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II. Kapitel
ОглавлениеNürnberg, Deutschland
Es nieselte und der Himmel war grau bewölkt, als Deborah in Nürnberg aus dem Flugzeug stieg. Sie hoffte, dass ihr Gepäck trotz der kurzen Umsteigezeit in Frankfurt dennoch mitgekommen war und dass sie nicht allzu lange darauf würde warten müssen. Während des gesamten Fluges war Deborah so aufgewühlt, dass sie kein Auge zutun konnte und ihr schossen tausende Gedanken durch den Kopf. Es war eine Reise ins Ungewisse und doch war sie gleichzeitig auf den Spuren ihrer eigenen Geschichte unterwegs. Bisher hatte die jüdische Identität ihrer Vorfahren keine allzu große Rolle in ihrem Alltag gespielt. Sie kannte die Traditionen und Bräuche zu den Festtagen von ihrer Großmutter und fand es schön, diese zu zelebrieren, jedoch war sie keineswegs religiös erzogen worden. Großmutter Rebecca pflegte immer zu sagen: "Die Hauptsache ist, ein guter Mensch zu sein, der aufrecht und mit Rückgrat durchs Leben geht und auf sein Gewissen hört. Durch unser Gewissen hören wir Gottes Stimme." Deborah fragte sich, welches Gefühlschaos die Schatten der Vergangenheit wohl noch in ihr auslösen würden. Es war ein seltsames Gefühl, in Kürze zum ersten Mal deutschen Boden zu betreten, das Land, wo ihre Wurzeln lagen.
Ihre Großmutter hatte mit Dr. Wagner vereinbart, dass dieser sie am Flughafen abholen würde. Als Deborah ihr Gepäck vom Band genommen hatte und in die Ankunftshalle des Flughafens trat, sah sie einen sympathischen Mittfünfziger mit Brille in einem hellbeigen Trenchcoat auf sich zukommen.
"Miss Bloomberg? Schön, dass Sie hier sind. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Mein Name ist Dr. Michael Wagner", stellte er sich vor und schüttelte ihr die Hand.
"Die Freude ist ganz meinerseits. Aber woher wussten Sie sofort, dass ich Deborah Bloomberg bin?"
"Ihre Großmutter hat mir ein Bild von Ihnen mitgeschickt. Eine resolute ältere Dame, wenn ich das so sagen darf. Sie weiß, was sie will." Dr. Wagner zwinkerte Deborah verschmitzt zu, was ihn noch sympathischer erscheinen ließ. Er nahm ihr das Gepäck ab und sie folgte ihm zum Parkhaus, wo sein silbergrauer Mercedes auf sie wartete. Ganz Gentleman hielt er ihr erst die Beifahrertür auf, bevor er ihre Koffer im Auto verstaute. Dr. Wagner nahm hinter dem Steuer Platz, schnallte sich an, startete den Motor und steuerte die große Limousine souverän aus der Parklücke.
"Sie werden sich sicherlich erst ein wenig ausruhen wollen. Meine Tante besitzt eine kleine Ferienwohnung etwas außerhalb der Stadt und ich habe mir erlaubt, sie dort unterzubringen. Dort haben Sie auch ein wenig Privatsphäre und Ruhe für sich. Die werden Sie vielleicht zwischendurch brauchen, denn was wir vorhaben, wird ein anstrengender Weg sein und wir kämpfen gegen einen mächtigen Gegner. Aber all das werden wir noch in Ruhe besprechen."
Deborah war tatsächlich hundemüde und froh darüber, zunächst etwas Ruhe und einen Rückzugsort für sich zu haben. So verlief die restliche Fahrt auch eher schweigend, sie genoss die behagliche Wärme der beheizten Ledersitze und bald schon war sie eingeschlafen. Als sie wieder aufwachte, hatte Dr. Wagner das Auto vor einem mit Efeu berankten Fachwerkhaus angehalten und es wurde schon langsam dunkel.
"Wir sind da. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Wohnung."
Dr. Wagner hielt ihr wiederum die Autotür auf, öffnete die verwitterte, alte Eingangstür aus Eichenholz und führte Deborah durch die kleine Ferienwohnung, die zwar einfach, aber dafür sehr gemütlich eingerichtet war. In der Wohnstube stand ein rotes Samtsofa im Loriotstil mit einem Mahagonitisch davor und kunterbunt zusammengewürfelten Stühlen, auf denen bunt bestickte Kissen lagen. Neben der großen Standuhr in der Ecke befand sich ein Wohnzimmerbuffet aus massivem Kirschholz, in dem verschnörkeltes Goldrandgeschirr dekorativ angeordnet war. Die Schränke der kleinen Küchenzeile verrieten, dass diese wohl in den 70er Jahren eingebaut wurde. Nebenan befand sich ein kleines Schlafzimmer mit einem entzückenden, schmiedeeisernen Himmelbett, kleinen Nachttischen mit verspielten Nachttischlämpchen und Gobelinbildern an den Wänden. Neben dem Schlafzimmer gab es noch ein kleines Badezimmer, dessen rosa Fliesen ein Rosendekor aufwiesen, das sich im Muster der Handtücher wiederfand. Es fehlte an nichts und sogar den Kühlschrank hatte Dr. Wagner schon mit einigen fränkischen Spezialitäten gefüllt. Deborah hatte schon von der deftigen fränkischen Küche gehört und war gespannt darauf, bald davon zu kosten.
"Ich wusste nicht genau, was Ihnen schmecken würde. Ich habe bei Ihrer Großmutter nachgefragt, ob Sie Vegetarierin sind oder vielleicht sogar die koschere Ernährung beachten. Aber da das nicht der Fall ist, habe ich ein paar hiesige Spezialitäten besorgt, unter anderem frisches Holzofenbrot und eine Flasche Frankenwein. Ich hoffe, es wird Ihnen schmecken."
