu mir."

Deborah war alarmiert: "Geht es dir nicht gut? Ist etwas passiert?"

"Nein, nein. Mir geht es gut, aber ich brauche dich hier. Es gibt etwas zu besprechen."

"Granny, muss das heute noch sein? Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und habe einen wahnsinnig anstrengenden Tag hinter mir."

"Ok, dann bist du also in 20 Minuten hier. Bis dann."

Ihre Großmutter hatte aufgelegt und Deborah begriff, dass es in diesem Fall wohl keine Widerrede gab. So liebevoll und fürsorglich Rebecca auf der einen Seite sein konnte, so streng und energisch war sie andererseits. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie nicht davon abzubringen. Also mobilisierte Deborah ihre letzten Kraftreserven, schnappte ihre Autoschlüssel und fuhr los.

Bei ihrer Großmutter angekommen öffnete Deborah mit ihrem Schlüssel die Wohnung ihrer Großmutter, und ging direkt zum Wohnzimmer. Dort saß Rebecca in dem grünen, mit Veloursleder bezogenen Ohrensessel, der schon seit Deborahs Kindheit dort stand. Auf dem Couchtisch vor ihr lag ein geöffneter Luftpostumschlag und ein Brief in einer für Deborah unverständlichen Sprache.

"Granny, was ist los? Warum wolltest du mich so dringend sprechen und warum ging das nicht am Telefon?"

"Nun setz dich erst einmal hin. Ich werde es dir erklären." Mit einem leichten Kopfnicken wies ihre Großmutter auf das Sofa neben sich und Deborah nahm gespannt Platz.

"Nun spann mich bitte nicht länger auf die Folter, Granny."

Rebecca nahm den Brief und strich die Seiten glatt. "Ich habe heute einen Brief erhalten. Aus Deutschland." Schweigen. Eine bedrückende Stille hing im Raum schwer wie Blei. Ihre Großmutter war des Deutschen nach wie vor mächtig, auch wenn sie sich seit 70 Jahren weigerte, nur eine einzige Silbe Deutsch zu sprechen. Soweit Deborah wusste, gab es keine Verbindungen mehr zu Deutschland, alle Angehörigen ihrer Großmutter waren im Krieg umgekommen, bis auf die Mutter. Mit ihr war Rebecca bei Kriegsende in einem Auffanglager für Displaced Persons aufgenommen worden. Nach fünf Jahren starb ihre Mutter und Rebecca musste sich allein durchschlagen. Bald darauf wanderte sie nach Israel aus, das damals noch Palästina hieß. Sie war begeistert von der Idee, den damals noch jungen jüdischen Staat Israel, der 1948 gegründet worden war, mit aufzubauen und in einem Kibbuz hatte sie ihren Mann Jonathan kennengelernt. Als Deborahs Mutter auf die Welt kam, entschieden sie sich, in die USA umzusiedeln. Wer also sollte ihrer Großmutter nun einen Brief aus Deutschland schicken?

"Hast du schon einmal von den sogenannten "Stolpersteinen" gehört?" wollte Rebecca wissen.

"Du meinst diese kleinen Gedenktafeln, die in europäischen Städten auf den Gehwegen verlegt werden für ehemalige jüdische Bürger, die irgendwann deportiert wurden? Was ist damit?"

"Sie wollen einen solchen Stolperstein zum Gedenken an meine Eltern, deine Urgroßeltern, verlegen. In Nürnberg, dort, wo wir herkommen. Aber das ist eigentlich nur Nebensache."

"Was? Wieso Nebensache, worum geht es denn dann?"

"Vor einigen Monaten fand dort eine Ausstellung statt zum Thema Arisierung und Enteignung jüdischen Eigentums. Wie du weißt, war mein Vater vor dem Krieg ein erfolgreicher Fabrikant, bis die Nazis ihm alles nahmen. Die Liste der enteigneten Geschäftsleute, Privatbankiers und Kunstsammler diente wohl als Vorlage dafür, wer alles einen Stolperstein gewidmet bekommt. Bei dieser Gelegenheit wurde auch nach Hinterbliebenen gesucht, die zur Verlegung eingeladen werden. Dabei hat die Jewish Claims Conference geholfen, die sich um die Restitution des arisierten jüdischen Eigentums kümmert. Sie hatten lange Zeit nach Nachkommen unserer Familie gesucht, aber durch meine Auswanderung nach Israel und später in die Vereinigten Staaten sowie meine Heirat und dem dadurch geänderten Familiennamen, haben sich die Spuren verwischt und der Fall wurde zu den Akten gelegt. Heutzutage sind mittlerweile viel mehr Daten mit Computern erfasst und die JCC hat mich ausfindig gemacht."

Deborah war einen Augenblick lang sprachlos, sie musste das eben Gehörte erst einmal verarbeiten. "Und was heißt das nun?"

"Die JCC will uns dabei helfen, das wieder zurück zu bekommen, was rechtmäßig uns zusteht. Das, wofür dein Urgroßvater mit so viel Fleiß und Hingabe gearbeitet hat, um etwas zu erschaffen, das er an seine Nachkommen weitergeben kann. Sie haben die Kontaktdaten eines Korrespondenzanwalts in Deutschland genannt, der uns in diesem Verfahren unterstützen wird."

"Und wie soll das funktionieren? Wird er herkommen?"

"Nun, der erste Schritt wäre zunächst, der Einladung zu dieser Stolperstein-Verlegung zu folgen, sie findet in zehn Tagen statt. Ich habe dir bereits einen Flug gebucht, die Vollmacht für dich habe ich schon unterschrieben. Dieser Anwalt, Dr. Wagner, wird dich am Flughafen abholen und dann alles weitere mit dir besprechen. Ich bin eine alte Frau und nicht mehr besonders gut zu Fuß, aber du kannst diese Reise für mich unternehmen. Und du wirst das Erbe deiner Vorfahren antreten."

"Aber Granny, das geht nicht. Du weißt, ich kann dir keinen Wunsch abschlagen, aber muss das ausgerechnet jetzt sein?! In vier Wochen findet die Vernissage statt, bei der wir meine Teilhaberschaft an der Galerie bekannt geben wollten, und es ist noch so viel zu tun. Ich kann hier nicht weg."

Deborah befand sich in einer misslichen Zwickmühle. Sie wollte ihre Großmutter auf keinen Fall enttäuschen, sie verdankte ihr so vieles im Leben und wie wichtig ihr diese Angelegenheit war, konnte sie nur erahnen. Aber die Erfüllung ihres beruflichen Traums war für sie von ebenso großer Bedeutung.

"Wie du bereits sagtest, kannst du mir keinen Wunsch abschlagen und insbesondere diesen nicht. Wenn alle Formalitäten erledigt und die nötigen Unterschriften geleistet sind und das Verfahren erst einmal läuft, dann kannst du in zwei Wochen wieder hier sein."

Deborah startete noch einen verzweifelten Versuch, einen Kompromiss zu finden: "Aber Granny, geht das nicht auch per E-Mail oder so? Die moderne Zivilisation bietet da so manche Möglichkeiten."

"Du fliegst."

Großmutter Rebecca konnte ein knallharter Verhandlungspartner sein, und damit war es beschlossene Sache.

Der Baum des Lebens

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