Читать книгу Sieh mich jetzt - Sandra Schwartz L. - Страница 4
Kapitel 1
Оглавление„Du siehst furchtbar aus, weißt du das?“ sagt Maja, direkt als ich die Kopfhörer meines iPod Shuffle rausnehme. Ich habe Duffy den ganzen Weg zur Schule gehört und bin gerade an meinem Platz im Klassenzimmer angekommen. Es ist Montag, aber ich wünschte, es wäre Freitag. Freitag, wenn Maja und ich es uns einfach gemütlich machen und reden. Reden … hm … das könnte ich jetzt gut gebrauchen.
„Mmh,“ seufze ich und verziehe das Gesicht, lasse meine Tasche auf den Boden fallen und setze mich auf den Stuhl. Hole mein pinkes Mäppchen aus der Tasche und lege mich dann mit dem Kopf auf meinem Arm auf den Tisch. Sehe Maja an. Sie zwinkert mir zu, ihre moosgrünen Augen funkeln und die Sommersprossen tanzen mit ihren Grübchen um die Wette. Wir sind gleich alt. Es liegen nur wenige Monate zwischen uns, trotzdem schätzen sie die Leute immer auf 15 und mich auf genau 14. Das ist SO nervig, denn es ist ein himmelweiter Unterschied, 14 oder 15 Jahre zu sein.
„Was ist passiert, Bella? Hattest du heute Nacht ein Date mit Edward?“ Sie kichert und mein Magen zieht sich zusammen. Sie ist hübsch, voller Leben und Energie und endloser Tage.
„Ne, ich habe einfach nicht so gut geschlafen“, antworte ich und versuche zu lächeln. Die Wahrheit ist, dass ich heute Nacht fast kein Auge zugemacht habe. Genauso wie letzte Nacht, die Nacht davor und die Nacht davor.
Krankenhäuser sind nicht schlaffreundlich. Dort ist es nie richtig ruhig. Licht, Geräusche und Gerüche drängen sich konstant auf. Aber das Putzige ist, dass, wenn man lange genug dort ist, man sich daran gewöhnt. Und das Piepen, das Blinken, und das Kratzen in der Nase werden zu einem Teil der Nacht. Zu Hause lärmt die Stille. Zwingt mein Gehirn zu Denküberstunden. Mads. Maja. Mads. Maja. Mads. Maja. Als ob es einen Sprung bekommen hat und dasselbe wieder und wieder spielt. Nonstop.
Maja bemerkt zum Glück nichts. Sie stupst mich nur an und grinst. Wir sind fast jeden Tag zusammen. Am Wochenende und werktags. Also sind sechs Tage, ohne einander zu sehen, viel. Ich verziehe meinen Mund zu etwas, das hoffentlich wie ein Lächeln aussieht, aber es fühlt sich nicht so an.
Ich hole Luft, will gerade was sagen, aber da landet ein Papierkügelchen auf unserem Tisch genau vor Maja. Sie nimmt es sofort, schielt zum Nachbartisch, von wo Katrine sie ansieht. Schöne Katrine, die stinkreiche Eltern hat und ständig mit Mädchen aus der 9. rumhängt. Oder Eisprinzessin, wie Maja sie gerne nennt. Wir sind normalerweise Luft für sie.
Maja dreht mir den Rücken zu. Ich starre genau in ihr mahagonibraunes Haar und weiß nur, dass sie lächelt. Sie dreht sich um und dort ist es. Das Lächeln. Eifrig und erwartungsvoll. Sie kichert und faltet die Kugel auseinander, glättet das Papier mit den Händen und legt es zwischen uns wie einen Schatz. Es kribbelt mir in den Fingern, das Papier wieder zusammen zu knüllen und es weit, weit weg zu werfen. Stattdessen lehne ich mich vor.
Wieder tanzen im Klub am Freitag? K steht da schnell hin gekritzelt.
Ein Wort ätzt sich in meine Netzhaut, wächst, bis es das Einzige ist, was ich sehe. Wieder. Ein Gefühl der Panik drängt sich auf. Wieder? Was bedeutet das?
Aus dem Augenwinkel sehe ich Maja Katrine zunicken. Mein Magen krampft sich zusammen und bildet einen harten Knoten genau hinter dem Nabel. Ich blinzele fieberhaft und täusche einen Hustenanfall vor, so dass ich das Gesicht im Arm vergraben kann.
Ist Maja im Klub gewesen? Ohne mich, aber zusammen mit Katrine. Katrine, bei der wir uns immer einig waren, sie zu hassen. Mit der wir, wie wir uns geschworen hatten, nie befreundet sein wollten. Ich presse die Augen so fest zu, dass Lichtpunkte hinter meinen Augenlidern tanzen.
Maja legt eine Hand auf meinen Arm, fragt, ob ich krank werde und umschließt mich mit ihrem besonderen besorgtebeste-Freundin-Blick.
Ich schüttele den Kopf, aber es fällt mir schwer, ihr in die Augen zu sehen.