"Vielen Dank, das ist sehr aufmerksam von Ihnen. Aber wie geht es denn jetzt weiter?"
"Kommen Sie erst einmal in Ruhe an, stärken Sie sich und ruhen sie sich ein wenig aus. Ich werde morgen Vormittag um halb elf wieder hier sein. Wir können dann das weitere Vorgehen besprechen, und um 14 Uhr findet die Verlegung des Stolpersteins für Ihre Urgroßeltern statt. Ich werde Sie begleiten. Natürlich nur, wenn Sie das möchten."
"Ja natürlich, sehr gerne."
"Dann werde ich Sie jetzt mal allein lassen und verabschiede mich. Gute Nacht, Deborah, bis morgen!"
"Gute Nacht, Dr. Wagner. Und vielen Dank für alles"!
Als der Anwalt gegangen war, fiel Deborah erst einmal über den Inhalt des Kühlschranks her. Vor lauter Aufregung hatte sie bisher gar nicht bemerkt, wie hungrig sie eigentlich war, denn das Bordmenü auf dem Flug nach Frankfurt lag schon etliche Stunden zurück. Nach dem Essen nahm sie eine warme Dusche und schaffte es vor Müdigkeit nicht einmal mehr, ihre Koffer auszupacken. Sie legte sich in das frisch bezogene Himmelbett und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als sie wieder erwachte, war es bereits hellichter Tag und sie schaute erschrocken auf ihre Uhr. Wann wollte der Anwalt wieder vorbeikommen? Halb elf, wenn sie sich richtig erinnerte. Dann hatte sie noch eine Stunde Zeit, um sich frisch zu machen und einen Kaffee zu sich zu nehmen.
Pünktlich um 10:30 Uhr parkte der silbergraue Mercedes des Anwalts vor dem Haus und Dr. Wagner stand mit einer Tüte Brötchen vor der Tür.
"Guten Morgen Deborah! Haben Sie schon gefrühstückt? Ich habe Ihnen ein paar Brötchen und auch Kuchen mitgebracht. Hier im Ort gibt es eine kleine Bäckerei, die so herrlichen Streuselkuchen anbietet. Ich sollte eigentlich Diät halten, hat mein Hausarzt mir wegen meiner Cholesterinwerte verordnet. Aber ich dachte mir, bei Kaffee und einem Stück Kuchen lässt es sich bestimmt etwas netter plaudern."
"Da haben Sie auf jeden Fall recht", pflichtete Deborah ihm bei. "Der Kaffee ist gerade fertig. Kommen Sie, setzen wir uns in die Küche."
Deborah öffnete den Küchenschrank, in dem bunt zusammengewürfeltes Geschirr mit völlig unterschiedlichem Muster stand, was zum Charme der alten, aber gemütlichen Wohnung passte. Sie deckte den Küchentisch, auf dem eine Wachstuchtischdecke mit orangenem Blumenmuster lag, und Dr. Wagner verteilte den Kuchen auf die Teller. Als sie sich gestärkt hatten, griff der Anwalt behutsam das Thema des vor ihnen liegenden Verfahrens auf.
"Deborah, inwieweit hat Ihre Großmutter Sie über alles informiert? Sie müssen wissen, was wir vorhaben, wird nicht einfach werden. Die Verlegung des Stolpersteins heute ist nur der Anfang. Dieses Ereignis wird für Sie sicherlich ein emotionaler Moment sein, der auch das Interesse der lokalen Medien auf sich ziehen wird. Ihre Urgroßeltern waren sehr wohlhabende Fabrikanten hier in der Gegend, und die Presse hat bereits Wind davon bekommen, dass ein Restitutionsverfahren an die ursprünglichen Besitzer bevorstehen könnte."
"Na ja, ich weiß ja noch nicht einmal, was meinen Urgroßeltern damals enteignet wurde, eigentlich weiß ich insgesamt nur wenig über sie. Meine Großmutter spricht nicht gerne über die Vergangenheit."
"Das werde ich Ihnen morgen Nachmittag alles zeigen. Das Stadthaus Ihrer Urgroßeltern existiert heute nicht mehr, es wurde bei einem Bombenangriff in Schutt und Asche gelegt. Wo es stand, wird morgen der Stolperstein verlegt. Aber die Fabrik gibt es noch, es ist ein erfolgreiches Unternehmen, das in alle Welt exportiert. Darüber hinaus gab es noch einen Landsitz ihrer Urgroßeltern, eine Villa im fränkischen Umland. Wir können demnächst auch einmal dorthin fahren, es ist nicht weit. Was an Kunstgegenständen und Schmuck enteignet wurde, habe ich schwarz auf weiß, da waren die Nazis sehr akribisch."
Deborah wurde schwindlig, wobei sie nicht hätte sagen können, ob das dem Jetlag zuzuschreiben war oder den Ereignissen, die sie wie eine Lawine überrollten.
"Das ist alles ein bisschen viel für mich, Dr. Wagner. Ich sollte mich eigentlich gerade auf meine Teilhaberschaft in einer gut etablierten Kunstgalerie in San Francisco vorbereiten. Stattdessen sitze ich hier in einem kleinen Nest in Franken, weil mich meine Großmutter dazu verdonnert hat und weiß nur bruchstückhaft, worum es überhaupt geht."
Der Anwalt tätschelte ihr in seiner väterlich-fürsorglichen Art den Unterarm:
"Keine Sorge, ich werde Sie so gut beraten, wie ich nur kann. Im Übrigen wird es auch langsam Zeit für uns, aufzubrechen. Wir wollen doch nicht zu spät kommen zur Stolperstein-Verlegung."