„Ey, untersteh dich, krank zu werden! Schließlich wollen wir in den Klub. Ich muss dir SO viel erzählen …“. Sie lehnt sich an mich und flüstert: „… Ein Typ aus der 10. von der Aavangen-Schule hat im Klub angefangen. Er tanzt verdammt gut und deshalb hat ihn der Klub gebeten, anderen ein paar seiner Moves beizubringen. Er ist einfach so heiß! Katrine ist vollkommen in ihn verknallt …“. Mehr kann sie nicht sagen, bevor die Tür zum Klassenzimmer auffliegt.
Mathematik-Mette1 wirbelt in den gewohnt wallenden Gewändern ins Klassenzimmer. Sie legt bereits los, bevor sie das Lehrerpult erreicht hat. „Öffnet eure Hefte. Wir beginnen damit, die Aufgaben, die ihr fürs letzte Mal auf hattet, durchzugehen.“
Allgemeines Seufzen. Es ist jeden Montagmorgen das Gleiche. Hier gibt es keinen Smalltalk oder sanfte Einleitungen. Es ist unverblümt. Ich liebe das, liebe es, mich von der Magie der Zahlen verschlingen zu lassen und zu wissen, dass es nur eine richtige Antwort gibt. Jetzt sind da nur Zahlen, die vor meinem Blick hüpfen und tanzen und die sich weigern, sich fangen zu lassen, jedes Mal, wenn ich mich dransetze, eine Aufgabe zu lösen.
„Jemand, den es drängt etwas zu beichten, bevor wir anfangen?“ Mette schickt ihren Falkenblick über die Klasse.
Ich senke meine Augen, fummele an meinem Mäppchen rum, sehe hoch, sehe runter und wieder hoch.
„Niemand? Gut, dann fangen wir an. Wer will mit der ersten Aufgabe an die Tafel?“
Ich starre steif in meine Kladde. Leere Kästchen starren zurück. Ich hoffe, ich komme davon.
„Eva, wie wär’s mit dir? Es ist bestimmt lange her, dass du dran warst.“ Ich kann das Lächeln in ihrer Stimme hören. Ich bin ja auch ihre Lieblingsschülerin, die, mit der sie immer rechnen kann, ihre Sachen gemacht zu haben.
Ich sehe auf und treffe ihren Blick. Öffne den Mund, um zu sagen, dass ich die Aufgabe nicht gemacht habe. Sie nickt und hält mir ein Stück Kreide entgegen. Die Worte stecken fest.
„Hier“, flüstert Maja und schiebt mir ihre Kladde unter den linken Arm. Ohne ein Wort greife ich sie, ignoriere Mathematik-Mettes hervorgestreckte Hand und gehe zum Pult. Meine Handflächen sind feucht, so dass das Papier an meiner Haut festklebt. Ich lasse meine Augen über das Stück laufen, präge mir die Zahlen ein, während ich am Tafelende nach einem Stück Kreide taste. Das kleine Stück fühlt sich zwischen meinen Fingern fettig und gleichzeitig trocken an und als es die Tafel trifft, bereue ich es. Denn obwohl ich die Aufgabe nicht selber gelöst habe, kann ich sehen, dass da Fehler drin sind. Ich schreibe die Zahlen, eine nach der anderen. Die Kreide kratzt sich ihren Weg über die Tafel und ich merke, wie Mette mich prüfend ansieht.
Ich lege die Kladde auf das Lehrerpult, als ich fertig bin. Mette sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Hat sie mich durchschaut? Ist sie von mir enttäuscht? Ich atme erleichtert auf, als sie sich zur Klasse dreht. Sie sagt etwas, aber ich weiß nicht, was. Draußen fällt der Schnee und hüllt alles ein. Erinnere mich an Mads, eingepackt in grelles Weiß.
Kurz darauf setze ich mich wieder und die Stunde geht weiter. Jetzt ist Iben an der Reihe, gegrillt zu werden. Mette redet und redet. Mit einem schwarzen Kugelschreiber fange ich an, Kästchen auszumalen, noch eins und noch eins und noch eins.
Als die Stunde vorbei ist, kommt Mette zu mir und legt etwas auf den Tisch. Es ist die Kladde, mit der Rechenaufgabe und die rote Schrift auf der Vorderseite schreit mir entgegen.
Maja Borgvang 8.A steht dort.
Sie sagt nichts, steht nur eine Sekunde oder zwei mit der Hand auf dem Heft und sieht mich an. Dann geht sie.
Ich starre runter in mein eigenes Heft, lasse mein langes Haar wie eine Gardine vor mein Gesicht und meine brennenden Wangen fallen. Die Seite ähnelt einem Schachbrett und ich bin schachmatt.
Kim zieht mich auf dem Gang direkt nach der Frühstückspause an die Seite. Ich weiß genau, dass er das machen muss. Er ist schließlich mein Klassenlehrer und Mette hat ganz bestimmt was gesagt. Aber ich wünschte, er ließe es bleiben. Wir haben ihn erst in der 8. Klasse bekommen und er kennt mich nicht.
Anton und Muhammed kommen schlendernd als letzte und gucken mich auf dem Weg in die Klasse lange an. Sie haben im Hof Fußball gespielt und haben rote Frostblumen auf den Wangen.
„Wie geht es zu Hause?“, unterbricht Kim meine Gedanken und versucht meinen Blick zu fangen. Ich kratze an meinem Nagellack. Glitzer und Gold blättern in Lagen erst von meinem Daumen, dann von meinem Zeigefinger ab. Ich habe ihn letztes Jahr von Mama bekommen. Wir waren in der Stadt, nur wir zwei, in Geschäften und im Café. Es ist fast nichts mehr davon übrig.
„Es geht gut“, antworte ich und starre auf einen Fleck an der Wand über seiner linken Schulter. Ich schlucke.
„Okay“, Kim zögert.
Ich reiße meinen Blick von der Wand los und schaue ihn an. Er bewegt sich ein wenig unruhig hin und her, und sieht gleichzeitig erleichtert und skeptisch aus. Er öffnet und schließt den Mund, so als ob er sich nicht recht entscheiden kann, ob er mehr sagen soll. Ich habe fast Mitleid mit ihm.
„Okay“, sagt er dann. „Aber komm ruhig, wenn du mit jemandem reden möchtest. Es nützt nichts, etwas nicht loszuwerden.“
Er legt kurz eine Hand auf meine Schulter. Sie ist warm und schwer und brennt sich durch den Stoff durch. Ich muss mich konzentrieren, um sie nicht abzuschütteln.
Ich nicke nur.
„Was wollte Kim?“, fragt Maja, als ich mich neben sie setze und Kim das Lehrerpult außer Hörweite erreicht hat. Sie versucht, beiläufig zu klingen. Es wundert mich nicht, dass sie uns auf dem Gang gesehen hat. Sie hat einen siebten Sinn, wenn es um Kim geht. Er sieht gut aus, findet sie. Ich kann das an der Art und Weise sehen, wie sie ihre Lippen befeuchtet und ihr Haar in Ordnung bringt, jedes Mal, wenn er in der Nähe ist, oder sie etwas fragt. Manchmal wäre ich auch gerne verliebt, spürte dieses kribbelnde Gefühl im Zwerchfell.
„Nur wissen, wie es mir geht und so …“, ich zucke mit den Schultern, „… zu Hause.“
Sie blinzelt ein paar Mal mit den Augen.
„Aber alles ist in Ordnung, oder?“ Majas Gesicht legt sich in mitfühlende Falten. „Ihr habt doch jetzt herausgefunden, was ihm fehlt? Und er wird ja jetzt behandelt, oder …?“
„Ja … ja, das wird er …“, murmele ich und weiß eigentlich nicht, warum ich es nicht sage. Ich möchte ihr ja gerne erzählen, dass nicht alles okay ist. Alles andere als okay. Mein Frühstück rumort in meinem Magen herum und droht, wieder hoch zu kommen.
Sie sieht mich an. Abwartend, als ob sie ahnt, dass da vielleicht mehr ist. Ich suche nach Worten, aber sie klumpen sich in meiner Kehle zusammen und es ist unmöglich, sie herauszubringen. Zumindest, wenn sie einen Sinn ergeben sollen. Denn, wie sagt man, dass selbst, wenn Papa lächelt und Witze macht, Mama weint? Dass selbst, wenn wir alle zusammen sind, ich mich alleine fühle?
Majas Gesicht wechselt wieder den Ausdruck.
„Nein, wie süß. Dann wollte er dich nur abchecken“, flüstert sie und wirft einen langen Blick zur Tafel, wo Kim jetzt steht und kritzelt.
„Mmh“, antworte ich und zucke wieder mit den Schultern.
Sie lehnt sich ganz an mich. Ihr Haar ist immer noch feucht vom Sport. Der Pfirsichduft ihres Lieblingsshampoos füllt meine Nase. Sie starrt mich an, aber ohne mich zu sehen, ganz weit weg in ihren Gedanken. Ihre Lippen sind geöffnet und ihre Nasenflügel vibrieren leicht.
„Es sah aus, als hätte er dich berührt. Hat er? Er ist ja SO süß.“
Die Worte bringen mich in die Wirklichkeit zurück. Bei ihr klingt das so intim, so wichtig. Aus dem Nichts heraus überkommt mich Zorn. Er durchzuckt mich.
„Ganz ehrlich“, knurre ich. „Es ist total daneben, in einen Lehrer verknallt zu sein. Ich meine, er ist Lehrer, come on!“
Ich wünschte, ich könnte sie zurück nehmen. Die Worte. Aber es ist zu spät. Sie haben bereits ihren eigenen Willen bekommen. Maja starrt mich mit großen Augen an. Sie sieht aus, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was sie gemacht hat. Dann werden die Augen zu Schlitzen und der Mund zieht sich zu einem schmalen Strich zusammen.
„Was bist du gemein!“, faucht sie und zieht sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück, während sie sich in der Klasse umsieht, um sich zu vergewissern, dass mich niemand gehört hat. Ich bin unentschlossen. Möchte gerne etwas sagen, das es wieder gut machen kann. Aber dann sehe ich Katrine, die neugierig zu unserem Tisch rüber sieht. Der Zorn flammt wieder auf und ich ertrage das einfach nicht.